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Re: [ox] Re: Kooperation 1



Hallo Stefan,

danke für Deine Ausführlichkeit! Ich gehe auf den konkreten Teil später noch
mal ein und möchte hier meine eigene Position präzisieren, einiges
korrigieren und eventuelle Mißverständnisse ausräumen.
Also, es ging mir nicht um einen Feldzug gegen die Abstraktion, das wäre ja
blödsinnig. Es ging mir darum, in welchem Ausmaß ein System der abstrakten
Vermittlung (es gibt auch konkrete!) unser Leben bestimmt. Es geht mir um
?harte³ und ?weiche³ Formen, um hermetische und durchlässige Systeme. Ein
weiches System ist durch viele Stufen der Vermittlung gekennzeichnet, ein
hartes schert alles über einen Kamm. Ein durchlässiges Sytem erfasst nicht
das Total unserer gesellschaftlichen Beziehungen, ein hermetisches macht
jede Vermittlung außerhalb des Systems unmöglich.
Mir drängt sich da ein Beispiel aus der Musik auf, vielleicht bringt es ja
was, auch wenn hier kaum einer die Details kennen dürfte: Die
Zwölftontechnik ist so ein abstraktes musikalisches Bezugssystem. Es regelt
von vornherein bestimmte intervallische Relationen der Töne zueinander und
das ist zunächst mal sehr bequem. Wenn aber ein Komponist glaubt, allein
durch die Verwendung der Zwölftontechnik schon musikalisch etwas Sinnvolles
ausgesagt zu haben, dann irrt er sich. Es gibt nichts Nervtötenderes als das
bloße Abspulen von Zwölftonreihen, und die Häufigkeit mit der Komponisten so
an das Material herangingen, hat die ganze Technik in Verruf gebracht.
Das geniale an Komponisten wie Schönberg ist aber, das es ihnen gelungen
ist, aus dem abstrakten Regelsystem heraus immer wieder ganz konkrete Bezüge
zwischen den Tönen herzustellen, solche, die als spontane ?Kooperativen³
entstehen und wieder verschwinden, alle aufgehoben im Abstrakten, doch
dieses durch Spontaneität und konkreten Ausdruck überhaupt erst mit Sinn
erfüllend.
Das das möglich wird setzt voraus, daß das System genügend Raum läßt, daß es
nicht alle Beziehungen determiniert und damit alle Spontaneität unterdrückt.
Wie läßt sich dieser ?Raum³ bestimmen? Es ist ein Raum von Verhandlungen
(ein guter Komponist ?verhandelt³ die ganze Zeit mit seinem System: wie weit
darf ich das System strecken, damit es noch erkennbar bleibt? Wie vereinbare
ich ein spontan entstehendes Ausdrucksbedürfnis mit dem, was objektiv, d.h.
vom System her, vorgegeben ist? Dabei entstehen Kompromisse, die das System
auch selbst weiterentwickeln und irgendwann vielleicht aufheben).
Um nun wieder zum Konkreten unseres Themas zurückzukehren:
Beziehungen, die auf Geldbasis existieren, sind dadurch gekennzeichnet, daß
sie nicht verhandelbar sind. Verhandelbar ist lediglich der Preis (auch der
nicht immer), nicht aber die Fetischhaftigkeit der Beziehung. Ob ich mich
bei jemanden für 100,- oder 200 DM prostituiere, ändert nichts daran, daß
die Beziehung nicht auf einem unmittelbaren gegenseitigen Interesse beruht,
sondern auf der Verfügung über das Tauschmittel.
Ein zwar abstraktes, aber offenes und durchlässiges System wäre dadurch
gekennzeichnet, daß es mich nicht zur Prostitution zwingt, daß es mir Raum
zum Verhandeln gibt, daß es die Möglichkeit offenhält, die Sprachlosigkeit
determinierter Verhältnisse zu versprachlichen: ?deals³ (Spehr) zu machen,
wo vorher das Prinzip ?friß oder stirb³ galt. Das hebt nicht die Möglichkeit
der Präfiguration auf, macht diese aber nicht notwendig. Solange das System
zufriedenstellend läuft, ok., aber was ist wenn nicht?

Was die negativen Aspekte der Wertförmigkeit, bzw. der
'kybernetischen Maschine' ausmacht, so würde ich sie mal mit dem
religionswissenschaftlichen Terminus 'Opferlogik' bezeichnen. Um diese
Opferlogik mit einem Sprichwort zu illustrieren: "wo gehobelt wird, da
fallen Späne" ist eine beliebte Entschuldigung, wenn wieder einmal
gesellschaftliche Handlungsfähigkeit durch Beschneidung individueller
Selbstentfaltung, das Überrollen von Minderheiten u.ä. hergestellt werden
soll. Die kybernetische Maschine funktionert, einer inhärenten Logik folgend
tadellos. Nur produziert sie dabei jede Menge Ausschuß, d.h. alles was sich
nicht entsprechend der Verwertungslogik integrieren lässt, wird "geopfert"-
es ist mir sehr wichtig festzuhalten, daß die wunderbare Logik psychologisch
und Ideengeschichtlich sich aus den archaischen Vorstellungen vom Opfer
herleitet. Alle Vermittlungsmodelle, die die Menschheit bisher
hervorgebracht hat, ob wertförmig oder nicht, und die nicht auf
"unmittelbarer Kooperation" beruhen (wobei auch noch zu fragen wäre, was
dabei jeweils 'unmittelbar' ist) bedienen sich irgendwelcher Abstraktionen,
die allesamt auf einer Opferlogik beruhen.

Hm, Du meinst das, was in Krisiskreisen gerne als "Geschichte von
Fetischverhältnissen" gehandelt wird? Oder ist das nochmal was
anderes?

Es läßt sich ein Zusammenhang zwischen Fetisch und Opfer formulieren: das
Opfer ist die Konsequenz von Fetischverhältnissen und das ist das Dumme am
Fetischismus. 
 
Ein System der Vermittlung -und darum geht es schließlich (was ist der
Gegensatz zu "unmittelbar"? -"mittelbar" doch wohl)- ist mir ohne
Abstraktion nicht vorstellbar.

Das klingt so, als Abstraktion per se mies ist!

Nein, das war ersteinmal neutral gemeint. s.o.

Der Sinn von
Vermittlung ist ja gerade Abstraktion, also Absehung davon, mich
unmittelbar um alles kümmern zu müssen. Abstraktion ist immer auch
Entlastung. Nimm nur das Geld - das wurde hier auch schon genannt:
Es erspart dir eine Menge Gedanken. Es realisiert automatisch ein
gesellschaftliches Verhältnis. Das ist doch cool.

Das ist in der Tat cool. Leider gibt es immer wieder Leute die für diese
Form von Vergesellschaftung nicht cool genug sind. ;-)  s.o.

Genau sowas
brauchen wir auch: Ein entlastendes abstrahierendes System - nur
eben nicht auf dem Wert basierend (weil... usw., die Argumente sind
bekannt).


Wobei die potentielle Be-lastung sich nicht immer gleich bleiben muß, genau
deswegen haben frühere Systeme ja auch funktioniert. Erst wenn der Handel
frei und grenzenlos wird ensteht ein Vermittlungsdruck, der ohne ein System
wie Geld gar nicht zu bewältigen wäre. Nun will ich nicht zum
Naturalaustausch innerhalb geschlossener ökonomischer Kreisläufe zurück,
denke aber, daß sich weltweiter Austausch auch mit einem weniger brachialen
Mittel als Geld organisieren ließe. Nur dieses Chaos, das sich freier Markt
nennt, in dem alles ständig umgeschmissen und neu organisiert wird, ist auf
derartig grobe und rücksichtslose Abstraktionen angewiesen.
Kapitalistischer Markt ist im Vergleich zu anderen Wirtschaftsformen wie
Kriegsrecht im Vergleich zum Friedensrecht: auf jede Übertretung wird gleich
die Todesstrafe verhängt, weil sonst die Lage außer Kontrolle gerät, was in
Friedenszeiten absolut nicht eintreten würde. Kriegsrecht ist ein sehr
einfaches System, das uns lange Prozesse erspart, den ganzen
Vermittlungsfirlefanz von Einspruchsmöglichkeit, mehreren Instanzen,
Wahlverteidigern, unabhängigen Gutachtern und was es da noch gibt, vom Halse
hält, es ist kosteneffizient, schnell und wirksam. Warum bleiben wir dann
nicht auch in Friedenszeiten dabei? Richtig, weil das keine Bevölkerung der
Welt lange mitmachen würde und weil es das gesellschaftliche Leben in einer
Weise lähmt, die dem System bald von innen heraus gefährlich würde.
"Unbegreiflicherweise" fügt sich aber die gesamte Weltbevölkerung
der Diktatur des Geldes und nimmt zwar kein Standrecht, dafür aber
millionenfachen Hungertod und psychisches Massenelend in Kauf.
Ich glaube sie würde ein Vermittlungssystem, das zwar etwas umständlicher
und zeitaufwendiger ist, dafür aber die verheerendsten humanitären
Konsequenzen vermeiden kann vorziehen, -wenn es nur wenigstens eine
VORSTELLUNG davon gäbe, wie es anders laufen kann!
  
Nicht Abstraktion ist Mist, sondern die gesellschaftliche Form.
Nicht Vergesellschaftung ist Mist, sondern die Form. Nicht
Gesellschaft ist Mist, sondern ihre Form.

Ja.
 
Die Herausforderung wäre eine
gesellschaftliche Reproduktion denken zu können, die diesen Vorgang
tatsächlich im wörlichen Sinne abbildet, d.h. die Reproduktion total
leistet, womit wir by the way tatsächlich am Ende der Geschichte
angekommen wären.

Das verstehe ich nicht ganz. Der Anspruch ist totalitär, aber er
geht nicht "total" auf. So?

Wenn ich dazu mal ein organizistisches Beispiel verwenden darf: ein
Organismus der es schafft seine Struktur immer haargenau und ohne Abweichung
zu reproduzieren, altert nicht, der bleibt sich immer gleich, hat also keine
Geschichte. Das ist aber in der Tat der ?Anspruch³ des Reproduktionssystems
eines Organismus.

Anyway, nun zum Blick nach vorne. Ein solcher Blick ist super schwer. Es gibt
viele Versuche, sich die freie Zukunft "konkretistisch" auszumalen. Das
wurde (IMHO zurecht) als Utopismus kritisiert. Jede Ausmalung ist
normativ (Benni?), je konkreter, desto normativer. Das andere Extrem ist
der völlige Verzicht auf Aussagen.

Genau, wir müssen da einen Mittelweg fahren. Oder wir splitten. Das Eine tun
und das Andere nicht lassen. Wir können ja ruhig ausmalen, es gibt dann
schon genug Leute, die sich wie die Geier drauf stürzen, um die Utopie
auseinanderzunehmen. Als wenn es darum ginge, daß ein Autor mit allen seinen
normativen Setzungen Recht behielte! Aber es ist einmal ein Tor aufgestoßen
worden und man kann sich daran abarbeiten. Insofern haben auch die Geier
dabei eine positve Funktion. Ich lese zB gerade bolo?bolo. Gibt es was
köstlicheres? Natürlich kommen mir bei der Lektüre allerlei Einwände, aber
ich finde es ungeheuer ermutigend, daß jemand mal wagt, eine komplett andere
Gesellschaft  überhaupt zu denken. Sowas macht Lust! Wie hieß eine der
Parolen, die damals, als das Buch erschien, umgingen?: ?Wer keinen Mut hat
zu träumen, hat keine Kraft zu kämpfen.³

Bis bald,

Johannes

JohSt


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Organisation: projekt oekonux.de


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