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Re: [ox] Re: Integrierbarkeit der Keimform



Hallo Stefan und der Rest der Liste,

On Sat, Jun 09, 2001 at 12:21:12AM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Es gibt historisch doch jede Menge Beispiele dafür, was der
Kapitalismus alles eingesaugt hat. Nimm zum Beispiel die Popkultur.
Früher rebellische "Selbstentfaltung", heute nur noch
Kulturindustrie.

Ich sehe nix strukturell anderes an der "Selbstentfaltung" was
weniger gut verwertbar wäre als andere Sachen.

Mein zentraler Bezug ist die Freie Software - ich dachte das wäre
klar. So gesehen trifft dein Beispiel überhaupt nicht.

Daß die Hippies und die 68er den Kapitalismus nicht kippen konnten,
war klar, weil sie - ganz Marx'sch - eben *nicht* an der
Produktivkraftentwicklung ansetzen konnten, sondern eben nur in allen
möglichen anderen Bereichen (Hippies) bzw. vollständig politizistich
und noch dazu oft idealistisch (68er) an eine Gesellschaftsveränderung
herangingen. 

Ich glaube hier leuchtet der zentrale Punkt, wo wir differieren schon auf.

Aber erstmal zur Aufwärmung eine kleine Randfrage: Inwiefern waren die 68er
idealistisch? Die die ich kenne, sind das eigentlich nicht (gewesen).

Da man ja gegen eure steile Thesen sonst nicht ankommt, versuch ich es jetzt
auch mal mit einer:

Die Hippies waren sehr wohl im Zentrum der Produktivkraftentwicklung. Klingt
gewagt, ist aber IMHO richtig. Ihr betohnt ja selbst immer, dass PKE nichts
technizistisches ist, sondern ein gesellschaftliches Phänomen. Die Hippies
waren diejenigen, die das Ende des traditionellen Alienismus eingeleitet
haben. Was ist das anderes als PKE? Und es ist IMHO auch kein Zufall, dass
viele der heutigen Oberaliens damals Oberhippies oder 68er waren.

PKE hat ja wohl auf jeden Fall etwas mit "Produktivität" zu tun und eines
der wichtigen Sachen, die ich so in den letzten Jahren kapiert habe, war das
Produktion eine sehr umfassende Sache ist, die eben auch Schaffung von
Gesellschaftlichkeit beinhaltet und die von mir angeführte Popkultur ist
tatsächlich genau das. Das ist nicht einfach nur irgendein unwichtiges
Hobby.

Jetzt mal angenommen ich hätte damit recht. Damit fällt dann für mich eben
das Argument, dass FS was besonderes wäre, weil sozusagen die Speerspitze
der technischen Entwicklung, weg. Popkultur ist auch die Speerspitze einer
Entwicklung, nur eben einer anderen - nur genauso wichtigen (wenn nicht
sogar wichtigeren). Stichwort: Kulturindustrie.

Will sagen: Die Speerspitze zu sein imunisiert einen noch nicht gegen
alienistische Vereinnahmungen.

Wahrscheinlich sind wir uns ja sowieso darin einig, dass es keinen
Automatismus gibt im Aufkeimen der Keimform. Die Keimformthese als solche
(also unabhängig von Freier Software) mag auch ihre Richtigkeit haben. Nur
muss man dann auch den Fakten ins Auge sehen, wie viele tote Keime schon
unseren Weg pflastern.

Noch ein paar Randbemerkungen:

das Ganze hat deswegen eben eine so strukturelle Bedeutung, weil die
Produktivkraftentwicklung - zumindest rund um den Kapitalismus - eine
entscheidende Größe für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist.
Das ist für mich der entscheidende strukturelle Knackpunkt, der nun
wirklich nicht neu ist und hier schon x-mal erläutert wurde.

Ja, war mir auch durchaus klar.

Wenn irgendwo, dann wäre dagegen also wirksame Kritik anzusetzen.

Genau das hab ich oben versucht.

Um es mit einem Gedankenexperiment zu verdeutlichen: Wenn die (netten)
Aliens morgen landen würden und uns die Maschinen hinstellen würden,
die uns auf Gedankenbefehl mit einer Hypertechnik alles produzieren,
was wir uns vorstellen können - umweltverträglich, mit einer
Hyperenergie und allem was mensch sich im Bereich Produktion so
Science-Fiction-mäßig wünschen kann. Wie lange könnte der Kapitalismus
überleben? Richtig: Keine Sekunde. Seiner Basis der Wertverwertung
durch Warenproduktion wäre mit einem Schlag jegliche Grundlage
entzogen und *das* würde ihm etwas machen.

Ich bin sicher die Aliens (jetzt die weniger netten) würden einen Weg finden
uns die richtigen Gedanken für teures Geld verkauft. Tatsächlich würde ich
das als durchaus zutreffende Beschreibung unserer Gesellschaft ansehen. Was
uns verkauft wird sind doch schon lange nicht mehr Produkte, seien sie jetzt
gut oder schlecht, sondern Image, Gedanken eben.

Auch der Erfolg von Linux und FS ist übrigens zu sehr grossen Teilen ein
Imageerfolg. Anders hätte es auch garnicht funktioniert. 

D.h. es kann also Szenarien geben, die der Kapitalismus nicht
integrieren kann. Die Frage ist, wie können solche Szenarien aussehen.

Ich denke tatsächlich, das es sowas _nicht_ gibt. Das ist doch gerade der
Witz am Kapitalismus, das er prinzipiell eine _universelle_
Wertverwurstungsmaschi(e)ne ist. Mit Marx und seiner Orientierung an Arbeit,
die den Wert schafft, kommt man da allerdings nicht weiter. Das Besondere am
Kapitalismus, so wie er sich mir heute präsentiert, sehe ich eher darin,
dass er noch aus dreimal geschissener Scheisse Geld macht.

Freie Software und das in ihr inkarnierte Produktivkraftmodell spielen
nach meiner Überzeugung in dieser Liga. Und da spielen weder die 68er
noch die Hippies noch die Esos noch die Ökos noch die
SelbstverwalterInnen, noch die Gewerkschaften, noch...

Alles die selbe Liga. Macht aber nix. Die haben nämlich alle durchaus auch
viel Positives erreicht (naja, die Esos vielleicht nicht ;-). Nur sind sie
eben auch alle verwurstet worden. Natürlich gibt es am relativen Anfang
solcher Bewegungen vielleicht Möglichkeiten, dass da mehr draus werden kann,
schon möglich. Nur, das was Du machst, nämlich eine quasi
Alienisierunsimmunität zu behaupten halte ich wür extrem kontraproduktiv.
Siehe dazu auch meine Mail zur Alienisierung freier Software.

Tatsächlich
habe ich schon heute oft das Gefühl mit Irren zu sprechen, wenn ich
wiedermal nach ellenlangem Gejammer ein freudiges "Aber meine Arbeit
macht mir ja Spass" hören muss. Und das ist meiner Wahrnehmung nach
so ungefähr der Mainstream in dem, wie die Leute über ihre Arbeit
reden. 

Du beschreibst Phänomene eines auslaufenden Modells. 

Den Mainstream als "auslaufendes Modell" zu bezeichnen finde ich irgendwas
zwischen ignorant und gefährlich. Sorry, klingt vielleicht etwas hart.
Natürlich muss sich das neue immer gegen den Mainstream behaupten, aber eben
schon unter seiner Berücksichtigung und nicht einfach im Blindflug.

Ihr redet hier immer so, als muesste die "Selbstentfaltung" immer
erst noch verwertet werden. Der Witz ist, dass das doch schon längst
passiert. Nur deswegen sind die Leute doch bereit 60 Stunden und
mehr zu arbeiten, eben weil es ihnen Spass macht.

So? Das glaube ich in dieser Allgemeinheit nicht. Da wäre schon mal
genauer hinzuschauen. Bei SoftwerkerInnen mag das ja noch angehen,
aber wenn Leute nicht mehr krankfeiern, dann hat das wohl kaum was mit
Arbeitsfreude und Selbstentfaltung im Job sondern vielmehr mit der -
real begründeten - Angst vor dem Rausschmiß zu tun.

Meine Wahrnehmung ist da anders. Je weniger jemand vom Raussschmiss bedroht
ist um so mehr wird freudig malocht. Lauter Irre, wie gesagt. Bei Spehr gibt
es eine schöne Szene mit einem niedrigen Alien, dass frustriert ist, weil es
"sich noch nicht mal Arbeit mit nach Hause nehmen darf". So kommen mir
durchaus viele Leute vor.

Es sind schon immer vielfältige Mittel entwickelt worden, den
Menschen anderer Leute willen als ihren eigenen vorzugaukeln. Das
wird doch auch immer subtiler und funktioniert doch auch. Wo ist da
ein struktureller Unterschied?

Du sitzt aller Wahrscheinlichkeit nach davor. Du verwendest GNU/Linux
weil es besser ist als M$ - zumindest auch deswegen und nicht, weil es
dir jemensch eingehämmert hat. 

Och ich weiss nicht so recht. Ich würde es eher so formulieren, dass ich in
einem Umfeld in Berührung gekommen bin, wo das eben zum guten Ton gehört und
weil ich neugierig war und zu Hause auch Unix haben wollte. Und inzwischen
hab ich mich schlicht dran gewöhnt und kann mit M$ nix mehr anfangen weil
das da alles nach einer mir nicht zugänglichen Logik funktioniert.

Und diese Qualität jenseits aller
Ideologie, 

Puh, sorry, aber das gibt es nicht, meiner Meinung nach und das sage ich
gerade mit meinem Informatik-Background. Qualität gibt es immer nur relativ
zu bestimmten Kriterien. Diese auszuwählen ist schon ein ideologischer Akt.
Wenn Konformität für mich ein wesentliches Qualitätskriterium ist (und dafür
gibt es durchaus Argumente) werde ich bei M$ oder noch eher bei Apple
landen.

dieser real-existierende Nutzen ist eine Folge des neuen
Produktivkraftmodells, das sich in Freier Software inkarniert und - so
die These - eben auch nicht zufällig genau dort entstanden. Deswegen
ist dieses Produktivkraftmodell also im Interesse *aller* - also BTW
auch der meisten Kapitalfraktionen.

Der Kapitalismus hat sich ja auch nicht durchgesetzt, weil das
irgendwo so beschlossen worden ist, sondern weil er ganz materiell
Vorteile geboten hat - letztlich allen.

Ich sag ja auch garnicht, dass sich FS nicht "durchsetzt". Die 68´er haben
sich ja auch "durchgesetzt". Nur ich halte es für durchaus möglich, dass der
Kapitalismus das aushält.

M$ müßte nicht
Diffamierungskampagnen starten, wenn sie mit ihrem kapitalistischen
Produktivkraftmodell einfach bessere Produkte liefern würden.

Oder weil Linux einfach das bessere Image hat? 

Stefan, woher nimmst Du nur diesen grenzenlosen Optimismus?

Ich hoffe, daß jetzt klarer geworden ist, daß das nach meiner Ansicht
überhaupt nichts mit Optimismus zu tun hat, sondern Ergebnis ist einer
Analyse dessen was ist.

Naja, es gibt eben optimistischere und weniger optimistische Analysen ;-)

Wie soll das Gedankenexperiment integriert werden?

Ich habe das Gefühl, daß manche KapitalismuskritikerInnen - angesichts
ihrer real existierenden Machtlosigkeit? - inzwischen reihenweise ins
Gegenlager übergewechselt sind und sich nicht mal mehr selbst
erlauben, sich was anderes vorzustellen als eine Verewigung des
Kapitalismus. 

Oh, im Vorstellen bin ich ganz gross, das ist nicht das Problem. Aber sicher
gibt es solche Leute, nur ich möcht´ mir den Schuh bitte nicht anziehen.

Ich kann mir halt nur auch effektive Gegenmassnahmen vorstellen. 

Zugegeben, der Grat ist dünn, auf dem wir wandeln, aber
m.E. schon klar begründbar, warum dieses Phänomen einerseits eben
nicht aufsaugbar und andererseits nicht zur Nischenexistenz verdammt
ist.

Möglicherweise existiert dieser dünne Grat. Nur bringt es nix, die
Fallgruben wegzudefinieren, man sollte sie lieber sehen und versuchen
Brücken zu bauen.


Die
Arbeitsweise wie sie heute in weiten Bereichen üblich ist
(60h-"Meine Arbeit macht mir Spass"-Woche) war doch vor wenigen
Jahren noch für die allermeisten undenkbar. Heute jedoch gehört es
schon zum guten Ton sich gegenseitig damit vorzuprahlen, wieviel man
denn arbeitet. 

Klar, Leute geben auch damit an, wieviel sie letztes Wochenende
gesoffen haben. Würdest du das als Beleg dafür nehmen, daß
Alkoholkonsum was Zukunftsfähiges ist?

Danke. Ich hab herzlich gelacht!

Ich hab da auch keine "zukunftsfähigkeit" attestiert. Ich sehe nur extrem
wirksame Herrschaftsmethoden wirken. Ich moechte einfach drauf hinweisen,
dass diese Aliens verdammt clever sind und man sie nicht unterschaetzen
sollte und einfach davon ausgehen, dass man immun ist. 

FS wird sicherlich _irgendetwas_ bewirken, aber möglicherweise ist es nur
die Ablösung der progressiven Aliens durch die nächste Generation.

Freie Software bricht mit dieser Dominanzkultur der Konkurrenz.
Konkurrenz kommt vor - aber nicht als zentrales Motto sondern als
Randerscheinung.

Hm. Wie bei uns im Go-Club. Jaja, ich weiss, jetzt kommt wieder die
Speerspitze.

Im Gegenteil setzen diese siebzehntausend auf Show- und Glanz-Effekte,
die oft genug alles andere als funktional sind. 

Du wirst lachen, aber ich kenne verdammt viele Leute, die diese "Show- und
Glanzeffekte" ziemlich cool finden und deswegen auch "funktional" in ihrem
Sinne. 

Klar: Sie müssen sich
halt gegenüber Konkurrenz ins Licht setzen. Der Aufwand, der in diesem
dysfunktionalen Mist gesteckt wird, der lediglich der Fetischform
geschuldet ist, der entsteht bei Freier Software gar nicht erst bzw.
wird in sinnvolle Features gesteckt. 

Und warum wurde dann fuer KDE2 damit geworben, dass jetzt alle Icons
gerendert seien? Wenn das mal kein Show- und Glanzeffekt ist, der alles
andere als funktional ist, dann weiss ich nicht, was sonst. 

Gar nicht zu reden davon, daß
Freie Software viel stärker Eingriffsmöglichkeiten der AnwenderInnen
bietet - auch weit vor Source-Hacken.

Es gibt auch ein berechtigtes Bedürfnis nach _geringeren_
Eingriffsmöglichkeiten. Wie oben schon gesagt: Qualität ist relativ zu den
gewählten Kriterien.

Wichtig nochmal: Es geht nicht um x-beliebige Selbstentfaltung sondern
Selbstentfaltung als zentralen Motor eines neuen
Produktivkraftmodells, das dem heute erreichten Stand der
Produktivkraftentwicklung mit seinem Schwerpunkt auf
Informationsproduktion offenbar am adäquatesten ist.

Wichtig nochmal: Ich versuchte darzulegen, dass Selbstenfaltung auch schon
im progressiven Alienismus zentral ist. Ihr versucht dem immer zu begegnen,
in dem ihr die beiden Wörter "Selbstentfaltung" und "Selbstverwirklichung"
gegeneinander stellt. Das bleibt für mich aber bisher nur ein Trick mit
Wörtern ohne reale Grundlage. Mag sein, dass das daran liegt, dass ich mich
noch nicht ausführlich mit der "kritischen Psychologie" beschäftigt hab - wo
das ja wohl herkommt.

Frage beantwortet?

Ja und Nein. Mir ist Deine Position schon klar - war sie mir auch schon
vorher - nur kann ich sie so halt nicht teilen. Jetzt sogar eher weniger als
vorher.

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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