[ox] Begriff Moeglichkeit (was: Re: das Wesen des Menschen)
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Wed, 25 Oct 2000 23:35:50 +0200
Hi ihr,
jetzt wird's arg speziell.
graebe informatik.uni-leipzig.de schrieb:
der zentrale Punkt unseres Disputs ist ein genaueres Verständnis der
These
Gesellschaft bildet sich durch die arbeitsteilige Reproduktion, bei
der NICHT MEHR JEDE/r EINZELNE ZU JEDEM ZEITPUNKT AN DER
REPRODUKTIONSARBEIT BETEILIGT SEIN MUSS.
insbesondere des Begriffs REPRODUKTIONSARBEIT in diesem Zusammenhang.
Da habt ihr bisher nichts zur Präzisierung beigetragen. Reproduktion
wovon also? Von Gesellschaftlichkeit? Des Individuums? Von
Sozialstrukturen? Technik? Technologien? Kultur?
Es geht hier um die Gesellschaft. Also: Produktion und Reproduktion
des _gesellschaftlichen_ Lebens. Umfassend und historisch
spezifisch.
Davon schreibt Annette auch nicht. Sie schreibt von Überwindung der
Unmittelbarkeit. Nicht unmittelbar in (Re-)Produktion eingebunden
zu sein, impliziert allerdings auch die grundsätzliche
_Möglichkeit_ des "Ausstiegs".
Die von mir genannten Items sind von sehr unterschiedlicher
"Unmittelbarkeit", so dass ich mit dieser Antwort nicht viel mehr
anfangen kann als dass sie einen _Trend_ benennt, aber der
Verschiebung von Schwerpunkten der Reproduktion, nicht von Ausstieg
aus derselben.
Der wichtige Unterschied ist hier: individuell und durchschnittlich.
Individuell muss ich mich mitnichten an der gesellschaftlichen
Produktion und Reproduktion beteiligen, durchschnittlich müssen dies
die Menschen sehrwohl schon. Dieser Unterschied macht die
individuelle Möglichkeitsbeziehung zur gesellschaftlichen Realität
aus: Ich kann so, aber auch anders handeln - grundsätzlich und
immer. Ich kann eben auch die o.g. Beteiligung völlig unterlassen.
Annette zitiert und schreibt weiter
Dies erzeugt für Menschen einerseits eine neue Systemebene
(eben "Gesellschaft" statt nur soziale "Gemeinschaft") - die
für den Einzelnen aber mehr Freiraum (sich nicht - zumindest
nicht immer und unmittelbar - an der Reproduktion zu
beteiligen) mit sich bringt. (NN)
Zustimmung, obwohl das mE nichts mit Ausstieg aus der
Reproduktion zu tun hat. (Gräbe)
Nein, noch nicht unbedingt. Aber es kennzeichnet ein Stückchen
Freiheit, das wir oft übersehen. Eben: "Nein" zu den Verhältnissen
zu sagen. (Schlemm)
Dann pochen sie Dir aber sehr schnell mehr oder weniger unsanft und
nachhaltig auf die Finger
Ja, so ist das, na und?! Das ändert nichts an der Aussage.
und ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders geht.
Keine Vorstellung jenseits von Zwang? Schade.
Präziser: dass "Freiheit" als Freiraum einer expliziten,
impliziten oder wie auch immer gearteten gesellschaftlichen
Vereinbarung bedarf.
Oh nein, bloss nicht. Dann hätte es dies freie Softwarebewegung nie
gegeben. Die individuelle Selbstentfaltung als praktische
Realisierung menschlicher Möglichkeiten ist an keine Vereinbarung
gebunden (es sei denn man betrachtet sie als "praktische
Vereinbarung").
Die Kategorie "Möglichkeit" ...
Spannende These. Wir hatten neulich hier in der
Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Diskussion zum Buch von V. Weiss "Die
IQ-Falle", der aus statistischen Untersuchungen klare Indizien für
genetische Faktoren bei Intelligenzunterschieden herausliest und
daraus ein ziemlich ambivalentes Weltbild konstruiert, das die
Verantwortlichen schließlich sogar bewogen hatte, ihn wieder
auszuladen. Statt dessen bestritten Friedrich und Mehlhorn, zwei
DDR-bekannte Intelligenzforscher aus dem ehemaligen ZIJ, die
Diskussion. Mehlhorn arbeitet schon lange mit Vor- und
Grundschulkindern in dieser Richtung und betonte aus eigenen
Untersuchungen, dass neben evtl. vorhandenen genetischen
Prädispositionen die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten,
besonders bis etwa 12 Jahre, eine mindestens ebenso entscheidende
Rolle spielen. Deckt sich mit Deinem Verständnis von "Möglichkeiten".
"Intelligenzforschung" halte ich für ziemlichen Humbug, da gabs die
deutsche Einheit schon vor der Einheit. "Intelligenz" ist ein
Mythos, ein Fetisch, ein ideologisches Konstrukt. Aber ich will
jetzt keine Intelligenzdiskussion aufmachen, ich bin ja schon ruhig
und ärgere mich nur noch ganz leise.
Vielleicht habe ich auch deswegen eine leicht andere Auffassung von
"Möglichkeit" als Annette.
Gerade die modernere Biologie betont neuerdings die aktive Rolle
der Organismen bei ihrer Evolution immer wieder. Tierarten und
Organismen sind nicht nur passive Objekte, denen die Umwelt alles
aufprägt... Die Gentechniker (und leider wir mit) werden da noch
ihr blaues Wunder erleben, auch auf dieser Schiene ist nicht alles
so determiniert, wie es die Lego-Genetiker sich wünschen...
Eben. Stefan schreibt dann noch
Tierische Aktivitäten sind vollständig determiniert (was Lernen,
Emotionen und Motivationen nicht ausschliesst, das Denken aber
schon).
Jedenfalls leben sie in einem ähnlichen Möglichkeitsraum wie wir
Menschen, insofern ist "vollständig determiniert" in dem Lichte
Quatsch.
Das scheint so, denn das "Licht" ist falsch. Annette, du schliesst
"Aktivität" und "Möglichkeit" kurz und Hans-Gert fällt drauf rein.
Natürlich sind Organismen keine "passiven Objekte, denen die Umwelt
alles aufprägt". Dennoch ist der Organismus-Umwelt-Zusammenhang ein
deterministischer. Das ist doch kein Widerspruch. Tiere haben keinen
Möglichkeitsraum - das hat Annette am Ausgang dieser Debatte klar
dargestellt. Der Möglichkeitsraum, also die Möglichkeit, so oder
anders oder gar nicht zu handeln, kam erst mit den Menschen auf die
Welt. Das war ein evolutionärer Qualitätssprung.
Auch für die Phylogenese (die Evolution) ist der Begriff
"Möglichkeit" völlig unangebracht (und ich kann trotzdem die Frage,
ob die Evolution _so_ ablaufen musste, verneinen. Aber sie _ist_
nunmal so abgelaufen). Über so den Satz "Gerade die modernere
Biologie betont neuerdings die aktive Rolle der Organismen bei ihrer
Evolution immer wieder." musste ich lachen und dachte: Kaum
vorstellbar, aber die Biologie hatte es offensichtlich mal
geschafft, von den "aktiven Organismen" zu abstrahieren. Jetzt haben
sie sie entdeckt, was für ein Fortschritt.
Ciao,
Stefan
--
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