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[ox] Wissensordnung, was: notizen zur keimform



Hallo allerseits!

Es ist zwar schon 6 Wochen her, dass Lorenz und Stefan Mz hier über
die "Keimformen" disputiert haben, aber ich greife den Faden noch
einmal auf, um den Gedanken der "Wissensordnung" hineinzubringen, der
hier seit Dortmund brach liegt. 

Aktueller Anlass ist ein Vortrag von Wolfgang Coy gestern in Leipzig
unter dem Titel "Von der Ordnung des Wisens zu einer neuen
Wissensordnung" (Abstract auf
http://www.informatik.uni-leipzig.de/theo/RV2001/RV_vo08.html), wo er
den Bogen von Foucault zu Helmut Spinner spannte, um dem Phänomen
'Wissen' auf die Spur zu kommen. Dabei hat er versucht, die
Wissensordnung als ähnlich komplexes gesellschaftliches Konstrukt
aufzureißen, wie das Stefan Mz für die PKE gefordert hat, als er in
Erwiderung auf Lorenz am 09 May 2001 schrieb

   IMHO liegt das an der verengten Vorstellung von PKE als
   "Produktivitätsentwicklung" resp. noch enger "Technikentwicklung".
   Diese (ver)dingliche(nde) Sicht hat mich doch bei Norbert arg
   verwundert, wo Krisis sozusagen "Dinglichkeitskritik" par
   excellance betreiben. Das was sie an der Wertvergesellschaftung
   kritisieren (Fetischismus/Verdinglichung/Ontologisierung) heben sie
   genau an dieser Stelle unhinterfragt in die Theorie. In diesem
   dinglichen PKE-Begriff sind sie übrigens völlig einig mit dem
   Altmarxismus - der Unterschied ist "nur", dass der Altmarxismus den
   dinglichen PKE-Begriff naturgesetzlich (also überhistorisch) fasst,
   während Norbert die begrenzte Geltung für den Kapitalismus betont.

   So wie ich das versuche zu denken, liegt es sozusagen quer zu
   alledem: PKE als Verhältnisbegriff, PKE als "Inhaltsseite" und
   Vergesellschaftsform als "Formseite" gesellschaftlich-historischer
   Entwicklung. "Alt" ist darin nurmehr mein Festhalten am historischen
   Materialismus - Naturgesetzlichkeit, Determinismus, historische
   Mission usw. sind da aber raus.

Ich kann in dem Zusammenhang nur immer wieder auf den Abschnitt
"Discourse of Machines and Machines of Discourse" in Fortiers Aufsatz
"Virtuality Check - A Political Economy of Computer Networking", siehe
http://dkglobal.org/crit-ict/ff1.htm, hinweisen, wo dies am Beispiel
des Technologiebegriffs gut durchdekliniert wird. 

Auf diesem Level werden wir auch über die "Wissensordnung" reden
müssen, wenn wir den entsprechenden Ansatz aus Stefans Vortrag in
Dortmund weiter verfolgen wollen. Allerdings ist für analytische
Zwecke zunächst eine gewisse Komplexitätsreduktion erforderlich, so
dass ich es für sinnvoll erachte, zwischen Sozialisierungsformen und
Vergesellschaftungsformen zu unterscheiden. Unter ersterem verstehe
ich die Art, wie die "Diskurse" (Foucault) in verschiedenen
funktionalen Sphären der Gesellschaft (verschieden) organisiert sind,
also bei Foucault wohl die entsprechenden Bindestrich-Ordnungen (NB:
Sind das eigentlich die Bolos?).  Die Vergesellschaftungsform ist dann
die Gemengelage, die sich aus der Interaktion dieser verschiedenen
Sozialisationsformen ergibt (in einem ebensolchen ko-evolutionären
Verständnis wie von Stefan für die PKE-Betrachtung gefordert). Wobei
heute sicher die Geldordnung eine sehr dominante Ordnung ist.

Allerdings gibt es auch große Konflikte zwischen der Wissensordnung
(Wissenschaftsordnung?) und der Geldordnung, die, siehe die
Softwarepatentdiskussion, die Grundlagen der Wissensordnung so weit
untergraben, dass die Funktionalität von Teilen der Wissenssphäre in
Frage gestellt wird.  Ich verweise dazu etwa auf das
Stallman-Interview vom 5.12.2000 im Spiegel, siehe
http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,106278,00.html

Die Differenz Sozialisierungsform - Vergesellschaftungsform halte ich
für analytisch wichtig. Sozialisierungsformen (Bolos?) gibt zu in
jeder Zeit in der Gesellschaft viele - und in einer funktional relativ
ausdifferenzierten Gesellschaft reproduzieren sie sich auch relativ
autonom.  Vergesellschaftungsformen gibt es zu jeder Zeit nur eine,
die aber (wie die Sozialisierungsformen natürlich auch) einer
historischen Dynamik unterliegt.

Weiter zu Stefan:

   Freie Selbstentfaltung ist nicht bloß eine nette Idee, sondern auch
   Ergebnis eines widersprüchlichen Entwicklungsprozesses der
   Wertgesellschaft selbst. Dass diese Tendenz "in die Form" genommen
   wird, ist klar (darauf weist Sabine stetig hin, und ich teile das),
   sie birgt aber eben auch Potenzen einer neuen
   Vergesellschaftungsform, die sich nur in Aufhebung der
   Wertgesellschaft zeigen kann. Als solche ist sie nicht bloss
   Handlungsmöglichkeit (das ist sie auch, aber davon gibt es viele),
   sondern "Keimform" einer neuen Gesellschaft. Diese Aussage
   impliziert mitnichten, dass das so kommen muss, dass es jetzt
   passiert usw. Sie bedeutet "nur", dass die "Vergesellschaftung"
   ("Produktion und Verteilung") in der Freien Software ansatzweise
   "anders" verläuft. Was das so "anders" ist, gilt es zu kapieren -
   gerade, weil nix von alleine kommt.

Genau hier wird die obige Unterscheidung wichtig. Ist "Freie
Selbstentfaltung" (in all ihrer verschwommenen Begrifflichkeit) primär
Element einer neuen Vergesellschaftungsform oder 'nur' Element einer
anderen Ordnung als der Geldordnung, die es schon lange gibt? Wir
hatten hier ja schon festgestellt, dass die Elemente, die Frei im
Sinne des GNU-Manifests konstituieren, essentiell für das
Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs im heutigen Verständnis sind.

Wenn "Freie Selbstentfaltung" wesentliches Moment der Wissensordnung
ist, dann folgt daraus methodisch 

1) dass sie nicht so einfach losgelöst von der Wissensordnung
   verstanden werden kann und

2) ihre Dynamik eng mit der Gesamtdynamik der Wissensordnung verbunden
   ist. 

Was heißt das für unsere Diskussion?

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe

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     |  PD Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig |
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