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Re: [ox] Wieder ausgegraben



Hallo Kurt-Werner,


KXX4493553 aol.com schrieb:

In einer eMail vom 12.06.01 23:53:37 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt
ingo.heer schwaben.de:

Worauf sollen Bewußtsein und Denken sonst zurückgeführt werden als auf
 neurobiologische Prozesse im Gehirn. Wer dies negiert, muß eine andere
Quelle des
 Hervorgehens angeben.
 Ich stimme zu, dass Bewußtsein nicht funktional aus neurobiologischen
Prozessen
 entsteht, aber eben relational. Die Kombination ist ein relationaler und
nicht
 einfach ein funktionaler Prozess.
 Gruß Ingo.
Hallo Ingo,

ich glaube, damit rennst du offene Scheunentore ein. Aber darum geht es gar
nicht. Ich glaube, dass die Kritik von Kurz eine andere Pointe hat: die
Strukturen der Wissenschaft, d. h. die Methoden ihrer Erkenntnisgewinnung,
haben von sich aus eine Tendenz hin zu Reduktionismus und Funktionalismus,
was ja allein schon im Zwang zum Ausdruck kommt, nach der Analyse wieder zu
synthetisieren und aus Fachdisziplinen im Nachhinein wieder
"Interdisziplinaritäten" zu basteln.

Ich habe in meiner mail gesagt, wo für mich der Unterschied von Reduktionismus
und Funktionalismus liegt, In Bezug auf den Funktionalismus stimme ich ja zu,
nicht jedoch auf  den Bezug zu Reduktionismus. Du hast die beiden wieder
zusammengebracht, daher sehe ich weiter eine Differenz zu Deiner Auffassung und
insofern renne ich eben keine offenen Scheunentore ein.


Zweifellos hat die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in viele
Unterdisziplinen mit je eigener Fachterminologie ihre unbestreitbaren
Vorteile: Reduktion von Komplexität ist nötig, um den "Informationsüberhang"
auf irgendeine Weise zu ordnen, ohne Zweifel. Aber die Frage, um die es hier
geht, ist doch, ob diese Reduktion von Komplexität, wie sie vor allem die
Naturwissenschaft betreibt, strukturelle Affinitäten zum Kapital aufweist,
die überhaupt erst die Naturwissenschaft zur "ersten Produktivkraft" haben
werden lassen.

Ich bleibe bei der Auffassung von Marx, dass nur Menschen eine Produktivkraft
besitzen.

Es gibt ein Buch, das bereits 1979 bei Suhrkamp erschienen ist, das aber als
Studie noch immer lesenswert ist: Otto Ullrich, Technik und Herrschaft. Vom
Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, Ffm 1979
(stw 277). Ullrich beschäft sich S. 49 ff. mit den strukturellen Affinitäten
zwischen Wissenschaft, Technik und Kapital, wobei er folgende strukturelle
Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft und Kapital hervorhebt

Mein Exemplar, 1. Auflage, stammt vo 1977, ich habe es am 21.06.1978 gekauft. Das
ist noch im weißen Einband erschienen (nicht in der stw-Reihe).
Strukturelle Ähnlichkeiten fallen auf, so dass es sinnvoll ist, nach
Zusammenhängen zu suchen. Nun ist aber bekannt, dass Korrelationen keine
Kausalitäten begründen können. Umgekehrt ziehen Kausalitäten und Wechselwirkungen
Korrelationen nach sich.
Ich kann jetzt nicht eine gesamte Kritik an der Methode von Ullrich vorlegen,
daher will ich nur auf den ersten Satz in "Übersicht und Vorbemerkungen"
eingehen.
Zitat:" Die >>Basis<< jeder Gesellschaft ist das System der materiellen
Produktion. Der materielle >>Reichtum<< einer Gesellschaft wird erzeugt durch
verausgabte menschliche Arbeitskraft in diesem System." (Zitat Ende).
Ich weiß nicht, ob Ullrich sich dies selbst ausgedacht hat oder von einem anderen
Autor hat, jedenfalls stammt sie nicht von Marx. Eine der zentralen Kritikpunkte
von Marx am Gothaer Programm bezieht sich auf diesen Punkt.
Zitat:"|15| 1. "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und
da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die
Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem
Rechte, allen Gesellschaftsgliedern."
Antwort Marx zu:
Erster Teil des Paragraphen: "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller
Kultur."
Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die
Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche
Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der
menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist
insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen
Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen
bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die
ihnen allein einen Sinn geben. Nur soweit der Mensch sich von vornherein als
Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände,
verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von
Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der
Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der
Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum
besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der
Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen
Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis
arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.
Zitat Ende.


(das ist jetzt
sehr gerafft dargestellt):
- Trennung von Kopf- und Handarbeit

Die Kritik an Ullrich ist hier sehr aufwändig, da sie zugleich mit einer Kritik
an Marx gekoppelt ist.


- Verdinglichungstendenz der Wissenschaft (d. h. sie macht die Welt zum
"Objekt" ihrer Forschung, der Subjektcharakter geht verloren)

Was heißt "Welt"?


- der nichteidetische Charakter der Wissenschaft, d. h. ihre Entsinnlichung;
die Empirie wird aus den "Kopfgeburten" vorausgesetzter Hypothesen abgeleitet

kann ich momentan nichts dazu sagen.


- die offene Zweckstruktur der Wissenschaft, d. h. sie ist für beliebige
Zwecke einsetzbar und verwertbar, Forschung ist "zweckfrei", d.  h. im
Endeffekt käuflich für jedermann.

In dieser Kritik bürgerlicher Wissenschaft sind wir uns wohl einig

Ullrich betont, dass sich diese Tendenzen der Wissenschaft schon vor dem
Kapitalismus entwickelt haben, dass sie also keine "Erfindungen" der
kapitalistischen Produktionsweise sind; Voraussetzung für Wissenschaft sind
lediglich die Trennung in Kopf- und Handarbeit sowie eine ausreichende
Surplusproduktion, die bestimmte Bevölkerungsgruppen für "zweckfreie"
Forschung "freistellt". Aber erst im Kapitalismus haben sich diese internen
strukturellen Tendenzen der Wissenschaft im vollen Umfange entfalten können,
Kapital und Wissenschaft ergänzen sich in ihren Strukturen hervorragend, es
war eine "Liebesheirat auf den ersten Blick".

Hier bedarf es wieder einer Auseinandersetzung mit dem ganzen Buch. Von meiner
Seite nur soviel: zu diesem Thema finde ich "Peter Dudek, Naturwissenschaften und
Gesellschaftsformation, campus Forschung, Band 61" sehr viel ergiebiger. Auch
interessant ist "Michael Wolff, Geschichte der Impetustheorie, Untersuchungen zum
Ursprung der klassischen Mechanik, Suhrkamp, 1978", allerdings sehr viel
spezieller als Dudek.

Das ist, so denke ich, mit dem "Reduktionismus" der Wissenschaft und seiner
Fungibilität fürs Kapital gemeint, auf den Kurz anspielt.

Wie oben gesagt, Du bist auf meine Unterscheidung von Funktionalismus und
Reduktionismus nicht eingegangen.

Software und
Programmiersprachen kann man für alle möglichen Zwecke (offene Zweckstruktur)
ge- und missbrauchen, der Schutz vor Missbrauch entsteht erst dann, wenn - u.
a. - die Schöpfer dieser Software sich politisieren und über die
politökonomischen Konsequenzen ihrer Tätigkeit nachdenken. Aber das hat an
und für sich mit der Software selbst nichts zu tun; einem Computer ist es
egal, ob er mit Microsoft-Programmen oder mit Linux läuft.

kann ich momentan nichts zu sagen.


Kurt-Werner Pörtner

Gruß Ingo.


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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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