Re: [ox] Kritik
- From: RalfKrae aol.com
- Date: Sun, 19 Nov 2000 07:11:03 EST
Hallo Stefan,
du schriebst:
Und klar, die technische Ausstattung muß da sein, wird aber immerhin
ständig billiger - zumindest bezogen auf die Leistung.
Schon richtig, aber heißt selbst hierzulande bisher bei weitem nicht, dass
sich jedeR das leisten kann, und im Weltmaßstab können es sich die
allermeisten auch auf absehbare Zeit nicht leisten.
Unsere Argumentation geht dahin, daß die Bedeutung des materiellen
Anteils an der Produktion materieller Güter immer stärker abnimmt -
was denke ich schon in der kapitalistischen Produktion mit ihrer immer
stärkeren (informationsgetriebenen) Automation gut zu sehen ist. Mit
der obigen Tendenz zusammengenommen ergibt sich daraus, daß auch die
Produktion materieller Güter immer stärker den "Gesetzen" der
Informationsproduktion und -nutzung unterliegt.
Das ist nach dem momentanen Diskussionsstand die Basis für unsere
Argumentation, daß die GPL-Gesellschaft sich auch auf materielle Güter
erstrecken kann.
Und genau das halte ich für überzogen und illusionär, und zwar in mehrfacher
Hinsicht:
1. geht zwar das für die materielle Warenproduktion hierzulande aufgewendete
Erwerbsarbeitsvolumen zurück, aber nur langsam und ohne dass sich das Tempo
des Rückgangs tendenziell beschleunigt. Im Bezug auf die Erwerbstätigen nach
Sektoren waren 1995 im primären + sekundären Sektor immer noch 38,4% aller
Erwerbstätigen, und 2010 werden es wahrscheinlich immer noch über 30% sein.
In Bezug auf die Tätigkeiten ergibt eine empirisch fundierte Prognose des IAB
für 2010 einen Anteil der Bereiche Maschinen einrichten/einstellen +
Gewinnen/Herstellen +Reparieren von 28,4% in 2010 (2000: 29,6%, 1991: 29,8%).
In Volumen und Preissumme steigt die Produktion in all diesen Bereichen
weiter an. Von weitgehender Vollautomatisierung ist hier selbst mit der
Perspektive von mehreren Jahrzehnten weit und weit nichts zu sehen.
2. sind die Dienstleistungen bei weiten nicht nur informationsverarbeitender
oder warenzirkulierender Natur (und selbst diese selbstverständlich
keineswegs abnehmend, sondern zunehmend in ihrem Arbeitsaufwand), sondern in
weitem Umfang personenbezogener Natur (Betreuen, Beraten, Lehren) oder
allgemeine Dienste wie Reinigung, Transport, Sicherung etc. Deren Anteil wird
nach og. Prognose 2010 zusammen weitere ca. 27,9% betragen (2000: 28,4%,
1991: 29,7%)
Das sind nicht nur Prozentanteile an insgesamt immer kleiner werdender
Erwerbstätigenzahl, sondern ich halte die gängigen Prognosen, dass die
Erwerbstätigenzahl in Deutschland trendmäßig stabil bleiben wird im Bereich
30 Mio. für weit realistischer als irgendwelche Szenarien vom "Ende der
Arbeitsgesellschaft". Das ist keine Frage der Phantasie oder ob man das gut
oder schlecht findet, sondern ernsthafter, theoretisch und empirisch
begründeter ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Einschätzung und
Prognose. Der nächste Kriseneinbruch mag das in und für einige Jahre um
vielleicht 2 Mio. nach unten drücken, ändert aber nichts Grundsätzliches.
Dabei sind in diesen Prognosen die absehbaren Wirkungen der weiteren
Entwicklung und Verbreitung der I+K-Technologien durchaus berücksichtigt. Die
Erwartung bisher noch völlig unabsehbarer Produktivitätsrevolutionen scheint
mir sehr aus der Luft gegriffen und unrealistisch. Übrigens, da gleichzeitig
selbst bei verstärkter Einwanderung das Erwerbspersonenpotential hierzulande
in den nächsten Jahrzehnten, spätestens ab ca. 2010 oder 2015, tendenziell um
mehrere Mio. zurückgehen wird, ist auch die Erwartung tendenziell sinkender
Arbeitslosigkeit (durchaus aber weiter erheblicher) ungeachtet
vorübergehenden zyklischen Ansteigens eine keineswegs absurde, sondern
ziemlich realistische Erwartung.
Das gilt natürlich alles nur, wenn man nicht den ökonomischen Kollaps des
kapitalistischen Systems erwartet. Ich halte zwar durchaus für möglich, dass
es auch wieder schwerere Weltwirtschaftskrisen geben wird mit dann doch
wieder deutlich höherer Arbeitslosigkeit, aber ich halte jede Wette (sagen
wir einzulösen in 2030, zur Aufbesserung meiner Rente?), dass der
Kapitalismus das überleben wird (wenn er nicht politisch überwunden wird, was
leider auch eher unwahrscheinlich ist).
3. Im Weltmaßstab betrachtet steigt die Zahl der in der materiellen
Warenproduktion Erwerbstätigen und das Arbeitsvolumen dort massiv an, z.T.
auch im Zuge von Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung, die bisher
in den Metropolen geleistete Produktion in weniger entwickelte Länder
verschiebt.
Das diskutieren wir so, daß hier die Produktivkraftentwicklung
beginnt, die Fessel des Überbaus Kapitalismus zu sprengen.
Kapitalismus ist nicht Überbau, sondern Produktionsverhältnisse gehören im
traditionellen Verständnis zur "Basis", aber sonst einverstanden.
> Daran kann antikapitalistische Bewegung anknüpfen.
Das ist m.E. der falsche Zungenschlag. Für mich findet diese Bewegung
bereits im System statt - als Keimform eben. Da finde ich es falsch,
eine Bewegung von außer herbeizukonstruieren, die daran anknüpft.
Ich denke auch, dass diese Bewegung bereits stattfindet. Allerdings denke ich
dabei nicht in erster Linie an Oekonux, sondern ganz traditionell an die
diversen Formen dieser Bewegung in Gewerkschaften, Politik, Wissenschaften,
Kultur etc.
> Die ProduzentInnen und NutzerInnen
> Freier Software umgehen diese Beschränkung von vornherein
"Umgehen" finde ich trifft es nicht richtig. Ich fand den Begriff
"Unterlaufen" treffender. Umgehen würde eher auf Raubkopieren
zutreffen.
Einverstanden.
> Insoweit haben sie eine ähnliche Rolle wie es in der
> Geschichte der Linken Genossenschafts- und andere Gemeinwirtschafts-
oder
> selbstverwaltete Projekte und zu Beginn sogar die Sowjetunion als
realisierte
> Alternative zum Kapitalismus hatten.
Das würde ich nicht ganz so sehen, da - zumindest bei Oekonux - ja die
Überwindung der arbeitsgesellschaftlichen, tauschbasierten Form an
sich im Vordergrund steht. Das ist bei den von dir genannten Ansätzen
ja zumindest in der Praxis nicht so gewesen.
Das macht aber eher eine größere Realisierbarkeit als gesamtgesellschaftliche
Alternative aus als ein Problem.
> Allerdings, und das ist wieder ein
> Unterschied, auf dem modernsten Sektor der Produktivkraftentwicklung und
> ohne viele der Probleme der genannten Beispiele.
Na, die Sowjetunion war schon ein Modernisierungsregime auf dem
damaligen Niveau der Produktivkraftentwicklung. Allerdings ist der
Ansatz leider immer immanent arbeitsgesellschaftlich geblieben. Meine
Analyse im Lichte unserer heutigen Debatte: Die hatten noch nicht die
nötigen Produktivkräfte - weil es die noch nicht gab.
Das Problem war aber eher, dass die Produktionsverhältnisse des
Realsozialismus nicht geeignet waren, diese Produktivkräfte zu entwickeln,
jedenfalls bei weitem nicht so schnell wie im Kapitalismus.
> Aber m.E. ebenso wenig wie diese
> mit der Potenz, aus der Dynamik ihrer eigenen Entwicklung und
> Beispielhaftigkeit heraus den Nieder- und Untergang des Kapitalismus
> herbeizuführen.
Dazu mal was Endgültiges von meiner Seite: Es ist nicht ausgemacht,
daß der Kapitalismus verschwindet - oder vorher die Menschheit. Wer
solches behauptet kann vielleicht eine Karriere als HellseherIn
anstreben. Aber zumindest seit 20 Jahren ist einfach nicht mehr in
Sicht, daß es dem Kapitalismus mal wieder so richtig gut geht und er
in der Lage ist seine eigenen Heilsversprechen einzulösen und wir z.B.
mal wieder Vollbeschäftigung mit lauter Normalarbeitsplätzen haben.
Na ja, ich denke schon, dass es Sinn macht, darüber zu diskutieren, wie
fundiert und realistisch Erwartungen sind, und meine habe ich dargestellt.
Außerdem denke ich, dass die Menschheit auch im und den Kapitalismus
überleben wird, Frage ist eher, wie es der Mehrheit der Menschen dabei geht.
Und BTW: Was wir hier diskutieren *braucht* den Nieder- oder Untergang
des Kapitalismus nicht als Voraussetzung - das ist ja leicht zu sehen.
Freie Software als solche braucht das nicht, aber "GLP-Gesellschaft" bräuchte
das schon.
Wenn du dich aber wirklich auf
die Idee des Epochenbruchs einläßt, dann wirst du zustimmen müssen,
daß zu vielem prinzipiell keine Erfahrungen vorliegen können.
Schon richtig, aber wie weitreichend dieser Epochenbruch ist und in welchen
Zeiträumen, ist m.E. noch offen. Andererseits habe ich relativ m.E. gut
begründete Einschätzungen bzgl. der Flexibilität des Kapitalismus. So gern es
mir leid tut.
Herzliche Grüße
Ralf Krämer
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