Re: [ox] Zur Kritik der Freien Kooperation
- From: Hans-Gert Graebe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Wed, 17 Oct 2001 10:15:58 +0200 (MET DST)
Hallo allerseits,
ein Nachtrag zu unserer Diskussion am Sonntag und zu einer mail von
H.R. (Mon, 8 Oct 2001) (komme leider derzeit nicht dazu, die
Diskussion intensiv zu verfolgen :-( ).
Je länger ich über das Thema "Kooperation und Preise" nachdenke, desto
subtiler erscheint es mir.
Ich schreibe mal nur über FSF-artige Kooperationen, also solche, die
an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, das auch jenseits der
Beteiligten ein Eigenleben hat und dessen Ergebnisse nachher allen
frei (im Sinne der FSF) zur Verfügung stehen sollen (ich verwende da
bekanntlich gern das Wort "Infrastruktur"). Der "Scheidungspreis",
wenn da einer aussteigt, hat wenigstens folgende Seiten:
1) Den dinglichen Anteil am Projekt, den beigesteuerten Code (ich
schreibe gleich mal dazu: die syntaktische Seite). Den kann er
sicher nicht mitnehmen (d.h. dem Projekt entziehen) und dafür kann
er auch keinerlei "Kompensation" erwarten. Das ist die statische
Seite des Projekts, der Code "as it is".
2) Den ideellen, informellen Anteil am Projekt, den intentionalen Teil
seines Codes (die Semantik), der in großen Teilen (auch wenn eine
Dokumentation - der unbeliebteste Teil jedes Projekts - existiert)
nur subjektiv, im Kopf des Aussteigers, vorhanden ist. Dieses Know
How geht dem Projekt, genauer gesagt der Dynamik des Projekts (dem
Projekt als Prozess) verloren und muss anderweitig rekonstruiert
werden. Wer sich schon mal durch so einen verlassenen Code-Haufen
durchgefressen hat, der weiß, wovon ich schreibe. Hier gäbe es also
echt was (Dingliches !) zu verhandeln, dessen Ergebnis
"Scheidungspreis" genannt werden könnte.
3) Eine wertmäßige Kompensation der Beteiligung. Hier teile ich
Horibbeck's Position, dass so etwas nur in einem klaren
Vertragsverhältnis, also nur in erzwungenen Kooperationen, eine
Rolle spielen kann. 1)[PHONE NUMBER REMOVED]) zeigen, dass es faktisch in FSF-artigen
Kooperationen bisher auch nie eine Rolle gespielt hat. Anders sieht
es aus mit Projekten, die eine Weile frei waren und dann begannen,
Geld abzuwerfen (Beispiel: Mathematica, siehe www.wolfram.com).
Auch Linux steht mit den Distributoren langsam vor dieser Frage.
Die aufgelaufenen Beispiele wären es wert, mal genauer auseinander
genommen zu werden, um zu verstehen, wie solche Sachen _heute
faktisch_ laufen. Dazu meine folgende Position:
Wir leben heute in einer wertmäßig strukturierten Gesellschaft, so
dass auch alle freien Projekte nur funktionieren, wenn an dem ganzen
Projekt (im weitesten Sinne) ein Cash-Flow-Gradient anliegt, sei es
dadurch, dass die Beteiligten anderweitig ihr Auskommen haben, sei es
durch direkt eingespielte Gelder a la Suse (oder eben Wolfram Inc. für
Mathematica). Die Interaktion zwischen diesem Cash-Flow-Gradienten und
freier Kooperation (beschränkt auf Infrastrukturprojekte bzw.
-prozesse, für die die 'tragedy of the commons' gilt) fände ich wert,
mal genauer beleuchtet zu werden. Bei aller notwendigen Wertkritik:
Bilden sich da unter der Werthülle neue Strukturen, die diese mal
irgendwann wie eine Eierschale sprengen oder ist das die Form, in der
Kapital auch diese neuen Entwicklungen 'domestiziert'? Warum klappt
Linux, Netscape aber (offensichtlich) nicht? Wieso entwickelt sich bei
Mathematica, trotz der (äußerlich) M$-artigen Grundlage (harte
Lizenzbandagen für den Zugriff auf das Grundprodukt), auch so was wie
eine Open Community? Liegt das daran, dass ein großer Teil des so
organisierten Cash-Flows in die Pflege der Nutzer-, Anwender- und
Entwicklergemeinde gesteckt wird? Die drei Kategorien konnte man bei
Mathematica übrigens schon immer schwer trennen.
Kurz gesagt: Wir sollten genauer unterscheiden zwischen (heute noch)
Geld _für_ freie Kooperationen und Geld _in_ freien Kooperationen.
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Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe
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