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Re: [ox] Re: Kooperation



Hi Johannes und alle,

hat etwas gedauert, ist auch nicht so einfach die Frage nach der anderen
Vergesellschaftung. Ich versuche mal laut zu denken an dem Punkt, der
auch mich brennend interessiert.

Johannes Stockmeier schrieb:
nicht ausreicht. Unmittelbare Kooperationen können nicht auffangen,
was die kybernetische Maschine eben leistet: sie läuft auch ohne je
mein unmittelbares Zutun.

Ciao Stefan,
da sind wir an einem Punkt, den wir in der Krisis-Diskussion schon einmal
berührt und leider nicht ausdiskutiert haben. Es interessiert mich sehr, ob
Du schon eine Vorstellung von einem Vergesellschaftungsmodell hast, das
nicht wertförmig ist.

Das versuche ich rudimentär zu denken, unten. Ein "Modell" im Sinne
einer normativen Richtlinie kann es übrigens nicht sein. Aber s.u.
Erstmal zu deiner Negativbeschreibung.

Was die negativen Aspekte der Wertförmigkeit, bzw. der
'kybernetischen Maschine' ausmacht, so würde ich sie mal mit dem
religionswissenschaftlichen Terminus 'Opferlogik' bezeichnen. Um diese
Opferlogik mit einem Sprichwort zu illustrieren: "wo gehobelt wird, da
fallen Späne" ist eine beliebte Entschuldigung, wenn wieder einmal
gesellschaftliche Handlungsfähigkeit durch Beschneidung individueller
Selbstentfaltung, das Überrollen von Minderheiten u.ä. hergestellt werden
soll. Die kybernetische Maschine funktionert, einer inhärenten Logik folgend
tadellos. Nur produziert sie dabei jede Menge Ausschuß, d.h. alles was sich
nicht entsprechend der Verwertungslogik integrieren lässt, wird "geopfert"-
es ist mir sehr wichtig festzuhalten, daß die wunderbare Logik psychologisch
und Ideengeschichtlich sich aus den archaischen Vorstellungen vom Opfer
herleitet. Alle Vermittlungsmodelle, die die Menschheit bisher
hervorgebracht hat, ob wertförmig oder nicht, und die nicht auf
"unmittelbarer Kooperation" beruhen (wobei auch noch zu fragen wäre, was
dabei jeweils 'unmittelbar' ist) bedienen sich irgendwelcher Abstraktionen,
die allesamt auf einer Opferlogik beruhen.

Hm, Du meinst das, was in Krisiskreisen gerne als "Geschichte von
Fetischverhältnissen" gehandelt wird? Oder ist das nochmal was
anderes?

Ein System der Vermittlung -und darum geht es schließlich (was ist der
Gegensatz zu "unmittelbar"? -"mittelbar" doch wohl)- ist mir ohne
Abstraktion nicht vorstellbar.

Das klingt so, als Abstraktion per se mies ist! Der Sinn von
Vermittlung ist ja gerade Abstraktion, also Absehung davon, mich
unmittelbar um alles kümmern zu müssen. Abstraktion ist immer auch
Entlastung. Nimm nur das Geld - das wurde hier auch schon genannt:
Es erspart dir eine Menge Gedanken. Es realisiert automatisch ein
gesellschaftliches Verhältnis. Das ist doch cool. Genau sowas
brauchen wir auch: Ein entlastendes abstrahierendes System - nur
eben nicht auf dem Wert basierend (weil... usw., die Argumente sind
bekannt).

Noch grundsätzlicher fällt mir dazu ein: Der wesentliche Unterschied
von Tier und Mensch ist die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Tiere
sind zwar in der Lage, unmittelbare Sozialstrukturen aufzubauen, die
aber niemals ein verselbständigten Systemcharakter erreichen. Geht
die soziale Gruppe ein, ist die Struktur weg. Erst die Gesellschaft
hat diesen verselbständigten Systemcharakter, d.h. sie ist eine sich
selbsterhaltende eigenständige Sphäre zwischen dem Individuum und
der Welt. Nur aufgrund dieser Eigenständigkeit gibt es überhaupt für
die Individuen Möglichkeiten. Je mein Leben ist nurmehr mittelbar
(vermittelt) an die Gesellschaft geknüpft. Und btw. macht eine
Gesellschaftswissenschaft nur Sinn, wenn man von einer solchen
relativen Eigenständigkeit mit einer eigenen Entwicklungslogik
ausgeht.

Nicht Abstraktion ist Mist, sondern die gesellschaftliche Form.
Nicht Vergesellschaftung ist Mist, sondern die Form. Nicht
Gesellschaft ist Mist, sondern ihre Form.

Die Herausforderung wäre eine
gesellschaftliche Reproduktion denken zu können, die diesen Vorgang
tatsächlich im wörlichen Sinne abbildet, d.h. die Reproduktion total
leistet, womit wir by the way tatsächlich am Ende der Geschichte
angekommen wären.

Das verstehe ich nicht ganz. Der Anspruch ist totalitär, aber er
geht nicht "total" auf. So?

Ist es Dir überhaupt denkbar, daß eine abstrakte Vermittlung existiert,
die "gerechter"(jetzt nicht im Sinne von Äquivalenz, sondern in dem Sinne,
daß es für jeden tatsächlich funktioniert) ist als die wertförmige?

Ja, ganz eindeutig ja. [Ich grüble gerade, ob "abstrakte
Vermittlung" ein weisser Schimmel ist. Annette?]. S.u.

Ich bezweifle sehr, daß irgendeine bessere Maschine, irgendein automatisches
Subjekt diese Aufgabe übernehmen könnte, besser gesagt, ich halte es für
ausgeschlossen. Karl Marx hat ja schon überzeugend nachgewiesen, daß der
Kapitalismus das gerechteste aller Systeme ist -gerecht nämlich jetzt im
Sinne von Äquivalenz, anders läßt läßt sich Gerechtigkeit logisch nicht
ausdrücken- bloß bringt uns das wenig.

Diese "Gerechtigkeit" würde ich in Anführungsstrichen setzen. Anyway,
nun zum Blick nach vorne. Ein solcher Blick ist super schwer. Es gibt
viele Versuche, sich die freie Zukunft "konkretistisch" auszumalen. Das
wurde (IMHO zurecht) als Utopismus kritisiert. Jede Ausmalung ist
normativ (Benni?), je konkreter, desto normativer. Das andere Extrem ist
der völlige Verzicht auf Aussagen. Da ist mir Ebermann und Co im
Gedächtnis, die die neue Gesellschaft, so die alte erstmal gestürzt ist,
in 15 Minuten skizzieren können (was dann nicht weniger normativ wäre).

Meine Alternative ist die bewußte Verwendung von Kriterien. Kriterien
sind relativ allgemeine (möglichst nicht-normative) verdichtete
Einschätzungen oder Bestimmungen, an denen ich mein Handeln und
Nachdenken ausrichte. Die Kriterien sind stets in diesen Prozess
einbezogen, also veränderbar. Ziel ist, sie im kollektiven Prozess auf
Tauglichkeit zu überprüfen, zu verwerfen oder zu konkretisieren. Das
"Konkrete" ist dann Resultat und nicht Voraussetzung.

Und damit wären wir wieder bei Christoph Spehr: sosehr sein Konzept auch
theoretisch angreifbar ist, wenn wir es nicht hinkriegen, daß Kooperation
auf Kommunikation, d.h. auf jederzeit frei verhandelbaren Absprachen
besteht, werden emanzipative Projekte immer wieder auf den Exorzimus des
Teufels durch den Beelzebub hinauslaufen.

Freie Menschen in freien Vereinbarungen - so haben wir ja auch das
Gegenbilderbuch genannt. Aber das ist ungenau. Ich finde folgende
Bestimmungen (Kriterien) wichtig:
- gesellschaftliche Vermittlung ist Charakteristikum jeder
  Gesellschaft (sui generis)
- gesellschaftliche Vermittlung lässt sich nicht als auf das Große
  ausgedehnte unmittelbare Kooperation denken (a la Spehr)
- gesellschaftliche Vermittlung hat stets eine "dynamischen Kern",
  einen "selbstreproduktiven Fokus", ein "Auge des Hurrikans", einen
  "Attraktor" (Begriff aus der Chaostheorie) - ich weiss nicht, wie
  ich das Ding nennen soll. [Nein, Benni, nicht "Hauptwiderspruch"]. 
- dieser "dynamische Kern" - hier und heute die Verwertung von Wert
  auf stets erweiterter Stufenleiter - "schafft sich" seine
  gesellschaftliche Vermittlungsformen, die "er" für seinen Erhalt
  braucht (heisst immer: die Menschen reproduzieren sich in diesen
  Formen und reproduzieren damit gleichzeitig die Form selbst).
- was wir brauchen, ist ein "anderer dynamischer Kern", also andere
  Vermittlungsformen, in denen sich die Menschen und die Form
  reproduzieren können. [btw hat das nur sekundär mit den beliebten
  'Eigentumsverhältnissen' zu tun: VEB nutzt gar nix, wenn die
  Vermittlungsformen die gleichen bleiben - es ist aber auch nicht
  egal wie die Freie Software zeigt]

Also bin ich jetzt - Reduktion - bei der Frage, wie die neue
Kern-Dynamik aussehen kann. Wie kann eine Vermittlung - deren Witz
ja gerade darin besteht, das ich sie unmittelbar nicht mehr ändern
kann - beschaffen sein, dass sie sich nicht gegen meine Interessen
richtet? Beim Wert ist die Sache klar: Diese Dynamik basiert auf
Knappheit und Ausschluss vieler zugunsten des Einschlusses weniger.
Hier ist die Struktur so beschaffen, dass ich mich nur auf Kosten
anderer durchsetzen kann (ob ich das will oder nicht). 

Erhellend war für mich ein alter Artikel von Klaus Holzkamp von 1980:
"Individuum und Organisation" (geschrieben in der damaligen
Klassendiktion). Darin geht es um das Verhältnis von Allgemein- und
Partialinteressen. Klar wurde mir damit, dass das ausschliessliche
Denken in Partialinteressen, also der Kurzschluss, meine Interessen
seinen immer _bloss_ meine (also nicht die von wem anderes), selbst
Widerspiegelung der bürgerlichen Verhältnisse ist. Kürzer: Es ist kein
"Naturding", nix "Normales", dass eigene Interessen sich nur auf Kosten
anderer Interessen realisieren lassen. Ja, mehr noch: Das ist eigentlich
ganz und gar abstrus, dass wir uns schaden müssen, um uns durchzusetzen.
Oder individuell formuliert: Dass ich mir selbst schaden muss, um mich
zu behaupten, indem ich eine Struktur reproduziere, in der mir andere
(gleich mir) schaden. Darin liegt eine _unterhintergehbare_
Selbstfeindschaft - na gut, das ist jetzt psychologisch abgedriftet.

Der Witz der Freie Software ist nun, dass sie - so sie ihren wertfreien
Kern bewahrt - eine Idee einer anderen Vergesellschaftung gibt. Das
Prinzip dieser anderen Vergesellschaftung ist ziemlich einfach: Ich
setze mit meinem individuellem Interesse gleichzeitig die
Allgemeininteressen durch. Das geht deswegen, weil strukturell es eben
genau umgekehrt zur Verwertungslogik läuft: Wenn die anderen sich
entfalten - und coole Software und Zeugs drumherum produzieren - ist das
genau in meinem Interesse, denn ich kann deren Produkte ja nutzen. Statt
Knappheits- ein Reichtumsparadigma. Damit sind viele Handlungen
entlastet: Von meinem Tun hängt nicht mehr meine Durchsetzung ab, das
heisst, ich handle nicht mehr (sachlich) gezwungen, sondern nach meinem
Gusto - anders geht Selbstentfaltung auch nicht. Ich kann entspannt im
Besten Sinne "tun und lassen, was ich will" - und das ist tendenziell ok
für alle.

Diese eigene Entfaltung ist nun nicht widerspruchsfrei. Es gibt
Konflikte, unterschiedliche Vorstellungen etc. Diese unterschiedliche
Vorstellungen sind aber nicht sich ausschliessende Partialinteressen,
sondern parallele Allgemeininteressen der verschiedenen Menschen. Die
Parallelentwicklung von KDE und GNOME ist prinzipiell ein "paralleles
Verfolgen von Allgemeininteressen" (übrigens war auf der GNOME-Konferenz
Anfang April die Interoperabilität zwischen GNOME und KDE das
Hauptthema), während die Konkurrenz zwischen meintwegen M$ und Apple
prinzipiell ein jeweiliges "Durchsetzen von Partialinteressen" bedeutet.

Aus dem allem folgt für mich, dass ich auf meine individuelle
"Einbettung" in einer wertfreien Vergesellschaftung, von der die FS ja
nur eine Mini-Idee gibt, vertrauen kann. Ich kann auf die
Mitberücksichtigung meiner Interessen vertrauen, ich kann diese
Mitberücksichtigung meiner Interessen als Grundlage für jeweils meinen
individuellen Weg nehmen. So ein "Grundvertrauen" gibt es heute nicht.
Eingebettetheit heute braucht notwendig fetischistische Formen (Geld,
Familienbande, Sozialstaat etc.). Ich kann schon gut nachvollziehen,
warum Reformisten und Konservative nach dem Motto verfahren: "Lieber
diesen Fetischismus als gar keine Einbettung".

So wie in der FS ja nicht nur FS geschrieben wird, sondern eine ganze
Infrastruktur entstanden ist, also ein ganzes Netzwerk von notwendigen
Tätigkeiten, die erst zusammen FS ausmachen, so denke ich werden in
einer freien Gesellschaft auch Infrastrukturen funktionieren. So wie bei
der FS Leute meinetwegen eine Website zur Koordination von z.B.
irgendwelchen Übersetzungsaktivitäten machen, so wird es Leute geben,
die z.B. Güterverteilprobleme lösen. Oder sonstwas. Das bedeutet: Es
gibt keine zentrale Instanz, die die Gesellschaft plant, sondern die
Gesellschaft plant sich selbst. Wie sie das tut, können wir weder wissen
noch vorgeben.

Der "dynamische Kern" ist nun das Bedürfnis nach individueller
Entfaltung und Genuss. Das Bedürfnis kann ich umsetzen durch Teilhabe an
den gesellschaftlichen Möglichkeiten (produktiv oder reproduktiv). Sind
abstrakte Fetischformen funktionslos geworden (es gibt sie bestimmt
noch...), so bestimmt die ganze Breite menschlicher Bedürfnisse die
gesellschaftlichen Regulationsnotwendigkeiten, die ja von den je
Einzelnen eingebracht werden. Was heute indirekte
"Ausscheidungsprobleme" der wertförmigen Vergesellschaftung sind - ich
nehme mal räumlich verschobene "Ausscheidungen" wie Zerstörungsexport in
andere Regionen oder zeitlich verschobene "Ausscheidungen" wie
Zerstörungsexport in die Zukunft - sind dann direkter Teil der
Regulationsanforderungen: Liegen solche Fragen im direkten Zugriff (das
liegen sie heute nämlich nicht), dann müssten sie sozusagen "aktiv"
ausgeblendet und ignoriert werden. Was heute normal ist, müsste in einer
freien Vergesellschaftung prinzipiell gleichrangiger Bedürfnisse
"künstlich" hergestellt werden - aber auf welcher Grundlage? Im
Unterschied zu heute stünden nämlich dann endlich meintwegen das
Bedürfnis, auf zwei oder vier oder mehr Rädern durch die Landschaft
rasen zu wollen, mit dem Bedürfnis nach Erhaltung dieser Landschaft
gleichrangig nebeneinander. Da wäre ich dann schon gespannt, wie solche
Widersprüche gehandhabt werden, wenn es eben keine dinglichen
Ersatzentscheider gibt (wer das Geld hat...).

Das alles klingt wohl vielen sehr "undenkbar". Johannes, du hast in
einer anderen Mail darauf hingewiesen, dass wir in der Regel von den
heutigen allgegenwärtigen Fetischformen ausgehen. Viele universalisieren
diese Formen: die Menschen sind so. Darüber gab es auch schon eine
längere Diskussion in der Liste. Wer die Verhaltensweisen der Menschen
in der bürgerlichen Gesellschaft naturalisiert, kann mit meinen obigen
Überlegungen nix anfangen. In meiner Sicht ist das Naturalisieren jedoch
Teil genau dieser bürgerlichen Formen - eine spezifische Abwehrform, die
die Gedanken prinzipiell anderer Vergesellschaftung ausblendet. Warum?
Weil das schlicht Konsequenzen für das eigene Handeln hätte, und die
könnten richtig hart sein.

Wer sich aber auf das Denken anderer Möglichkeiten der
Vergesellschaftung einlässt, wird feststellen, das die Menschen
überhaupt nicht "nun mal so sind". Der hat dann auch Lust, sich
wissenschaftlich mit dem Thema der "Menschenbilder" zu befassen und wird
es schaffen, zwischen "dem Menschen" und "Menschen unter bürgerlichen
Verhältnissen" zu unterscheiden.

Tut mir leid, daß ich so weit ausgeholt habe, aber das konnte ich
nicht mit weniger Implikationen hinkriegen. :-)

Ja, was soll ich da sagen...;-)
Nur ein Versuch...

Ciao,
Stefan

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