Message 02443 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT02409 Message: 13/35 L2 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] notizen zur keimform



Hallo Stefan und alle anderen,

On Wed, May 09, 2001 at 11:55:09AM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
Deine sehr freundliche Formulierung mit deutlicher inhaltlicher
Kritik berührt einen Kern, den wir nicht "mal eben" diskutiert
bekommen, geschweige denn aus-. 

Ich denke aber wir sollten es mal probieren. Aber Achtung, jetzt
kommt eine lange Mail!

Das Abgehen vom historischen
Materialismus - also das Abgehen vom Begreifen geschichtlicher
Prozesse als Resultat wirklicher (materieller) Entwicklungen als
Bewegung in Widersprüchen - kippt in meiner Sicht das Kind mit dem
Bade aus. Das kann nur daher kommen, dass auch die KritikerInnen den
Kurzschluss "historischer Materialismus = Determinismus" mitmachen.
Übrig bleibt dann - wie Du auch schreibst - nur noch das Wollen, die
Ideen und die Wünsche der Menschen. Geschichte als Ideengeschichte,
eine idealistische Geschichtsauffassung, teile ich nicht (das i-Wort
ist kein Verdikt).

Tja, Materialismus gegen Idealismus. Das sind natürlich schwere
Geschütze wo ein riesen Rattenschwanz von Philosophie dranhängt. Bei
mir hat sich da mit den Jahren so ein Verständnis von "sowohl als
auch" rausgebildet.

Ich denke man kann Geschichte weder nur aus den individuellen
Wünschen und Ideen noch nur aus den materiellen Widersprüchen
auffassen. 

Soweit mach ich es mir natürlich erstmal einfach. Ich versuch aber
mal noch ein bisschen mehr zu erklären, wie ich mir das denke:

Ich hol mal etwas weiter aus. 

Exkurs: In der Philosophie des Geistes gibt es ja traditionell das
selbe Problem. Sehr bekannt unter dem Titel "Leib-Seele-Problem",
also die Frage ob die "Seele" nur Materie ist, die Materie nur Idee
oder ob es einen Dualismus zwischen Leib und Seele gibt. Darum
streiten sich die Philosophen nun seit fast 3000 Jahren und
wahrscheinlich haben die Menschen es auch schon vorher getan nur war
niemand da, der es aufgeschrieben hätte.

Ich hatte mal einen Prof, der hat dazu was für mich persönlich sehr
Erhellendes gesagt (ja, sowas gibts sogar auch ;-), nämlich dass man
das Problem so "lösen" könnte, in dem man zwar möglicherweise im
Prinzip alle Ideen, Wünsche, etc. auf Nervenerregungen zurückführen
könne und das vielleicht auch eines Tages technisch könne, dass man
damit aber die eigentliche Qualität dieser Ideen, Wünsche etc. nicht
fassen könne, weil dafür eine intentionale Sprache nötig sei,
einfach weil die Komplexität der rein materiellen Beschreibung zu
gross sei um irgendetwas Sinnvolles mit ihr zu tun. Man braucht also
qualitativ andere Begriffe und das ist für alle praktischen Belange
dann gleichbedeutend mit einer eigenen ideelen Sphäre. Oder mit
anderen Worten: es gibt einen Umschlag von Quantität zu Qualität.

Soweit dieser Exkurs. Wir sollten das hier vielleicht nicht
vertiefen, da es ja doch ein wenig vom eigentlichen Thema (nämlich
dem historischen Materialismus) ablenkt. Wer dazu noch weiter
diskutieren will, kann das ja vielleicht mit mir per privater Mail
tun. 

Wozu ich diesen Exkurs hier angeführt habe, ist, weil ich denke,
dass Geschichte ganz ähnlich funktioniert. Es gibt auch da die
materiellen Grundlagen und die Ideen und beide haben ihre
Existenzberechtigung, weil beide ihre eigenen Sprachspiele benötigen
um sie zu verstehen. Allerdings gibt es einen Unterschied: Die
Verbindung zwischen beiden besteht nicht - wie im Kopf - aus dem
Umschlag von Quantität zu Qualität sondern in der zeitlichen
Dimension. Will sagen: Im Prinzip lassen sich zwar alle
geschichtlichen Bewegungen auf materielle Ursachen zurückführen doch
entwickeln sich eben mit der Zeit auch Ideen und diese
verselbstständigen sich nicht nur in dem marxschen Sinne (modulo
mein mangelhaftes Verständnis von Marx natürlich), dass sie
der eigentlichen materiellen Bewegung im Weg stehen, sondern eben
auch in dem Sinne, das sie ihre eigene Dynamik gewinnen, die eigenen
Gesetzmäßigkeiten folgt, so dass schliesslich auch eine Rückwirkung
dieser ideelen Sphäre auf die materielle Sphäre wieder möglich ist.

Konnte mir bis hierhin noch jemand folgen? Macht das Sinn?

Vielleicht mal ein Beispiel, das jeder kennt: In der Ökologiedebatte
war ja immer viel von der Notwendigkeit eines "Umweltbewusstseins"
die Rede. Das ist natürlich ein rein ideeles Konzept. Das das
alleine nicht reicht, zeigt z.B. mal wieder Ch. Spehr sehr gut
("Ökofalle", etc...) aber auch schon einfache empirische
Untersuchungen in denen man festgestellt hat, dass faktisch die
Leute mit dem ausgeprägtesten Umweltbewusstsein die Umwelt am
meisten verschmutzen (aufgrund ihrer materiellen Situation). Aber:
Offensichtlich wird da ja schon etwas _bewirkt_. Es hat sich ja in
den letzten Jahren einiges bewegt (wenn auch natürlich nur viel zu
wenig usw, brauchen wir vielleicht jetzt auch nicht diskutieren mir
geht es nur um das erklärende Beispiel). Also obwohl
"Umweltbewusstsein" eigentlich konkret personal nicht wirkt, wirkt
es gesamtgesellschaftlich dann doch wieder irgendwie. 

Na, ich hoffe mit dem Beispiel hab ich euch jetzt nicht noch
zusätzlich verwirrt.

Was so ein Verständnis jetzt konkret bedeuten würde für unsere
Fragestellungen ist mir allerdings auch noch nicht klar. Ich glaube
aber schon, dass sich die Keimformfrage genau in diesem
Spannungsfeld bewegt und das das irgendwie wichtig ist. Und auch die
andernmails aufgeworfene Diskussion um personelle vs. strukturelle
Herrschaft (Alien vs. kybernetische Maschiene) hat irgendwie etwas
damit zu tun. Nur was?

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT02409 Message: 13/35 L2 [In index]
Message 02443 [Homepage] [Navigation]