[ox] Wieder ausgegraben
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- Date: Tue, 12 Jun 2001 08:19:28 EDT
Habe ich wieder ausgegraben - aber passt in den Kontext der Liste hier - ich
glaube, hier wird der ewige Zwist zwischen Geistes-(Sozial-) und
Naturwissenschaftlern auf "des Pudels Kern" gebracht. Und vielleicht erhellt
sich dann auch manchem, warum mir manches hier noch ziemlich blauäugig
vorkommt...
Kurt-Werner Pörtner
Thema: Artikel von Robert Kurz in der Folhia (2)
Datum: 03.01.00 22:16:58 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit
From: Karl-HeinzWedel t-online.de (Schmid)
To: list krisis.free.de
DIE REDUKTION DES MENSCHEN
Wie sich Ökonomie und Naturwissenschaft gegen die kritische
Gesellschaftstheorie
verbünden
Als der britische Physiker und Romancier Charles P. Snow 1959 seine These
von den "zwei Kulturen" aufstellte, fand er damit nicht nur ein weltweites
Echo,
sondern prägte auch einen Topos der kulturtheoretischen und
gesellschaftspolitischen Diskussion. Die "zwei Kulturen" - das ist der
Gegensatz
zwischen den Welten der Geisteswissenschaft und der Literatur einerseits, der
Naturwissenschaft und Technik andererseits, die seit dem 19. Jahrhundert
immer
weiter auseinandergedriftet sind. Der Streit, der sich darüber erhoben hat,
ist
allerdings ganz oberflächlich geblieben. Denn das entscheidende Problem,
nämlich
die Einbettung der beiden gegensätzlichen "Kulturen" in eine bestimmte
historische Gesellschaftsordnung, kam dabei fast gar nicht zur Sprache.
Die Debatte um die These von Snow bezog sich mehr auf das Verhältnis der
Naturwissenschaft zur Literatur und Philologie, weniger dagegen auf das
Verhältnis der Naturwissenschaft zur Gesellschaftstheorie. Zwar gab Snow in
seinem 1963 geschriebenen Nachtrag zu, daß man vielleicht noch von einer
"dritten Kultur" der Sozialwissenschaften sprechen könne, aber das blieb eine
Nebenbemerkung. Der Diskurs über die "zwei Kulturen" vernebelte insofern das
eigentliche Problem, weil er sich nicht auf einen Kampf um Positionen
zwischen
Naturwissenschaft und Gesellschaftstheorie konzentrierte, sondern auf das
Verhältnis der naturwissenschaftlichen zur literarisch-künstlerischen
Herangehensweise. Dieser Gegensatz konnte als eine Art Familienzwist
innerhalb
der bürgerlichen Intelligentsia erscheinen, bei dem letztlich die
Naturwissenschaft als der angeblich reflektiertere große Bruder besser
wegkam,
während die Vertreter der "ästhetischen Intelligenz" sich als
"naturwissenschaftliche Analphabeten" bezichtigen lassen mußten.
Im Grunde genommen setzte die Debatte über die "zwei Kulturen" bereits
voraus, daß "die" Wissenschaft schlechthin die Naturwissenschaft ist. Der
mögliche Kampf um den Primat zwischen Gesellschaftstheorie und
Naturwissenschaft
war zugunsten letzterer entschieden, bevor er überhaupt begonnen hatte. Die
Frage der "dritten Kultur" wurde weitgehend ausgeblendet. Wie der sogenannte
"Positivismusstreit" in der deutschen Soziologie zeigte, der (ebenfalls
während
der 60er Jahre) zwischen der minoritären "Kritischen Theorie" von Adorno und
Horkheimer einerseits und der offiziellen Sozialwissenschaft andererseits
geführt wurde, war der Mainstream akademischer Gesellschaftswissenschaft
längst
auf von der Naturwissenschaft hergeleitete Grundlagen und Methoden
eingeschworen.
Soweit Gesellschaftstheorie sich von diesem naturwissenschaftlichen
Positivismus emanzipiert und in radikale Gesellschaftskritik umschlägt oder
diese impliziert, kann sie im Grunde genommen kein akademisches "Fach" mehr
sein. Das liegt natürlich auch am institutionellen Charakter des
Wissenschaftsbetriebs selber, der seiner Form nach bürgerlich "ritualisiert"
und
nicht für radikale Kritik gemacht, sondern Bestandteil der herrschenden
Ordnung
mit dem falschen Anspruch auf Objektivität ist. Waren es in der Ablösung von
der
vormodernen Ordnung vor allem die neuen Naturwissenschaften selber gewesen,
die
durch ihre Veränderung des Weltbilds Anstoß erregten und von den herrschenden
Autoritäten verfolgt wurden, so ist im Binnenraum der kapitalistischen
Modernisierungsgeschichte umgekehrt die Gesellschaftstheorie zum potentiellen
Gegenstand der Verfolgung geworden, sei es direkt durch Staatsverwaltung und
Polizei, sei es subtiler durch die inhaltlich und methodisch eingrenzenden
Kriterien der "wissenschaftlichen Reputation". Deshalb waren bedeutende
Innovationen kritischer Gesellschaftstheorie in der Moderne - der Form nach
ganz
ähnlich wie die kreative künstlerische "Boheme" - nicht selten außerhalb oder
am
Rand der offiziellen Wissenschaft angesiedelt; seien es zum Beispiel Rousseau
im
18. Jahrhundert, Marx im 19. Jahrhundert, die "Kritische Theorie" oder gar
die
französischen Situationisten (Guy Debord) im 20. Jahrhundert.
Der großenteils sterile akademische Neomarxismus der 70er Jahre konnte
nur
vorübergehend als Modeerscheinung darüber hinwegtäuschen, daß die kritische
Gesellschaftstheorie (wie in der ungefähr parallel laufenden Debatte über die
"zwei Kulturen" bereits angedeutet) grundsätzlich kaum mehr als ein
akademisches
"Aschenputtel" darstellt. Heute ist die radikale Gesellschaftskritik fast
vollständig aus der akademischen Wissenschaft verschwunden. Als letzter Rest
eines nicht auf das naturwissenschaftliche Paradigma reduzierten sozialen
Denkens in den Sozialwissenschaften ist die sogenannte "Ethik" übrig
geblieben,
eine dem Kapitalismus gegenüber von Grund auf unkritische individuelle und
institutionelle "Verhaltenslehre", die sich als bescheidene
Reparaturwerkstatt
für gesellschaftliche Friktionen anbiedert. Der gegenwärtig grassierende
"Ethikbetrieb" ist der Zustand der akademischen Gesellschaftstheorie nach
ihrer
bedingungslosen Kapitulation.
Die historischen und soziologischen Disziplinen sind methodisch wie
inhaltlich abgedrängt, fast schon "Orchideenfächer". Der Sieg der
Naturwissenschaft über das gesellschaftskritische Denken und ihre
Inthronisierung als "die" Wissenschaft kommen nicht von ungefähr. Denn die
moderne Naturwissenschaft und die herrschende kapitalistische
Gesellschaftsordnung haben einen gemeinsamen historischen Ursprung. Die
Naturwissenschaft war gewissermaßen die "Hauswissenschaft" des aufkommenden
Kapitalismus, die das Paradigma für eine subjektlose "Objektivität" lieferte.
Daran konnte die apologetische Volkswirtschaftslehre anschließen, die
gewissermaßen das "Trojanische Pferd" des naturwissenschaftlichen Denkens in
der
Gesellschaftstheorie darstellte. Von Anfang an haben sich Naturwissenschaft
und
Ökonomie gegen das gesellschaftskritische Denken verbündet, um es schließlich
ganz aus dem Pantheon der modernen Wissenschaft zu vertreiben.
Der Sieg von Naturwissenschaft und pseudo-naturwissenschaftlicher
Ökonomie
über die Gesellschaftskritik manifestiert sich in zwei wesentlichen
gemeinsamen
Merkmalen ihrer "Methoden": nämlich erstens Funktionalismus und zweitens
Reduktionismus. Funktionalismus bedeutet, daß nicht nach dem Was gefragt
wird,
sondern nur nach dem Wie, der Art und Weise des "Funktionierens", während das
Wesen, der "Sinn", das eigentliche Dasein des Gegenstands unreflektiert
vorausgesetzt wird und außerhalb des wissenschaftlichen Interesses bleibt -
ein
Fall für die "unfruchtbare Metaphysik", die Religion, die bloß subjektive
persönliche "Meinung". Für die "Wissenschaft" gehen die Gegenstände in ihren
Funktionen auf. In der gesellschaftlichen Praxis handelt es sich um jene von
Horkheimer und Adorno kritisierte "instrumentelle Vernunft", die
Manipulationen
nach dem blind vorausgesetzten Selbstzweck der Kapitalverwertung ermöglicht,
in
den sowohl Naturwissenschaft und Technik als auch die theoretische Ökonomie
eingebannt sind.
Reduktionismus bedeutet, daß zumindest der Intention nach Gegenstände und
Formen höherer Ordnung auf bloße "Kombinationen" von Gegenständen und Formen
niedrigerer Ordnung reduziert werden. Ökonomie und Naturwissenschaft sind
sich
weitgehend darin einig, daß Geist, Kultur und Gesellschaft auf biologische
oder
eben ökonomische Elemente (Funktionen) zurückgeführt werden könnten und diese
wiederum auf physikalische. Das menschliche Bewußtsein, das Denken und die
damit
zusammenhängenden Formen sozialer Interaktion sollen auf neurobiologische
Prozesse im Gehirn reduziert werden. Die berüchtigte "Weltformel", nach der
die
Physiker suchen, wäre die Krönung dieses Reduktionismus. Aber es könnte nur
eine
Leerformel sein. Denn das Bewußtsein erschließt sich aus der Beschreibung
neurobiologischer Vorgänge ebensowenig, wie sich der Inhalt eines Buches,
sagen
wir über die intellektuellen Defizite von Naturwissenschaft und Ökonomie, aus
der Beschreibung der Drucktechnik, der molekularen Struktur des verwendeten
Papiers oder der Farbpigmente der gedruckten Buchstaben erschließt. Das
Bewußtsein setzt inhaltliche "Bedeutung", und das ist ein "Was", das nie und
nimmer mit dem Vollzug neurobiologischer Funktionen identisch ist. In bezug
auf
die "Bedeutung" und den Inhalt kann sich die naturwissenschaftliche
Gehirnforschung nur lächerlich machen.
Analog zum naturwissenschaftlichen Reduktionismus verfährt das
ökonomische
Denken. Vom heute wieder aktualisierten "Bevölkerungsgesetz" eines Malthus
über
die sozialdarwinistische Lehre vom "survival of the fittest" bis zur
angeblich
"genetischen" Prädisposition von Armut biologisiert es die Gesellschaft, um
dieses menschliche Tierreich dann wieder in die pseudo-physikalischen
Kategorien
eines "natürlichen" Preismechanismus, einer "natürlichen Arbeitslosigkeit"
(Friedman) usw. aufzulösen. Gegenüber der Natur wie gegenüber der
Gesellschaft
entwickelt die Multiplikation des beschränkten Funktionalismus mit dem ebenso
beschränkten Reduktionismus zerstörerische Potenzen. Deshalb haben
Naturwissenschaft und Ökonomie trotz ihrer vordergründigen Erfolge in der
Manipulation von Mensch und Natur letztlich zu keiner Verbesserung der
Lebensbedingungen geführt. Die Ökonomie produziert immer neue Armutsschübe
und
Krisen, die Naturwissenschaft immer neue "Zerstörungsdinge". Dieses traurige
Resultat ist aber nicht auf einen äußerlichen "Mißbrauch", eine bloß falsche
"Anwendung" der an sich richtigen "Wissenschaftlichkeit" zurückzuführen,
sondern
es ist in den Verfahrensweisen, den Axiomen und dem kategorialen System von
Naturwissenschaft und Ökonomie selber begründet. Nicht mit einer absoluten
und
ahistorischen Objektivität haben wir es hier zu tun, sondern mit einer
Filterung
der Welt durch die Formen des modernen warenproduzierenden Systems, die sich
nicht nur im ökonomischen, sondern auch im naturwissenschaftlichen Denken als
bewußtloses Apriori geltend machen.
Um diesen kategorialen Zusammenhang von Naturwissenschaft und Ökonomie
der
Warenproduktion im Interesse menschlicher Emanzipation kritisieren zu können,
müssen verschiedene Fallstricke vermieden werden. So ist es keine
Alternative,
wenn etwa das physikalische mechanistische Denken seit Descartes im Namen
eines
biologistischen "Organizismus" kritisiert wird, wie es etwa die sogenannte
Lebensphilosophie um die letzte Jahrhundertwende versucht hat. Dies heißt
nur,
den biologischen gegen den physikalischen Reduktionismus auszuspielen (mit in
der Regel reaktionären gesellschaftspolitischen Konsequenzen), statt zu einer
Kritik des naturwissenschaftlichen Reduktionismus überhaupt zu gelangen. Der
Skandal des naturwissenschaftlichen Paradigmas ist ja ein doppelter: Es kann
in
letzter Instanz weder zwischen toten und lebendigen Gegenständen
unterscheiden
noch zwischen Biologie und Gesellschaft. Beide Aspekte dieses zweifachen
Schrittes naturwissenschaftlicher Reduktion müssen kritisiert werden, um den
naturwissenschaftlich-ökonomischen Zerstörungsdiskurs zu überwinden.
Erst recht ist es keine Alternative, zurück in einen synthetisch
reproduzierten religiösen Kosmos der Vormoderne flüchten zu wollen. Eine
symbolische Ordnung dieser Art mit einem kohärenten Weltbild ist
unwiderruflich
Geschichte; jeder Versuch eines Revivals kann nur noch als irrationaler
Obskurantismus erscheinen. Der Hokuspokus des längst kommerzialisierten
esoterischen Betriebs überwindet den ökonomisch-naturwissenschaftlichen
Reduktionismus (und Funktionalismus) nicht, sondern ergänzt ihn nur. Es sind
nicht selten gerade Naturwissenschaftler und Ökonomen, die "privat" gern
Gottes
Hand bemühen oder sich die Karten lesen lassen. Kein reaktionäres Zurück
hinter
die modernen wissenschaftlichen Reflexionsformen kann das Ziel sein, sondern
nur
ein kritisches Darüberhinaus. Der Modus dieser Kritik aber ist
notwendigerweise
die Gesellschaftstheorie, deren Anwendungsbereich auf die Naturwissenschaft
auszudehnen wäre, genauer gesagt: auf die gemeinsame historische Wurzel von
Kapitalismus, Naturwissenschaft und theoretischer Ökonomie.
Es geht nicht darum, die bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
einfach zu negieren oder kulturrelativistisch beliebige Vorgehensweisen in
Bezug
auf die Natur unreflektiert "nebeneinander" gelten zu lassen, etwa magische
Regentänze und moderne Meteorologie, wie es der ehemals positivistische
Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend nach dem Zusammenbruch seines
naturwissenschaftlichen Weltbildes vorgeschlagen hat; ein noch schlimmerer
Fall
ist der US-Physiker Fritjof Capra, der oberflächliche Parallelen zwischen
fernöstlicher Mystik und moderner Physik mit einem seichten Moralismus
verbindet. Die Aufgabe ist viel komplizierter. Es gilt, die Naturwissenschaft
zu
"historisieren" und einer gesellschaftlichen Selbstreflexion zu unterziehen:
Sie
ist eben kein unmittelbarer Bezug "des" Menschen auf die "objektive" Natur,
sondern immer schon selber gefiltert durch den gesellschaftlichen Charakter
der
wahrnehmenden und forschenden Subjekte. Naturwissenschaft ist zwar (ihrem
Gegenstandsbereich nach) keine Gesellschaftswissenschaft, aber eben eine
gesellschaftliche Wissenschaft; insofern ist sie auch als das Phänomen einer
bestimmten "historischen Subjektivität" zu fassen - und die
naturwissenschaftlichen Axiome, Kategorien und Verfahrensweisen sind als
gesellschaftliche Wahrnehmungsformen zu dechiffrieren.
Die Grundfrage lautet also: Worin besteht in erkenntnistheoretischer und
gesellschaftspraktischer Hinsicht, im "Weltbild" und in der Vorgehensweise,
der
gemeinsame und historisch begrenzte, zu überwindende Formzusammenhang von
Kapitalismus und Naturwissenschaft? In diesem Sinne bestünde die Aufgabe
darin,
die Kritik an der Pseudo-Objektivität der modernen ökonomischen Kategorien
mit
einer entsprechenden Kritik an der gesellschaftlich vermittelten
Erkenntnisform
der Naturwissenschaften zu verbinden, um deren Erkenntnisse gewissermaßen von
Grund auf gesellschaftskritisch zu "sortieren", jede "sozialtechnologische"
oder
sozialbiologistische Interpretation unmöglich und ihren beschränkten
Anwendungsbereich deutlich zu machen. Längst ist ja die Physik selber an ihre
Grenzen gestoßen, die bloß nicht als gesellschaftlich-historische erkannt
werden. Vielleicht gibt die absehbare Blamage der "Weltformel" den letzten
Anstoß, daß die Naturwissenschaft anfängt, sich ihrer negativen
gesellschaftlichen Form kritisch bewußt zu werden.
Um das irrationale Moment der modernen ökonomischen und
naturwissenschaftlichen Rationalität aufdecken zu können, müßten freilich die
Gesellschaftstheoretiker ihren naturwissenschaftlichen und die
Naturwissenschaftler ihren gesellschaftstheoretischen "Analphabetismus"
überwinden. Eine solche Perspektive verlangt auch eine institutionelle Kritik
des Wissenschaftsbetriebs. Das erstarrte System der "Fachidioten" wird keine
welterschütternde neue Erkenntnis mehr hervorbringen.
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