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Re: [ox] Was kann man hier tun? (Gegenbilder-Buch)



Hi Stefan und Liste!

Ist schon etwas länger her, deswegen zitiere ich es in Gänze. Ich habe
aber auch an vielen Stellen Anmerkungen.

2 weeks (18 days) ago Stefan Meretz wrote:
Abschnitt aus: Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien
Vereinbarungen, Kapitel 2.3.C:
http://www.opentheory.org/gegenbilder_2-3/v0001.phtml#c

Was kann man hier tun?

(66) 1. Rausgehen aus Verwertungsstrukturen: Wenn wir erkennen, daß die
subjektlose Verwertungsmaschine des Kapitalismus unsere
Lebensbedingungen zerstört, können wir nicht die politische Arbeit gegen
den Kapitalismus auf seinen Verwertungsstrukturen aufbauen.

Zumindest nicht so, wie es bisher versucht worden ist: Mit dem
handwerklichen Schnee des Vergesellschaftungsmodells von Gestern.

Wenn aber Freie Produktion á la Freier Software als Produktivkraft
überlegen ist, könnte es hier prinzipiell vielleicht Möglichkeiten
geben. Ich sehe allerdings momentan keine und kann es mir eigentlich
auch nicht recht vorstellen. Wahrscheinlich ist der Verknappungszwang
des Kapitalismus genauso unhintergehbar wie der Allgemeingutzwang
(oder was ist das Gegenteil von Verknappungszwang?) für Freie
Produktion.

Ein Beispiel
aus dem realen Leben: Zunächst sollte der Verkauf politischer Bücher die
politische Arbeit finanzieren, dann sollte der Verkauf politischer
Bücher den Verlag finanzieren und schließlich wurden die Krimis
entdeckt, die viel mehr Geld brachten als die politischen Bücher. Nun
muß jedes Buch selbst seine Kosten "erwirtschaften", denn auch die
(Selbst-) Angestellten wollten "bezahlt" sein, und die politischen
Bücher starben aus.

Ja, das ist ein Beispiel. Was hier vorliegt ist quasi eine
innerbetriebliche Quersubventionierung. Die kann grundsätzlich auch
gut gehen - wie uns Dumping-Preise immer wieder beweisen.

Andere Beispiele sind Abhängigkeit von Spenden
oder gar staatlichen Subventionen, um "den Laden am Laufen" zu halten.

Ja, das ist ein Problem. Schon immer bin ich dafür, möglichst viel aus
eigener Kraft zu können.

Natürlich kostet politische Arbeit auch Geld, und Geld zu nehmen ist
nichts Verwerfliches. Doch der Rubikon wird überschritten, wenn die
eigene, individuelle Existenz von der Existenz der Gruppe abhängig wird,
was bedeutet, den Erhalt der Gruppe im eigenen partialen
Überlebensinteresse als Selbstzweck zu betreiben. Politische Gruppen
müssen ohne existenziellen Schaden ihrer Mitglieder untergehen können,
und Mitglieder müssen Gruppen verlassen können, ohne daß ihre Existenz
infrage steht. Das geht nur in autonomen Strukturen, die nicht nach
Verwertungsprinzipien funktionieren.

Hier liegen einige Knackpunkte. Ich versuche es mal ein bißchen
aufzudröseln.

"Wenn die eigene, individuelle Existenz von der Existenz der Gruppe
abhängig wird" kann verschieden ausgelegt werden. Da der Mensch
bekanntlich nicht vom Brot alleine lebt, könnte es hier mehrere
Dimensionen existenzieller Abhängigkeit geben. Die finanzielle
Abhängigkeit, über die du da wohl sprichst, ist da nicht die einzige,
denn ich kann z.B. auch emotional von einem bestimmten Zusammenhang
abhängig sein.

Existentiell abhängig im engen Sinne - d.h. meine biologische
Fortextistenz ist gefährdet - dürfte grundsätzlich bei einem
Sozialstaat ein wenig schwierig sein. Hier müssen wir also
zweckmäßigerweise von Graden von Abhängigkeit sprechen.

Wir haben es also hier mit einem durch zwei Dimensionen aufgespannten
Raum zu tun. Die eine Dimension gibt den Grad der Abhängigkeit an und
die andere Dimension die Art der Abhängigkeit (finanziell, emotional,
sozial, etc.).

Wenn ich dein Postulat jetzt richtig deute, dann heißt das, daß du den
Nullpunkt forderst: KeineR darf irgendwie von einem Projekt abhängig
sein, denn sonst könnten deren Partialinteressen im Projekt dominant
werden.

Hmm... Ein paar halbvergorene Gedanken dazu.

Irgendwie stört mich an diesem Bild, daß mir dahinter der Wunsch der
allgemein unabhängigen Person zu stehen scheint, des unbeschränkt
autonomen Individuums. Das halte ich für eine Illusion, die uns die
Aufklärung, zumindest aber der Kapitalismus in den Kopf gedrückt hat.
Aber es ist jedenfalls klar, daß ein solches unbeschränkt autonomes
Individuum nur noch Partialinteressen haben kann. Ein bißchen handelt
mensch sich mit diesem Bild also das Problem erst ein, das mensch
eigentlich lösen will: Den (potentiellen) Widerspruch zwischen
Partialinteressen und Allgemeininteresse.

Ich denke mir, daß Menschen nie unbeschränkt autonom sein können.
Schon ihre Gesellschaftlichkeit verbietet das. Menschen sind immer
abhängig und das sehe ich auch zunächst mal gar nicht als Problem.
Abhängigkeit ist dann ein Problem, wenn sie von den Betroffenen - also
abhängigen Personen oder ggf. Personen, von denen andere abhängig sind
- als Problem wahrgenommen werden. Ein Baby ist z.B. von Erwachsenen
abhängig - ja, sogar existentiell im engeren Sinne. Das kann als
Problem erlebt werden, muß aber nicht.

Wenn Abhängigkeit also etwas dem Menschen eigenes ist, dann wäre für
mich nicht die Abhängigkeit an sich das Problem, sondern die Folgen,
die sich evt. ergeben. In diesem Zusammenhang: Daß die
Partialinteressen einer Abhängigen in Widerspruch zu den
Allgemeininteressen geraten könnten und *wegen* der Abhängigkeit die
Abhängigen mit erheblicherer Energie gegen die Allgemeininteressen
verstoßen, als wenn sie diese Partialinteressen nicht hätten.

Hmm... So hinformuliert ergeben sich mindestens zwei Parameter, die zu
betrachten wären.

Partialinteressen, die im Widerspruch zu den Allgemeininteressen
stehen, können auch ohne Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Da sind
Abhängigkeiten also schon mal nicht die Voraussetzung für und von
daher für die Betrachtung der Frage nicht so sonderlich von Belang.

Nun ist zu vermuten, daß die Partialinteressen sich unter
Abhängigkeitsverhältnissen mit größerer Vehemenz durchsetzen, als wenn
keine Abhängigkeiten bestehen. Andererseits scheint es mir aber doch
sehr von der betreffenden Person abzuhängen, mit wieviel Energie sie
je ihre Partialinteressen durchsetzt. Abhängigkeiten an sich sind also
wohl auch für den Energiegehalt einer Durchsetzung von
Partialinteressen nicht sonderlich von Belang.

Andererseits führen Abhängigkeiten aber m.E. auch zu erwünschten
Phänomenen. Wenn ich von etwas abhängig bin, wenn ich mich von etwas
abhängig mache, dann werde ich mich auch mehr als ganze Person in
etwas einbringen. Diese Präsenz finde ich oft wohltuend. Verantwortung
für das Allgemeine aufzubringen ist in einem solchen Verhältnis
wesentlich naheliegender, als wenn mir alles am A... vorbei geht. So
gesehen würde ich sogar eher die positiven Aspekte von
Abhängigkeitsverhältnissen hervorheben.

Also irgendwie sehe ich immer weniger, daß ausgerechnet die Vermeidung
von Abhängigkeitsverhältnissen eine so wichtige Formel für das
Gelingen emanzipatorischer Organisationen - auch politischer - sein
soll. Abhängigkeitsverhältnisse können Prozesse vielleicht verstärken
oder beschleunigen, vielleicht sogar nur potentiell vorhandene
Prozesse realisieren. Aber da gibt es ja auch noch andere Faktoren,
die das beeinflußen.

Die Lösung scheint mir immer mehr, Verhältnisse zu schaffen, in denen
die Partialinteressen mit den Allgemeininteressen tendenziell
übereinstimmen - wie in der Freien Software prototypisch exerziert.

Soweit erstmal. Vielleicht habe ich mich jetzt zu sehr auf meinen
Gedankengang eingerichtet?

(67) 2. Individuelle Selbstentfaltung als Grundlage der Bewegung: Das
Dominant-werden von partiellen Individualinteressen auf Kosten anderer
und das Entstehen "informeller Eliten" können weder durch bürokratische
Verfahren (" Wahlen") noch moralische Appelle (" Du sollst nicht
instrumentalisieren") verhindert werden. Die einzige funktionierende
Grundlage ist die Selbstentfaltung der beteiligten Individuen, die
Durchsetzung ihrer allgemeinen Interessen.

Ja genau, das Übereinstimmen von Partialinteressen und
Allgemeininteresse.

Das schließt ein, allen auch
die Chance, den Raum, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung zu lassen,
denn wer weiß schon von vornherein, wie das geht! Das "Möglichkeiten ...
lassen" ist jedoch nicht die "Verantwortung" bestimmter Personen - etwa,
der "Schlaueren". Gerade eine solche "Verantwortungshaltung" Weniger
festigt die personalisierten Strukturen, die sie zu bekämpfen meint: Es
gibt niemanden, der das "Recht" hat, anderen "Möglichkeiten zu lassen" -
genauso wie niemand das Recht hat "Möglichkeiten zu nehmen". Das eine
schließt das andere logisch mit ein!

Das ist ein bißchen kurz finde ich. Es geht nicht um das (moralische)
Recht auf irgendwas, sondern um konkrete Möglichkeiten. Wenn ich
tausend Sachen gut kann und die einfach tue weil ich es für richtig
halte, dann enge ich damit den Raum für andere, die ähnliches
vielleicht lernen könnten, automatisch ein. Die Förderung der
Selbstentfaltung von anderen kann dann folgerichtig auch darin
bestehen, sich selbst zurückzunehmen und damit anderen "Möglichkeiten
zu lassen". Kinder bieten sich natürlich als Beispiel an, aber ich
denke, daß das eingeschränkter auch für Erwachsene gilt - oder?

Es ist die "Verantwortung" aller
und jedes Einzelnen, Strukturen zu schaffen, in denen das Lassen und
Nehmen von Möglichkeiten keine Frage mehr ist!

Ja :-) .

Dort, so sich Menschen
unbeschränkt entfalten, ist für "Eliten" kein Platz mehr.

Den Zusammenhang mit den Eliten verstehe ich nicht.

Mein Taschenbuch-Brockhäuschen dazu:

  *Elite*

  1) Auswahl, ausgewählte Minderheit, Führungsschicht; *elitär*, einer
     Elite angehörend; (abwertend) überheblich

  2) aus ausgesuchten Soldaten aufgestellte Truppenteile

  3) Soziologie: die Inhaber von Spitzenpositionen innerhalb einer
     Gruppe, Organisation oder Institution, die je nach
     Gesellschaftsordnung nach unterschiedlichen Auslesekriterien
     aufsteigen und über ihre "Basisgruppe" hinaus Macht und Einfluß
     ausüben und/oder eine Vorbildfunktion für andere soziale Gruppen
     haben. Hauptformen sind die /Geburts-Elite/, die /Wert-Elite/
     (persönliche allgemein anerkannte Qualitäten) und die
     /Macht-Elite/ (besonders politisch, ökonomisch, militärische
     Herrschaft) sowie die /Funktions-Elite/ (beruflich-fachliche
     Fähigkeiten und Leistungen).

Wir können uns sicher schnell darauf einigen, daß Macht- oder gar
Geburts-Eliten in einer GPL-Gesellschaft nichts verloren haben. Aber
Wert- und Funktions-Eliten? Haben diese beiden Elitetypen nicht in der
Freien Software auch eine strukturierende Funktion? Ich glaube nicht,
daß du solche Elitetypen abschaffen kannst und denke nicht mal, daß
das vernünftig ist, es zu wollen.

(68) 3. Kritik und Reflexion der Bedingungen, nicht der Personen: Wir
schreiben immer wieder gegen die Moralisierung in emanzipatorischen
Bewegungen an. Wie aber sollen sich Subjektbeziehungen durchsetzen, wenn
es keine moralischen Leitlinien gibt, an die sich die Menschen halten
können? Subjektbeziehungen setzen sich nur dann durch, wenn ich es will.
Will ich die Selbstentfaltung, dann geht das nur in intersubjektiven
kooperativen Beziehungen. Was aber ist, wenn diese theoretische
Erkenntnis sich praktisch nicht durchsetzt? Dann gibt es keine andere
Chance, als die Gründe für das Unterlaufen anzusprechen, und die
strukturellen Ursachen, die das Unterlaufen nahelegen, aufzudecken.

Ja.

Das
geht nur in offener Kritik und Reflexion des eigenen Tuns.

Ja.

Jedes
Zurückhalten und Unterlassen von Kritik um der "Harmonie willen" ist
kontraproduktiv - jede Unterdrückung erst Recht. Eine unterbliebene
Kritik ist eine vertane Chance - für mich und alle.

Ja.

Problematisch ist
jedoch personalisierende Kritik. Es geht niemals um "Schuld", sondern
immer um die Gründe für mein Handeln.

Ja.

Es gibt kein unbegründetes
Verhalten, seies auch noch so daneben.

Ja, jedes Verhalten ist in irgendeiner Hinsicht nützlich für die
handelnde Person - sonst täte sie es nicht. Und der Nutzen für die
Person ist letztlich der Grund.

Diesen Nutzen zu erkennen, sichtbar und damit bearbeitbar zu machen,
das ist im Kontext individuellen Leidens das Gebiet der Psychologie.
Im Kontext überindividuellen Leidens ist es das Gebiet der Politik -
wobei die Trennung von Psychologie und (emanzipatorischer) Politik
vielleicht historisch eine der fatalsten Fehlentwicklungen überhaupt
war :-( .

Es gibt immer nur das
Noch-nicht-Kennen der Gründe für das Handeln des anderen. Über das
Kennenlernen der Gründe können wir die individuellen Prämissen für das
Handeln verstehen, die auf die Bedingungen verweisen.

Ja. Allerdings kann das Kennenlernen der Gründe / des Nutzens
schwierig bis unmöglich sein.

Um diese
Bedingungen geht es, ihre Rolle als strukturelle Handlungsvoraussetzung
ist aufzudecken.

Ja. Das bedeutet dann Selbsterfahrungsgruppe und Marx-Seminar für
alle. Keine schlechte Idee ;-) .

Gerade die Offenheit und Kritikfähigkeit entlastet mich
von der Notwendigkeit, die anderen auch zu "mögen". Dort, wo Gruppen nur
noch über Sympathien funktionieren, wo sich verschiedene
sympathiegetragene Klüngel bilden, ist etwas faul.

Ja. Die Mischung macht's :-) .

(69) 4. Kollektivierung von Entscheidungen: Die Beteiligung an oder
Gründung von Gruppen auf der Grundlage der individuellen Interessen ist
die eine Sache. Eine andere ist es, Entscheidungen für das gemeinsame
Handeln zu fällen. Nicht immer liegt auf der Hand, ob diese oder jene
Entscheidung im allgemeinen oder nur partiellen Interesse liegt.

Das kannst du laut sagen...

Dennoch
muss entschieden werden, will die Gruppe nicht zur einer "Gruppe auf dem
Papier" mutieren.

Ja. Und hier kann das Wort Verantwortung gar nicht groß genug
geschrieben werden...

Spehr schlägt ein "collective leadership" vor: "Es
reicht nicht, daß alle ihre Interessen formulieren und in ihrer
Unterschiedlichkeit einbringen; irgend jemand muß den jeweils nächsten
Schritt formulieren, der daraus folgt, und in einer freien Kooperation
sollte diese Fähigkeit soweit wie möglich kollektiviert sein" (Spehr
1999, 302).

Hmm... Das ist eine Variante: Alle fühlen sich mitverantwortlich. Ist
eine Kulturtechnik, die leider nicht sehr verbreitet ist :-( . Aber
fühlt sich unheimlich gut an :-) .

Kollektivierte Entscheidungsformen kann es viele geben,
wichtig ist, daß sie der Lage angemessen und leicht veränderbar sind:
Delegationen mit Mandat, Rotationen in Entscheidungspositionen,
zeitliche Befristungen für bestimmte Aufgaben etc.

Sehr formal... Braucht's das immer? Ist das immer sinnvoll? Können
solche Formalitäten nicht den Blick auf's Wesentliche verstellen, das
in lebenden Organisationen eben jenseits der Formalitäten abläuft?

Wichtiges Merkmal ist
hierbei, daß nicht immer "alle alles" entscheiden, das wäre viel zu
uneffektiv, sondern das es ein transparentes Verfahren für gemeinsame
Entscheidungen gibt.

Transparenz scheint mir *mega*-wichtig. In so stark virtuellen
Projekten wie unserem ist das ja relativ einfach - einfach alles ins
Web hängen. Aber sobald es weniger virtuell wird, wird es schwieriger.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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