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[ox] Die Anwendbarkeit der Wertkritik in der Informationsgesellschaft



Ich mache mal weiter bei Stefan Merten (10 Dec). Du schreibst

   > a) Sozialisierung von Wissen (allgemein geistigen Gütern?) läuft so,
   > dass sich der (aktiv verfügbare) Wissenspool der Menschheit in
   > individuellen Kompetenzen manifestiert. Wenn Kompetenzen in Zukunft
   > eine deutlich größere Rolle spielen als Waren (darüber herrscht hier
   > aber keine Einigkeit), dann muss auch deutlich mehr Gelegenheit sein,
   > individuelle Kompetenz einzubringen. (Erwerb und Reproduktion dieser
   > Kompetenz ist ein weiteres Thema, das in der Liste bisher weitgehend
   > ausgeblendet wird.)

   Zustimmung, aber es geht um beides: um den individuellen Erwerb und
   die gesellschaftliche Allokation von Wissen. Meine These ist nun,
   dass eine wertfreie Gesellschaft (say: GPL-Gesellschaft) eine
   effizientere Wissensallokation betreiben kann als der Kapitalismus,
   da Wissen nicht redundant auf Kosten jeweils des anderen (und
   abgeschirmt über Patente, Lizenzen etc.), sondern kollektiv in einem
   kumulativen Prozess geschaffen wird.

So hat Wissenschaft die meiste Zeit bisher funktioniert. Seit wann
gibt es so was wie Patente? Da ich beim Thema 'wertfrei' bekanntlich
eine deutlich andere Position beziehe, einigen wir uns auf die
Prämisse 'Prinzip Gemeineigentum an Wissen als hohes
gesellschaftliches Gut'? Darum geht es funktional. 

Zur "Fremdbestimmung": Das ist ein sehr subtiles Thema.  Rainer Thiel
(http://www.thiel-dialektik.de) hat in seinem Buch "Die
Allmähllichkeit der Revolution" angemerkt, dass der späte Marx da wohl
gar nicht mehr ran wollte, weil der Spagat zwischen Fremdbestimmung,
Zwang und Notwendigkeit ein komplizierter ist.  Insofern volle
Zustimmung, wenn Du schreibst

   Auf die Idee, dass es einen Trend zur Abschaffung von
   Fremdbestimmung gäbe, kann man nur kommen, wenn man von einer
   "personalen Fremdbestimmung" ausgeht. Doch das ist ein grosser
   Irrtum. Das verwechselt die Erscheinung, das es (immer weniger
   fassbare) Menschen sind, die andere Menschen "fremdbestimmen" mit
   dem zugrundeliegenden "kybernetischen Funktionszusammenhang", in
   dem die "Fremdbestimmer" auch nur Rädchen im Getriebe sind. Wenn
   ich als individueller freiberuflicher IT-Berater
   "selbstangestellter Arbeitskraftunternehmer" bin ("und über sich
   keinen Herrn..." - Einheitsfrontlied), dann bin ich mitnichten
   weniger fremdbestimmt als der/die Informatiker/in meinetwegen bei
   Microsoft.

Allerdings ist es interessant, von einigen Betroffenen (ein paar
Selbstständige kommen ab und zu zu unseren Veranstaltungen) zu hören,
dass sie diese "selbstbestimmte Fremdbestimmung" nicht mehr gegen was
anderes eintauschen wollen.  Auch wenn sie wie der Hamster im Rad
kreiseln und keine Zeit zum "Oekonuxen" haben.  Insofern doch _Zwang_
*und* _Motivation_ !

   > c) Es scheint eine generelle Regel zu sein, dass komplexe Systeme nach
   > einer Initialisierungs- und einer exponentiellen Wachstumsphase in
   > einen reiferen Zustand eintreten, .... 

   Solche Analogien sind mit grosser Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen.
   Da stecken so viele Abstraktionen drin, die von den inhaltlichen
   Qualitäten des sich bewegenden (hier: gesellschaftlich-historischen)
   Prozeses nicht mehr viel übrig lassen. Damit bewegt man außerdem
   nichts. Kann so sein, oder auch nicht - es macht jedenfalls nicht
   handlungsfähiger.

Na ja, wenn ich für Gedanken, auf die ich auf anderem Wege gekommen
bin, eine stringente Begründung aus einer solchen allgemeinen
Perspektive bekomme, dann fühle ich mich schon bestätigt.  Und
Kondratjewsche Wellen oder gar die Noosphärentheorie spielen in
Diskursen, die ich kenne, leider überhaupt keine Rolle.  Ich habe
gerade in Klix, Lanius: "Die Wege und Irrwege der Menschenartigen"
(ein Psychologe und ein Hochenergiephysiker) über 10 000 Jahre
Umbrüche in der Menschheitsgeschichte gelesen.  Das ist schon sehr
interessant.

   > 2. Gleichzeitig geht es darum, Wirkzusammenhänge gestaltbar zu
   > machen, die den kausalen Horizont solch intrinsischer Motivation
   > weit übersteigen.  ... Selbstentfaltung muss also ihre Ergänzung
   > finden in neuen Formen kollektiven und kooperativen Vorgehens.

   Ja, unbedingt, doch nicht bloss als Ergänzung, sondern als
   notwendiger Zusammenhang. Deswegen nenne ich als die vier wichtigen
   Aspekte Freier Software, die in einer Freien Gesellschaft
   verallgemeinerbar wären: individuelle Selbstentfaltung, kollektive
   Selbstorganisation, globale Vernetzung und Wertfreiheit. 

Allerdings muss es dabei auch Mechanismen geben, Leute von Dingen
abzuhalten, die Schaden stiften, ohne dass sie das selbst sehen.
Kooperatives und kollektives Vorgehen in einem solchen Sinne hat auch
eine fremdbestimmende Wirkungskomponente. Siehe unsere
Emanzipationsthesen. 

   Geld ist nicht gleich Geld - es kommt immer auf seine Funktion im
   gesellschaftlichen Gesamt an. ... 

   Die heutige wichtige kulturelle Erfindung bestünde darin, das Geld
   obsolet werden zu lassen (und mit ihm den selbstzweckhaften
   kybernetischen Vermehrungsmechanismus) - weil es eben gerade nicht
   mehr "gewisse Wirkzusammenhänge (im Wesentlichen das
   Aufwand-Nutzen-Verhältnis der produktiven Arbeit)"
   operationalisieren kann, jedenfalls nicht nach
   gesamtgesellschaftlich-globalen Kriterien. Die
   Operationalisierungslogik des Geldes ist immer die des einzelnen
   Kapitals, nicht die der gesamten, globalen Wirtschaft der
   Menschheit. Die G-W-G'-Spirale ist eine Todesspirale.

_Das_ Geld kann das sicher nicht. Aber vielleicht geht es _mit_ Geld,
das wieder in eine Mittlerrolle zurückgedrängt werden kann, also
wieder Mittel zum Zweck wird. Wie gesagt, über die Rolle und
Notwendigkeit von "Buchführung" sind wir sehr unterschiedlicher
Meinung.  Übrigens enthält Grassmucks Aufsatz, auf den Du (?) vor
einiger Zeit hingewiesen hast, ein paar nette Beispiele, wie FS gerade
diese Mechanismen ausnutzt und trotzdem ihren Prinzipien treu bleibt.
Also "Versklavung" der alten Prinzipien, wie die Systemtheoretiker
sagen.  Allerdings ist der Ausgang des Unternehmens ungewiß (was
andererseits einen Dialektiker ja eigentlich freuen sollte).

   > Lies Bulgakow, ein glänzender Chronist des Rußlands der 20er
   > Jahre, also lange vor der vollen Entfaltung des Stalinschen
   > Regimes, wohin reine "Selbstentfaltung",

   In der Stalinschen (und auch nachfolgenden) Sowjetunion ging es
   _niemals_ um die Selbstentfaltung

So? Ich weiß nicht, ob Du mal was von Ilf/Petrow, Soschtschenko oder
eben Bulgakow (z.B. Doktor Shiwago) über die 20er Jahre und die Zeit
der NÖP gelesen hast.  Es waren goldene Jahre für "clevere" Leute.
Natürlich "Selbstentfaltung" auf Kosten anderer und ein brisantes
Gemisch von "Cleverness" und Dummheit. Das ist wesentlich
differenzierter gelaufen als bei Kurz beschrieben. Der hat die
grundsätzliche Entwicklung sehr richtig charakterisiert (und zwar
besser als alles andere, was ich dazu gelesen habe). Aber wir wollen
ja über Keime reden und die gab es in jenem Substrat eben auch.  Und
die Wirkung ging oft nach hinten los. Die Fehler brauchen wir ja heute
nicht unbedingt zu wiederholen.

   Selbstentfaltung ist ein gesellschaftliches Verhältnis (nämlich von
   Bedingungen und Möglichkeiten), ok, aber ich bestehe drauf: Es geht
   um _individuelle_ Selbstentfaltung. 

Wenn sie ein gesellschaftliches Verhältnis ist, dann hat das Adjektiv
'individuell' keinen Sinn. Ein Verhältnis ist immer eine Beziehung
zwischen zwei Polen. Hier zwischen Individuum und Gesellschaft, vor
allem deren politischem Teil. Gesellschaftliche Rahmen müssen die
rechtlichen und materiellen Bedingungen für die notwendigen
individuellen Freiräume sichern (Herausforderung) und können dann auch
erwarten, dass diese Freiräume verantwortlich genutzt werden
(Anspruch).  Individuen können die Freiräume einfordern (Anspruch),
aber müssen auch die notwendige Selbstkompetenz reproduzieren, diese
auszufüllen (Herausforderung).  Von dieser nachgewiesenen Kompetenz
hängt die Größe des Freiraums ab.  Also jede(r) so was wie ein kleiner
Professor, was ja in einer Kompetenzgesellschaft mehr als natürlich
ist. 

Und dann hieß es in der These noch "Die hauptsächliche
gesellschaftliche Herausforderung besteht in der Schaffung von
... Bedingungen, unter denen sich Kompetenz eigenverantwortlich
reproduzieren und weiter entwickeln lässt."  Davon ist das 'Prinzip
Gemeineigentum Wissen' nur ein Aspekt.

-- 
Mit freundlichen Grüßen, Hans-Gert Gräbe

_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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