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Re: [ox] Kritik



Hallo Stefan,

du schriebst:

Und klar, die technische Ausstattung muß da sein, wird aber immerhin
 ständig billiger - zumindest bezogen auf die Leistung.

Schon richtig, aber heißt selbst hierzulande bisher bei weitem nicht, dass 
sich jedeR das leisten kann, und im Weltmaßstab können es sich die 
allermeisten auch auf absehbare Zeit nicht leisten.
 
 Unsere Argumentation geht dahin, daß die Bedeutung des materiellen
 Anteils an der Produktion materieller Güter immer stärker abnimmt -
 was denke ich schon in der kapitalistischen Produktion mit ihrer immer
 stärkeren (informationsgetriebenen) Automation gut zu sehen ist. Mit
 der obigen Tendenz zusammengenommen ergibt sich daraus, daß auch die
 Produktion materieller Güter immer stärker den "Gesetzen" der
 Informationsproduktion und -nutzung unterliegt.
 
 Das ist nach dem momentanen Diskussionsstand die Basis für unsere
 Argumentation, daß die GPL-Gesellschaft sich auch auf materielle Güter
 erstrecken kann.

Und genau das halte ich für überzogen und illusionär, und zwar in mehrfacher 
Hinsicht: 

1. geht zwar das für die materielle Warenproduktion hierzulande aufgewendete 
Erwerbsarbeitsvolumen zurück, aber nur langsam und ohne dass sich das Tempo 
des Rückgangs tendenziell beschleunigt. Im Bezug auf die Erwerbstätigen nach 
Sektoren waren 1995 im primären + sekundären Sektor immer noch 38,4% aller 
Erwerbstätigen, und 2010 werden es wahrscheinlich immer noch über 30% sein. 
In Bezug auf die Tätigkeiten ergibt eine empirisch fundierte Prognose des IAB 
für 2010 einen Anteil der Bereiche Maschinen einrichten/einstellen + 
Gewinnen/Herstellen +Reparieren von 28,4% in 2010 (2000: 29,6%, 1991: 29,8%). 
In Volumen und Preissumme steigt die Produktion in all diesen Bereichen 
weiter an. Von weitgehender Vollautomatisierung ist hier selbst mit der 
Perspektive von mehreren Jahrzehnten weit und weit nichts zu sehen. 

2. sind die Dienstleistungen bei weiten nicht nur informationsverarbeitender 
oder warenzirkulierender Natur (und selbst diese selbstverständlich 
keineswegs abnehmend, sondern zunehmend in ihrem Arbeitsaufwand), sondern in 
weitem Umfang personenbezogener Natur (Betreuen, Beraten, Lehren) oder 
allgemeine Dienste wie Reinigung, Transport, Sicherung etc. Deren Anteil wird 
nach og. Prognose 2010 zusammen weitere ca. 27,9% betragen (2000: 28,4%, 
1991: 29,7%)

Das sind nicht nur Prozentanteile an insgesamt immer kleiner werdender 
Erwerbstätigenzahl, sondern ich halte die gängigen Prognosen, dass die 
Erwerbstätigenzahl in Deutschland trendmäßig stabil bleiben wird im Bereich 
30 Mio. für weit realistischer als irgendwelche Szenarien vom "Ende der 
Arbeitsgesellschaft". Das ist keine Frage der Phantasie oder ob man das gut 
oder schlecht findet, sondern ernsthafter, theoretisch und empirisch 
begründeter ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Einschätzung und 
Prognose. Der nächste Kriseneinbruch mag das in und für einige Jahre um 
vielleicht 2 Mio. nach unten drücken, ändert aber nichts Grundsätzliches. 
Dabei sind in diesen Prognosen die absehbaren Wirkungen der weiteren 
Entwicklung und Verbreitung der I+K-Technologien durchaus berücksichtigt. Die 
Erwartung bisher noch völlig unabsehbarer Produktivitätsrevolutionen scheint 
mir sehr aus der Luft gegriffen und unrealistisch. Übrigens, da gleichzeitig 
selbst bei verstärkter Einwanderung das Erwerbspersonenpotential hierzulande 
in den nächsten Jahrzehnten, spätestens ab ca. 2010 oder 2015, tendenziell um 
mehrere Mio. zurückgehen wird, ist auch die Erwartung tendenziell sinkender 
Arbeitslosigkeit (durchaus aber weiter erheblicher) ungeachtet 
vorübergehenden zyklischen Ansteigens eine keineswegs absurde, sondern 
ziemlich realistische Erwartung. 

Das gilt natürlich alles nur, wenn man nicht den ökonomischen Kollaps des 
kapitalistischen Systems erwartet. Ich halte zwar durchaus für möglich, dass 
es auch wieder schwerere Weltwirtschaftskrisen geben wird mit dann doch 
wieder deutlich höherer Arbeitslosigkeit, aber ich halte jede Wette (sagen 
wir einzulösen in 2030, zur Aufbesserung meiner Rente?), dass der 
Kapitalismus das überleben wird (wenn er nicht politisch überwunden wird, was 
leider auch eher unwahrscheinlich ist).

3. Im Weltmaßstab betrachtet steigt die Zahl der in der materiellen 
Warenproduktion Erwerbstätigen und das Arbeitsvolumen dort massiv an, z.T. 
auch im Zuge von Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung, die bisher 
in den Metropolen geleistete Produktion in weniger entwickelte Länder 
verschiebt.
   
 Das diskutieren wir so, daß hier die Produktivkraftentwicklung
 beginnt, die Fessel des Überbaus Kapitalismus zu sprengen.
 
Kapitalismus ist nicht Überbau, sondern Produktionsverhältnisse gehören im 
traditionellen Verständnis zur "Basis", aber sonst einverstanden.

 > Daran kann antikapitalistische Bewegung anknüpfen.
 
 Das ist m.E. der falsche Zungenschlag. Für mich findet diese Bewegung
 bereits im System statt - als Keimform eben. Da finde ich es falsch,
 eine Bewegung von außer herbeizukonstruieren, die daran anknüpft.

Ich denke auch, dass diese Bewegung bereits stattfindet. Allerdings denke ich 
dabei nicht in erster Linie an Oekonux, sondern ganz traditionell an die 
diversen Formen dieser Bewegung in Gewerkschaften, Politik, Wissenschaften, 
Kultur etc.
 
 > Die ProduzentInnen und NutzerInnen 
 > Freier Software umgehen diese Beschränkung von vornherein
 
 "Umgehen" finde ich trifft es nicht richtig. Ich fand den Begriff
 "Unterlaufen" treffender. Umgehen würde eher auf Raubkopieren
 zutreffen.

Einverstanden.

 > Insoweit haben sie eine ähnliche Rolle wie es in der 
 > Geschichte der Linken Genossenschafts- und andere Gemeinwirtschafts- 
oder 
 > selbstverwaltete Projekte und zu Beginn sogar die Sowjetunion als  
realisierte 
 > Alternative zum Kapitalismus hatten.
 
 Das würde ich nicht ganz so sehen, da - zumindest bei Oekonux - ja die
 Überwindung der arbeitsgesellschaftlichen, tauschbasierten Form an
 sich im Vordergrund steht. Das ist bei den von dir genannten Ansätzen
 ja zumindest in der Praxis nicht so gewesen.
 
Das macht aber eher eine größere Realisierbarkeit als gesamtgesellschaftliche 
Alternative aus als ein Problem.

 > Allerdings, und das ist wieder ein 
 > Unterschied, auf dem modernsten Sektor der Produktivkraftentwicklung und 
 > ohne viele der Probleme der genannten Beispiele.
 
 Na, die Sowjetunion war schon ein Modernisierungsregime auf dem
 damaligen Niveau der Produktivkraftentwicklung. Allerdings ist der
 Ansatz leider immer immanent arbeitsgesellschaftlich geblieben. Meine
 Analyse im Lichte unserer heutigen Debatte: Die hatten noch nicht die
 nötigen Produktivkräfte - weil es die noch nicht gab.

Das Problem war aber eher, dass die Produktionsverhältnisse des 
Realsozialismus nicht geeignet waren, diese Produktivkräfte zu entwickeln, 
jedenfalls bei weitem nicht so schnell wie im Kapitalismus.
  
 > Aber m.E. ebenso wenig wie diese 
 > mit der Potenz, aus der Dynamik ihrer eigenen Entwicklung und 
 > Beispielhaftigkeit heraus den Nieder- und Untergang  des Kapitalismus 
 > herbeizuführen.
 
 Dazu mal was Endgültiges von meiner Seite: Es ist nicht ausgemacht,
 daß der Kapitalismus verschwindet - oder vorher die Menschheit. Wer
 solches behauptet kann vielleicht eine Karriere als HellseherIn
 anstreben. Aber zumindest seit 20 Jahren ist einfach nicht mehr in
 Sicht, daß es dem Kapitalismus mal wieder so richtig gut geht und er
 in der Lage ist seine eigenen Heilsversprechen einzulösen und wir z.B.
 mal wieder Vollbeschäftigung mit lauter Normalarbeitsplätzen haben.
 
Na ja, ich denke schon, dass es Sinn macht, darüber zu diskutieren, wie 
fundiert und realistisch Erwartungen sind, und meine habe ich dargestellt. 
Außerdem denke ich, dass die Menschheit auch im und den Kapitalismus 
überleben wird, Frage ist eher, wie es der Mehrheit der Menschen dabei geht.

 Und BTW: Was wir hier diskutieren *braucht* den Nieder- oder Untergang
 des Kapitalismus nicht als Voraussetzung - das ist ja leicht zu sehen.
 
Freie Software als solche braucht das nicht, aber "GLP-Gesellschaft" bräuchte 
das schon.

 Wenn du dich aber wirklich auf
 die Idee des Epochenbruchs einläßt, dann wirst du zustimmen müssen,
 daß zu vielem prinzipiell keine Erfahrungen vorliegen können.

Schon richtig, aber wie weitreichend dieser Epochenbruch ist und in welchen 
Zeiträumen, ist m.E. noch offen. Andererseits habe ich relativ m.E. gut 
begründete Einschätzungen bzgl. der Flexibilität des Kapitalismus. So gern es 
mir leid tut.

Herzliche Grüße

Ralf Krämer
Fresienstr. 26
44289 Dortmund
Tel. 0231-3953843
Fax 0231-3953844

_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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