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Re: [ox] Re: Moral und anderer Schrott



Hi Benni, Anti-/Moralos und ~las,

Benni Bärmann schrieb:
na, vielleicht fangen wir so langsam an uns zu verstehen, Das wär ja
schonmal was.

Jep. Bei mir ist es ja nicht so, dass ich schon alles klar hab und dann
nur noch abspule. Beim Schreiben wird mir oft erst klar, was ich
eigentlich meine, aber bisher nicht zu formulieren wagte;-)

On Fri, Aug 31, 2001 at 12:26:08AM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
Ich habs deswegen ausgenommen, weil je ich stets für mein Handeln voll
verantwortlich bin. Diese Art der Verantwortung meinte ich. Eine Art
normative Verantwortung lehne ich gleichfalls ab.

Ahso. Und Du forderst nicht von anderen, dass sie das auch tun sollen?

Nein. Aber nochmal deutlich: Verantwortung im o.g. Sinne ist nicht
inhaltlich belegt. Es ist einfach nur ein Einstehen, Konsequenzen
übernehmen, verantwortlich sein für das Handeln (das schliesst Abhauen
etc. übrigens ein). Das kann ich mir gar nicht aussuchen, ich kann mich
dazu nur irgendwie stellen und verhalten. Davon unterschieden ist die
moralisch aufgeladene normative Verantwortung: "Baue nie Software für
Rüstung" oder so. Ersteres kann ich weder ablehnen noch von anderen
"fordern". Zweiteres lehne ich ab.

spezifisch bürgerlicher Form des Individuums? Von Individuum gehe ich in
der Tat aus. Der Begriff ist in meiner Sicht nicht mit einer bestimmten
Vergesellschaftungsform verbunden.

Da irrst Du IMHO. Unten mehr dazu. Aber vielleicht ist es ja auch wieder mal
nur ein Begriffsproblem und Du sagst "Subjekt" wenn ich "Individuum" sage,
mag sein.

Vielleicht.

Die Moral, die ich meine, ist genau das, was an dieser Schnittstelle
stattfindet. Das sind die Ueberlegungen die ich mir mache, in Bezug auf
Andere. Das ist das "Einfuehlen" in andere und das sie so zu behandeln, wie
man selber behandelt werden moechte. Solche Dinge.

Solche Überlegungen mache ich mir auch.

Und Du forderst das nicht auch von anderen?

Nein. Schon deswegen nicht, weil es eh nix bringt, sondern völlig
verständlich meist Abwehr hervorruft.

Dafür brauche ich keinen Moralbegriff.
Im Gegenteil: Wenn der reinkommt, wird's normativ und
anstrengend.

Dann wärst Du zumindestens schon mittendrin.

Dieses "drin" sein, dieser Diskurs ist aber schon gleich auf der
schiefen Bahn. Hartmut hat es mit dem Gefangenendilemma schon ganz
richtig aufgezeigt: Moral ist ein Element im übergreifenden privaten
Nutzenkalkül, es ist das Mittel, um meine Interessen durchzusetzen. Wenn
es denn nicht anders geht auch mal "zusammen" mit anderen, aber die
Grundfunktion ist die der warenproduzierenden Gesellschaft: ich behaupte
mich auf Kosten anderer. Vor diesem Hintergrund ist es nicht
verwunderlich, wenn soziale Beziehungen von dem wechselseitigen
konkurrenzförmigen Nutzenkalkül durchdrungen sind. Die Ebene der Moral
ist da nur eine weitere Ebene des allgemeinen Schlachtfeldes
jeder-gegen-jeden. Es ändert nichts, wenn du darin der Kämpfer für "das
Gute" bist: Jedes "Gute" ist normativ herangetragen das "Schlechte", es
führt sich selbst ad absurdum.

Offensichtlich gibt es viele Leute, die nicht so handeln (ich ja auch oft,
logisch). Aber wie soll man diesen gegenübertreten, wenn nicht mit einem "Du
sollst"?

Wieso "soll" denn jemand anderes irgendwie sein oder irgendwas machen
für dich? Geht dir das nicht auch völlig auf den Keks, wenn jemand so an
dich herantritt: Tue dies, lasse das, sei so?

Das schon, ja, wenn es unbegründet ist. Deswegen muß Moral ja auch begründet
werden, wenn sie überindividuelle Gültigkeit beansprucht.

Gründe sind aber immer "je meine" Gründe. Das ist ganz entscheidend:
Meine Gründe sind nicht deine Gründe. Ich kann mein Handeln für mich,
aber nicht für andere begründen. Das schliesst überhaupt nicht aus, dass
wir zusammen gemeinsame Gründe feststellen können, aber das geht nur
intersubjektiv unter voller Akzeptanz der jeweiligen Individualität und
Integrität. Moral als "Soll" operiert aber immer vom Drittstandpunkt,
von außen. Es ist schlicht eine Zumutung.

Und im Sinne
freier Kooperation ist sie natürlich auch immer verhandelbar, auch klar.

Es sind die Regeln, die verhandelt werden, nicht die Moral.

Natürlich ist das selber Vorleben und das erstmal sein Ding machen
das erste was man tut. Da man aber mit anderen zusammen lebt wird man früher
oder später damit anecken. Was dann?

Dann wird es nicht langweilig. Ihr habt was interessantes zu besprechen.
Wenn gesprochen ist (manchmal auch ohne), wird gehandelt. Damit kannst
du wieder anecken, na usw. Wo ist das Problem? Willst Du dich entlasten,
in dem du versuchst andere für dich passend normativ hinzubasteln? Indem
man gegenseitig aneinander rummanipuliert? Den anderen subtil oder offen
zu etwas zu bringen versucht? Vergiss es, das geht schief.

Von Manipulation ist ja nicht die Rede.

Moral ist aber stets manipulativ: Du (oder wer auch immer) will jemanden
zu was bringen. Es ist nur eben etwas subtiler und damit, wie ich finde,
perfider: Ich kann mich gegen moralische Zumutungen viel schlechter zur
Wehr setzen, weil sie eben nicht so offensichtlich manipulativ sind.

Hilft dann nur noch Macht? Soll ich
mich allen sozialen Beziehungen enthalten, die nicht meinen
politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechen?

Deine Meinung in jeglicher Hinsicht deutlich zu machen, ist doch voll
ok. Anstrengend wird es doch erst, wenn du erwartest (erhoffst,
erbittest, drohst etc.), der andere soll das annehmen oder übernehmen.
Das ist eine Zumutung.

Hoffen und bitten wird man ja wohl noch dürfen, oder?

Ja, aber wundere dich dann nicht über den resultierenden Stress.

Am besten finde ich es, das ganz offen zu machen: "Bitte, tu doch dies
oder jenes für mich." - "Nein, ich will nicht" - "Hm, na gut, dann muss
ich eben anderweitig sehen, wie ich damit klar komme."

Nur so läufts meistens nicht. Stattdessen wird der andere mit
moralischen Zumutungen weichgekocht. Meist noch garniert mit
schlechtes-Gewissen-machen, ein bisschen Druck, Zuwendungsentzug usw.
Wer kennt das nicht... Und was passiert: Der andere macht das Gleiche:
Es entsteht ein Gefangenendilemma im Gespinst moralischer Zumutungen,
aus dem man nicht so schnell wieder rauskommt.

Und weisst du, was das ziemlich gut wiederspiegelt? Es sind die
Tauschverhältnisse der Ökonomie. Es werden quasi Gefühls-, Moral- und
Erpressungseinheiten wie Waren ausgetauscht. Das relative Optimum dieses
Gefangenendilemmas ist die "Kompensationsbeziehung": Da hat sich
moralisch über die Jahre austariert, was jeweils an Gefühlen und
Erpressungen erhalten/erduldet werden. Grauenvoll...

Die Forderung der gleichen Bedingungen (und des Verlassens der
Kooperation etc.) kannst du knicken, wenn sie nur moralische Forderungen
wären. Sind sie nicht. Sie müssen faktischen Charakter annehmen. Es muss
faktisch die gleichen Bedingungen geben bzw. es müssen reale Massnahmen
überlegt werden, um sie herzustellen. Und es muss faktisch möglich sein,
"ohne Kosten" die Kooperation zu verlassen.

Verdammt viel "muss" in diesen Sätzen, oder? Das genau verstehe ich unter
Moral.

Nix Moral, das sind Behauptungen und nicht "Sollensanforderungen". Ich
behaupte, wenn nicht faktisch gleiche Bedingungen hergestellt werden,
dann ist nix mit freier Kooperation. Das ist doch gerade das Gegenteil
von Moral.

Auf die Nerven gehen laesst sich tatsaechlich nicht vermeiden, das stimmt.
Aber es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Leuten denen ich sehr gerne
auf die Nerven gehe.

Aber dann sind die Gründe eigentlich andere, oder?

Nein nicht unbedingt, wieso? Ich gehe auch aus moralischen Gründen gerne
Leute auf die Nerven und halte das auch für nötig.

Hab ich dann "zu deinen Gunsten";-) missinterpretiert. Mich nervt sowas,
aber wenn dir das was bringt...

Im Übrigen teile ich da Sabines Meinung völlig: "...im Rahmen einer
Theorie - in der Argumentation und Analyse - da kann das Normative
draussen bleiben, da hats eigentlich auch nix zu suchen." Ich würde noch
weiter gehen, weil ich nicht weiss, wo Normatives überhaupt was zu
suchen hat...

Hast Du meine Antwort auf Sabine auch schon gelesen? Die mit "Reibung
erzeugt Wärme"? Naja, jetzt fangen die Threads an sich zu vermischen. Das
wird etwas unübersichtlich...

Hab ich gelesen. Ich bleibe lieber in diesem Thread, weil alles, was ich
dazu schreiben würde, auch hier steht.

Jedes
Individuum kann sich zu allen Bedingungen seines Lebens bewusst
verhalten (oder es lassen, das gehört zur Möglichkeit dazu).

Genau das ist eben nicht der Fall.

Warum nicht? Liess doch noch mal - diesmal nicht normativ;-)

Unter Herrschaftsbedingungen entscheiden doch eben gerade andere über meine
Bedingungen und über die Optionen die ich habe mich zu ihnen zu verhalten.

Ja, das ist so - und? Das ist Teil der Bedingungen. Dazu kannst du dich
verhalten. Du kannst nicht nur, sondern du tust es auch andauernd.

Das ist doch eben gerade das Problem mit dem "Individuum", dass es so in
dieser Reinheit  wie Du es auch verwendest eine bürgerliche Fiktion ist.

Ich behaupte keine "Reinheit" - gerade das nicht. Sondern ich versuche
das Individuum unter diesen bürgerlichen Verhältnissen zu denken.
Deswegen schreibe ich auch oft "je ich" etc. Deswegen trifft es - wie
Hans-Gert gut erkannt hat - einen Nerv bei mir, wenn Leute unhinterfragt
moralische Instrumente in Anschlag bringen und damit das reproduzieren,
was sie meinen abzulehnen. Um diese Widersprüchlichkeit bei "je mir"
geht es mir.

Den Fehler müsstest du mir genauer erklären. Das interessiert mich
wirklich. Gib mir mal ein paar Tipps, Literatur, Sites, Aufsätze.
Vielleicht verstehe ich dich dann besser.

"Die Entdeckung des Individuums" Richard von Dülmen. Reihe "europäische
Geschichte" Fischer-Verlag, ISBN 3-596-60122-3. Ich hatte vor ein paar
Monaten dazu schonmal eine Zusammenfassung versprochen. Seit letztem
Wochenende hab ich das Buch jetzt auch endlich hier und les es dann
demnächst noch ein zweites Mal und schreib dann was.

Schön, dann les ich es erstmal nicht und warte auf deine Rezension;-)

Erwachsene und Kinder sind faktisch nicht gleich (mächtig). Wenn du es
aber im Sinne eines längerfristigen Zieles siehst, dann würde ich mit
Argusaugen gucken, ob du es normativ an das Kind heranträgst. Wenn du es
aber im wörtlichen Sinne des "Ermächtigens" (Macht gebens) meinst, wenn
es also nicht normativ gemeint ist - dann würde ich es nicht mehr
Erziehung nennen.

Sondern? "Aufzucht"?

Kinder muss man nicht ziehen, die wachsen von ganz alleine. Und wie du
es nennst, hängt von der je konkreten Form der Beziehung ab, die du zu
den Kindern entwickelst und die sich auch ändert. Braucht das einen
abstrakten Begriff - etwa so wie "Arbeit"? Auch ein anderes Thema...

Nein, auf dieser Ebene nicht. Aber es gibt schon die moralische Pflicht
andere nicht zu unterdrücken.

Nein, die gibt es nicht. Entweder du machts es aus ganz eigenem
Interesse nicht - weil du dir sonst nämlich letztlich selbst schadest -
oder du kannst es knicken. Wenn du es bloss aus moralischen
Verpflichtungen machst, dann krachst das Kartenhäuschen beim nächsten
Windstoss ein (siehe die ganzen Moralo-68er).

Da ist vielleicht was wahres dran. Nur scheinbar klappt das mit der
Erkenntnis des selbst Schadens noch nicht sehr gut...

Ja, und es ist ganz spannend sich mit Leuten darüber zu unterhalten: Der
Gedanke ist nämlich durchaus eingängig, doch "da man ja doch nichts
machen könne", erscheint eine Verhaltensänderung sinnlos. Und das ist
nicht irreal, sondern die Menschen sind ja faktisch gegenüber der
kybernetischen Maschine sehr machtlos. Und die
Oekonux-Freiheitsgedanken, die wir hier entwickeln, sind ja nun nicht
gerade schon massenhaft in die gesellschaftlichen Denkformen
eingegangen;-)

Dann kommen die von Hartmut gezeigten Nutzenkalküle zum Tragen: "Da ich
eh nix machen kann, sehe ich zu, das ich gut bei weg komme, viel Spass
habe und nochmal richtig auf den Putz haue." Wenn du so willst, ist das
eine Todesmoral - dagegen können die Positiv-Moralisten nicht gut
anstinken.

Ich glaube, dass es nicht die alte Debatte ist. Ich bin absolut nicht
gegen auch notwendige personale Auseinandersetzungen. Doch bitte immer
stets immer mit dem Wissen im Hinterkopf des umgreifenden systemischen
Zusammenhangs. Hier kommt das Moment der individuellen Verantwortung
rein: Die hat nämlich jede/r. Niemand - so er/sie das überhaupt blicken
sollte - kann sich sozusagen mit dem Verweis auf die automatische
Wertmaschine der Handlungsverantwortung entledigen. Denn trotz
Verwertungsautomat: Es gibt _immer_ Handlungsmöglichkeiten, niemand
_muss_ so handeln wie der Sachzwang es nahelegt.

Viele Leute entledigen sich doch aber ihrer Verantwortung (ich ja auch
ständig). Forderst Du von denen nix?

Nein. Denn:

...das wirst du aber mit moralischen Zumutungen nicht ändern. Eher im
Gegenteil, denn sie reproduzieren auf der individuellen Ebene den
Zumutungscharakter dieser Gesellschaft. Moral spielt in der gleichen
Liga! Das wäre so, als wollte man mit Geldtricksereien das Geld
abschaffen.

Ich versuchs mal mit einem konkreten Beispiel: Ein Nazischläger macht Jagd
auf Leute, die ihm nicht passen. Wenn ich jetzt von ihm fordere, dass sein
zu lassen, dann reproduziere ich nur den Zumutungscharakter dieser
Gesellschaft? Sicher ist diese Forderung nicht ausreichend, aber doch
zunächst mal der Anfang, oder?

Das ist doch keine moralische Forderung! Du sagst doch nicht: "Das soll
man aber nicht tun, mein guter Nazi". Sondern du setzt verbal oder
faktisch Widerstand dem Nazi entgegen - je nach Möglichkeit. Du sagst
doch eher: "Lass das sein, verpiss dich".

Selbstentfaltung beinhaltet aber ein Verhalten gegenüber den anderen, so
dass diese sich Selbstentfalten können. Das ist eine moralische Forderung.

Nein, ist sie nicht, kein bisschen. Entweder du erkennst, dass du für
deine Entfaltung die Entfaltung der anderen brauchst, oder du lässt es
bleiben. Es handelt sich nicht um einen moralisch konstituierten
Zusammenhang, sondern um einen faktischen: Die Entfaltung aller _ist_
die Voraussetzung für meine Entfaltung. Das ist kein "soll" drin.

Na, hier dämmerts mir zumindestens so langsam, worauf Du hinaus willst ...

Aber ist es denn nicht so, dass ich dennoch von Leuten, denen meine
Entfaltung egal ist, fordere, dass sie mir Luft zum Atmen geben? Ist das
nicht Befreiung?

Nochmal: Das machst du doch nicht über Moral. Eine Forderung und erst
recht eine durchgesetzte Forderung hat nichts mit Moral zu tun. Was hat
die da drin zu suchen? Befreiung ist in meiner Sicht immer auch
Befreiung von moralischen Zumutungen.

Ciao,
Stefan

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