Message 02743 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT02737 Message: 8/22 L1 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Wieder ausgegraben



In einer eMail vom 12.06.01 23:53:37 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt 
ingo.heer schwaben.de:

Worauf sollen Bewußtsein und Denken sonst zurückgeführt werden als auf
 neurobiologische Prozesse im Gehirn. Wer dies negiert, muß eine andere 
Quelle des
 Hervorgehens angeben.
 Ich stimme zu, dass Bewußtsein nicht funktional aus neurobiologischen 
Prozessen
 entsteht, aber eben relational. Die Kombination ist ein relationaler und 
nicht
 einfach ein funktionaler Prozess.
 Gruß Ingo.
Hallo Ingo,

ich glaube, damit rennst du offene Scheunentore ein. Aber darum geht es gar 
nicht. Ich glaube, dass die Kritik von Kurz eine andere Pointe hat: die 
Strukturen der Wissenschaft, d. h. die Methoden ihrer Erkenntnisgewinnung, 
haben von sich aus eine Tendenz hin zu Reduktionismus und Funktionalismus, 
was ja allein schon im Zwang zum Ausdruck kommt, nach der Analyse wieder zu 
synthetisieren und aus Fachdisziplinen im Nachhinein wieder 
"Interdisziplinaritäten" zu basteln. 

Zweifellos hat die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in viele 
Unterdisziplinen mit je eigener Fachterminologie ihre unbestreitbaren 
Vorteile: Reduktion von Komplexität ist nötig, um den "Informationsüberhang" 
auf irgendeine Weise zu ordnen, ohne Zweifel. Aber die Frage, um die es hier 
geht, ist doch, ob diese Reduktion von Komplexität, wie sie vor allem die 
Naturwissenschaft betreibt, strukturelle Affinitäten zum Kapital aufweist, 
die überhaupt erst die Naturwissenschaft zur "ersten Produktivkraft" haben 
werden lassen.

Es gibt ein Buch, das bereits 1979 bei Suhrkamp erschienen ist, das aber als 
Studie noch immer lesenswert ist: Otto Ullrich, Technik und Herrschaft. Vom 
Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, Ffm 1979 
(stw 277). Ullrich beschäft sich S. 49 ff. mit den strukturellen Affinitäten 
zwischen Wissenschaft, Technik und Kapital, wobei er folgende strukturelle 
Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft und Kapital hervorhebt (das ist jetzt 
sehr gerafft dargestellt):
- Trennung von Kopf- und Handarbeit
- Verdinglichungstendenz der Wissenschaft (d. h. sie macht die Welt zum 
"Objekt" ihrer Forschung, der Subjektcharakter geht verloren)
- der nichteidetische Charakter der Wissenschaft, d. h. ihre Entsinnlichung; 
die Empirie wird aus den "Kopfgeburten" vorausgesetzter Hypothesen abgeleitet
- die offene Zweckstruktur der Wissenschaft, d. h. sie ist für beliebige 
Zwecke einsetzbar und verwertbar, Forschung ist "zweckfrei", d.  h. im 
Endeffekt käuflich für jedermann.

Ullrich betont, dass sich diese Tendenzen der Wissenschaft schon vor dem 
Kapitalismus entwickelt haben, dass sie also keine "Erfindungen" der 
kapitalistischen Produktionsweise sind; Voraussetzung für Wissenschaft sind 
lediglich die Trennung in Kopf- und Handarbeit sowie eine ausreichende 
Surplusproduktion, die bestimmte Bevölkerungsgruppen für "zweckfreie" 
Forschung "freistellt". Aber erst im Kapitalismus haben sich diese internen 
strukturellen Tendenzen der Wissenschaft im vollen Umfange entfalten können, 
Kapital und Wissenschaft ergänzen sich in ihren Strukturen hervorragend, es 
war eine "Liebesheirat auf den ersten Blick".

Das ist, so denke ich, mit dem "Reduktionismus" der Wissenschaft und seiner 
Fungibilität fürs Kapital gemeint, auf den Kurz anspielt. Software und 
Programmiersprachen kann man für alle möglichen Zwecke (offene Zweckstruktur) 
ge- und missbrauchen, der Schutz vor Missbrauch entsteht erst dann, wenn - u. 
a. - die Schöpfer dieser Software sich politisieren und über die 
politökonomischen Konsequenzen ihrer Tätigkeit nachdenken. Aber das hat an 
und für sich mit der Software selbst nichts zu tun; einem Computer ist es 
egal, ob er mit Microsoft-Programmen oder mit Linux läuft.

Kurt-Werner Pörtner
 

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT02737 Message: 8/22 L1 [In index]
Message 02743 [Homepage] [Navigation]