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Re: [ox] Krise oder nicht?



Hi Benni, Liste!

Mal zu deinen beiden Mails in einer.

4 days ago Benni Bärmann wrote:
On Mon, Sep 24, 2001 at 10:31:19PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Werden die _Konflikte_ intensiver? Ich weiß nicht. Meine
Lieblingslesart des ganzen aktuellen Geschehens ist, daß dies alles
ein Ausdruck der tiefen Krise des Gesamtsystems ist.

Ich würde das ein wenig anders sehen und wage mal eine steile These:

Wir können uns ja gerne mal daran abarbeiten. Vielleicht klärt es ja
was.

Was wir erleben ist eine weitere Stufe ursprünglicher Akkumulation (also der
Durchsetzung des Kapitalismus in Bereichen der Weltgesellschaft, die bisher
von ihm mehr oder weniger verschont wurden).

*Das* ist auch schon die wichtigste Frage. Ist das denn so? Franz M.T.
hat schon darauf hingewiesen, daß es da wohl gar nix mehr
durchzusetzen gibt - bestenfalls zu restaurieren.

Weiterhin: Wenn das so wäre, warum wird dann nicht Afrika zu diesem
Zweck hergenommen? Da gäb's noch vielmehr Markt zu erobern.

Oder was ist mit Osteuropa / Rußland, wo die Voraussetzungen für einen
industrialisierten Kapitalismus ja noch relativ gut waren? Wie wir
beim DDR-Anschluß gelernt haben: Für das bißchen mehr Markt muß Dr.
Oetker die Auslastung lediglich von 72% auf 75% (oder so in dem Dreh)
hochfahren. Und wenn diese Länder schon de facto nebensächlich sind,
wie sehr dann erst ein restlos zerstörtes Land wie Afghanistan, wo an
eine flächige Wertschöpfung angesichts globalisierter Märkten ja nicht
mal im Traum zu denken ist?

Und noch: Welches Interesse sollte denn "der Kapitalismus" - i.e.
wichtige Kapitalgruppen - an einer weiteren Durchsetzung haben? Und
jetzt komm mir nicht mit der alienistischen - oder waren's doch die
Juden? - Weltverschwörung.

Sorry, aber das kannst du dir abschminken. Bei diesen ganzen Aktionen
geht es mitnichten um die Eroberung von Märkten. Die Märkte in den
Staaten der Triade sind so kaufkräftig, daß alles andere nebensächlich
ist. Wenn überhaupt um irgendwas ökonomisches, dann geht's um
Rohstoffe und dann handelt es sich nicht um Märkte sondern nur noch um
einfachen Raub.

Ist die Situation im Nahen und Mitlleren Osten heute nicht irgendwie
vergleichbar damit, wie es vor ein paar hundert Jahren hier zuging? Die Leute
wehren sich gegen diesen neuen Moloch und dabei kommt es zu Religionskriegen
(oder was so genannt wird - der Unterschied ist nicht wirklich wichtig)
übelsten Ausmasses.

Es handelt sich *nicht* um Religionskriege - und dieser Unterschied
*ist* wichtig. Der Unterschied ist deswegen wichtig, weil Religion zur
zentralen Dominanzstruktur des untergegangenen Feudalismus gehört. Das
ist aber vorbei und lange her. Erkennbar daran, daß hier keiner von
der christlichen Koalition redet.

Religion wird genauso wie Ethnien von interessierter Seite gerne für
alles mögliche instrumentalisiert. Leute, die Ahnung von Islam haben,
führen z.B. an, daß die Anschläge absolut unislamisch waren.

Wir erleben also nicht die Krise des Kapitalismus (zumindestens nicht mehr,
als das er sowieso schon immer in der Krise ist), sondern seine weitere
Durchsetzung.

Früher hieß der Schlachtruf "Wohlstand für alle!". Wer redet davon
heute noch? Selbst in den Zentren ist diese Parole längst durch immer
neue "Gürtel-enger-schnallen!" ersetzt.

Was du heute für eine weitere Durchsetzung hältst, ist lediglich der
verzweifelte Versuch, das auseinanderfliegende Gesamtsystem mit Gewalt
zusammenzuhalten. Stark war der Kapitalismus als er das nicht oder
zumindest weniger nötig hatte. Gewaltanwendung ist immer auch ein
Zeichen von Schwäche. Herrschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, daß
die Anwendung von Macht nicht andauernd notwendig ist. Wenn die Macht
(wieder) offen eingesetzt werden muß dann ist das ein Zeichen für's
Abbröckeln.

Konkret muß
mensch sich ja mal überlegen, was bei den absehbaren Einsätzen gegen
Afghanistan eigentlich rauskommen nur kann: Noch ein NATO-Protektorat.
So langsam wird allein das ziemlich teuer bei absoluter
Wirkungslosigkeit.

Wärend des kalten Krieges war die ganze Welt im wesentlichen aufgeteilt in
zwei große Protektorate.

Sorry, aber das waren immerhin noch souveräne (Marionetten-)Staaten
und schon von daher eine andere Qualität. Wenn du dir anschaust, was
in Bosnien so abläuft oder auch im Kosovo, dann müßtest du schon mal
ein Beispiel bringen, wo das während des Kalten Kriegs *so* war.

Die aktuelle US-politik scheint auch tatsächlich so eine Lösung anzustreben.
Eine einheimische Marionettenregierung. Nur werden wahrscheinlich auch diese
Marionetten irgendwann anfangen zu tanzen, so wie so viele vor ihnen.

Es ist eben nicht alles das Gleiche und ein erheblicher Unterschied,
ob die EU jetzt de facto Bosnien regiert, oder ob es irgendwelche
Marionetten tun.

3 days ago Benni Bärmann wrote:
Das Szenario, wie es für mich auch denkbar ist, sieht ungefähr so aus:

- Mit dem Fordismus kam das alte Entwicklungsdenken in eine Krise.
Spätestens nach dem Zerfall des Ostblocks sind dann ganze Regionen
aufgegeben worden und die ursprüngliche Akkumulation wurde in die Subjekte
der Zentren verlagert (New Economy, Internet, Verwissenschaftlichung der
Produktion, Privatisierung, Börsenblase, Selbstentfaltung als
Produktivkraft, ...).

Na, ich weiß nicht, ob die Rede von der ursprünglichen Akkumulation da
so hinhaut, aber sei's drum.

Hier bestätigst du aber indirekt meinen Punkt von oben: Es gab
schlicht kein Interesse an diesen sogar verhältnismäßig leicht
ausbeutbaren Weltregionen. Lieber wurden sie sich selbst überlassen.
Und richtig: Sie sind ja auch so zu willfährigen Vasallen geworden -
oder vielleicht sogar noch eher und nicht als lästige Konkurrenz.

- Mit der Krise der New Economy wurden die Grenzen dieser Strategie
offensichtlich. Folglich muss wieder was anderes her.

Nur daß es nichts anderes mehr gibt. Ansonsten hätten sich einzelne
Kapitalgruppen doch den Reibach nicht entgehen lassen.

Momentan gibt es
durchaus erste Hinweise, dass sich da einiges Ändern könnte. Die USA
scheinen z.B. wieder zu erwägen die UN mit einzubeziehen und ich glaube man
hat schon verstanden, dass man den Rest der Welt nicht mehr einfach
ignorieren kann.

Woraus dieser Gesinnungswechsel - wenn es denn einer ist - erwächst,
wäre nochmal genauer zu analysieren. Immerhin wollen sie sich von der
NATO ja schon mal nicht reinreden lassen.

- Welche konkreten Märkte und Produkte das sein werden die den Club in die
nächste Runde tragen, darüber kann man nur spekulieren, aber ich sehe keinen
Grund warum man da am Erfindungsreichtum des Kapitalismus zweifeln sollte.
Schliesslich hat der schon so absurde Dinge wie allgemeinen Autoverkehr und
das Privatfernsehen hervorgebracht. Nanotechnologie, Gentechnik, was weiss
ich. Vielleicht schaffen sie es sogar irgendwann uns die Raumfahrt wieder
schmackhaft zu machen.

Das kann grundsätzlich sein. Aber ein solches Produkt müßte mehr
Arbeitskraft einsaugen als es freisetzt - wie z.B. der Automobilbau.
Dieser Zug scheint aber historisch mit dem Stand der
Produktivkraftentwicklung abgefahren. Das ist letztlich der Kern der
Krisis-Thesen.

"Dem Kapitalimus" müßte also ein Produkt einfallen, daß ungeheuer
viele Arbeitskräfte bindet und gleichzeitig wahnsinnig attraktiv für
erhebliche Bevölkerungsteile zunächst der reicheren Staaten sein muß.
Deine Beispiele deuten tendenziell in die Gegenrichtung.

Für mich ist ein solches Szenario mindestens so wahrscheinlich wie die
Krisis-Apokalypse. Ist es nicht irgendwie ziemlich erbärmlich, wenn man eine
Apokalypse braucht um sich Emanzipation vorstellen zu können? Was ist denn
das dann für eine Emanzipation?

Mit Petra möchte ich sagen: Wir leben schon in der Apokalypse. Ist es
nicht erbärmlich, daß einige GesundbeterInnen das immer noch nicht
wahrhaben wollen?

Und *ich* brauche keine Apokalypse für die Emanzipation - ganz im
Gegenteil: Halt durch Kapitalimus! Wir sind noch nicht so weit mit der
nächsten Gesellschaft!

Allerdings spielt im Entwicklungsfünfschritt die Krise eine wichtige
Rolle. Ich denke nicht, daß die wirklich verzichtbar ist.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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