[ox] Wesen et al.
- From: sabine.nuss freenet.de
- Date: Sun, 15 Oct 2000 16:48:19 +0200
Hallo Listige,
da ist ja eine Lawine im Gange...es ist nun mühsam, auf die
gegenseitig vor die Füsse geworfenen Brocken nochmal im Detail
einzugehen. Die Grundproblematik zieht sich durch und daher
möchte ich lieber noch ein weiteres mal mehr prinzipiell
rummeckern, statt einzelne Argumente unter die Lupe zu nehmen.
Warum? Weil: Mich erinnert das ganze ein wenig an Thomas
Kuhn, jener Physiker, der den Begriff des Paradigmenwechsels
geprägt hat und der von den Sozialwissenschaftlern für ihre Zwecke
dankbar aufgenommen wurde (Kuhn hatte ausschließlich die
Geschichte der Physik untersucht !!! Wird gern unterschlagen.).
Ein Paradigma ist danach eine Art Weltbild, gespickt mit einer
Reihe von Prämissen und Voraussetzungen, die aber nicht mehr
hinterfragt sind, sondern stillschweigend den "Filter" bilden, mit der
die Welt begriffen und analysiert wird. Dabei spielt auch die
Sprache ihre Rolle. Es werden in den verschiedenen Paradigmen
nämlich durchaus die gleichen Vokabeln benutzt, aber mit sehr
unterschiedlichen Konnotationen und Inhalten. Wenn zwei
unterschiedliche Paradigmen aufeinander treffen, wird jeder von
sich aus in gutem Glauben denken, er habe recht, ein
Zusammenkommen gibt es aber nicht. Es gibt nur die Möglichkeit,
irgendwann zu wechseln, von der einen auf die andere Seite
("Paradigmenwechsel"). Dies geschieht aber nicht durch Einsicht,
sondern durch "Überredung". Das war nun wirklich die Kurzform,
ich will das nun nicht weiter ausführen. Ich erwähne es hier, weil
ich das Gefühl habe, auch hier stossen Paradigmen aufeinander,
bei denen grundsätzlich unterschiedliche Voraussetzungen
stillschweigend einfließen und entgegen Kuhn (nochmal: der
sprach auch nur von Physikgeschichte) würde ich hoffen wollen, es
könnte durchaus eine Chance zur Auflösung der widerstreitenden
Welten geben, wenn man versuchen würde, erst einmal diese
Prämissen zu identifizieren, statt auf der Basis eines
unhinterfragten Welt- und Menschenbildes entsprechende davon
abhängige Argumente auszutauschen. Es macht die Sache nicht
durchsichtiger, wenn Argumente wiederholt werden, in immer
anderen Worten, ohne drauf zu gucken, woher sie kommen.
Ich hatte ja schon versucht, grundsätzlicher an das "Paradigma"
ranzugehen, indem ich die Sache mit dem Wesen des Menschen
angeführt habe, und wie man zu solchen Annahmen eines Wesen
des Menschen überhaupt kommt. Ist mir ja leider nicht ganz
gelungen, Hartmut, dich zu überzeugen ;-) - aber ich würde dann
halt gerne da weitermachen und genau an diesem Punkt bleiben,
nirgendwo anders hin. Also, nochmal, okay?
"nihil humanum mihi alienum est - nichts menschliches ist mir
fremd" - das war das Zitat, welches nett umschreiben sollte, dass
es halt doch irgendwie über die Epochen hinweg Gemeinsamkeiten
zwischen Menschen gibt. Es hätte mich dann doch eher erstaunt,
wenn es nicht so wäre. Auf hohen Abstraktionsebenen findet man
immer Gemeinsamkeiten innerhalb einer Spezies. Auch zwischen
Hasen und Igel würden wir Ähnlickeiten finden, oder zwischen
Dinosauriern und Tieren der Neuzeit. Je nach dem, welche Kriterien
ich VORHER festlege, nach denen ich Gemeinsamkeiten
identifizieren möchte. Es handelt sich also um Menschen und da
hat man nun festgestellt, dass es Gemeinsamkeiten gibt, über die
Geschichte hinweg. Holla. Die Tatsache, dass dies festgestellt
wird, kann nur auf der Basis als überragend überraschend
empfunden werden, weil die Unterschiedlichkeiten so evident sind.
Letzteres nehme ich ernst, ersteres honoriere ich mit "Ach, was.
Es gibt Gemeinsames? Wer hätte das gedacht?". Es überzeugt
mich also nicht. Noch nicht. (ich bin offen für Argumente, also,
nicht aufgeben!).
Jetzt will ich noch eine Stufe "tiefer", was das Menschenbild
angeht, dies nun auch für Stefan Meretz. Du sagst,
"Wenn Du so willst, liegt dem auch eine "Sein-Annahme" über den
Menschen zugrunde, nämlich: Jeder Mensch möchte einfach ein
gutes Leben"
Das hatte ich eben vermutet. Nicht, dass Du von einer "Natur des
Menschen" ausgehst, die du via Ansicht der real existierenden
Welt entnimmst, das nicht, aber das auch du vom konkreten
Menschen abstrahierst. Du sagst, dass es den "allgemeinen
Menschen" oder "Menschen-an-sich" als Realphänomen nicht gibt,
"Aber es gibt den "allgemeinen Menschen" als Begriff, als
Kategorie, als analytisches Denkmittel".
Im ersten Punkt sind wir uns einig, im zweiten nicht. Methodisch
erst mal: Was hilft mir ein Analyseinstrument, dass in der Empirie
keine Entsprechung findet? Das verstehe ich nicht ganz.
Zweitens und noch viel wichtiger: Im Grunde ist die Annahme eines
allgemeinen Menschen als Analysekategorie doch genau das
gleiche wie die in der herrschenden Wissenschaft rauf und runter
verinnerlichten Annahmen über "das Individuum" als solches. Die
sagen halt, das Indidviduum ("der Mensch") ist
nutzenmaximierend. Auf dieser Basis wird dann alles erklärt und
der Kapitalismus beklatscht, als die beste aller Welten, weil nur
dort das Individuum seinen Nutzen total maximieren kann. Dass
Individuum ist nutzenmaximierend ist das durchgesetzte
Menschenbild - sowohl in der Wissenschaft, als auch im
Alltagsdenken der Leute - und der Denkfehler hat seine Wurzel in
der Kategorisierung. Erst die Tatsache, dass ich vom konkreten
Menschen auf einen allgemeinen abstrahiere, bahnt mir den Weg
über Aussagen, die ich diesem Individuum dann zuschreibe. Egal,
ob ich ihm zuschreibe, dass das Individuum nutzenmaximierend
ist, oder ob ich ihm zuschreibe, dass er gutes will. Es liegt die
gleiche Vorgehensweise - mit unterschiedlichen Konsequenzen -
zugrunde. Es besteht die Gefahr, dass man dann auf diese
banalen oder sagen wir es freundlicher "nichts mehr erklärenden"
Aussagen kommt: Der Mensch ist nutzenmaximierend oder der
Mensch will ein gutes Leben, erklärt deshalb nix mehr, weil sowohl
"Nutzen maximieren" als auch ein "gutes Leben" in
unterschiedlichster Weise unterschiedlich mit Inhalten gefüllt
werden kann, je nach gesellschaftlichem oder historischem
Kontext. Es bleiben leere Sätze, weil sie auf solchen hohen
Abstraktionsebenen getroffen werden. (Ich bin nicht grundsätzlich
gegen Abstraktion, nur nebenbei)
Noch eine Stufe tiefer, okay? Dann bin ich auch durch.
Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht so
alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken ein
Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. Der Mensch ist
gleich, frei und so weiter. Erst mit dem Auslösen der Leute aus
ihren gesellschaftlichen-sozial-ökonomischen Beziehungen
(Leibeigenschaft, Stände, usw.) hinein ins bürgerliche Leben der
gleich doppelt freien Arbeiter, die dann nichts weiter mehr als ihre
Arbeitskraft zu verkaufen hatten, begann der ganze Kladderadatsch
mit dem Individuum. Die Kategorie des Individuums, die ich mit der
Kategorie des Menschen als solches gleichsetzen möchte, gab es
vorzumals nicht in dieser Form. Da gab es Kategorien wie "die
Sklaven" oder der "obere Stand", die Leute wurden also in ihren
gesellschaftlichen Rollen/Ständen/Schichten begriffen und nicht als
Individuum. (Bitte das alles nun analytisch und nicht wertend
begreifen). Ich würde dafür plädieren wollen, sich von einer wie
auch immer gearteten Abstraktion vom Menschen als solches zu
befreien, auch wenn es schwer fällt. Aber es gibt kein Individuum.
Auch und übrigens gerade nicht (!!!) als Denkkategorie. Das führt
zwangsläufig zu Seins-Annahmen. Davon ist nicht viel zu halten,
find ich, egal ob sie gut oder schlecht aufgeladen sind. Ob das
nicht auch eine Ideologie sei, wurde an anderer Stelle gefragt. Das
weiß ich nicht. Wenn es eine ist, würde ich halt gerne darauf
hingewiesen werden, an welcher Stelle sie sich als solches
identifizieren läßt. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich ein
Dogma wiederhole, eher begründe und argumentiere ich und
versuche, transparent zu machen, woher mein Denken kommt, um
Gegenargumenten ein besseres Handlungsfeld zu geben. Ich
denke, das ist das Gegenteil von Ideologie.
Stefan Meretz, noch kurz dein zitat möchte ich aufgreifen in
diesem Zusammenhang:
"Die Natur des Menschen ist seine Gesellschaftlichkeit."
Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten ist das ein
Widerspruch. "Die Natur des Menschen" impliziert, dass es jeder
einzelne Mensch in sich trägt, also das von den konkreten
Menschen abstrahiert wird und ein einzelner ideeller
Gesamtmensch dann da steht, der da eine Natur hat, nämlich die
Gesellschaftlichkeit. Die Gesellschaftlichkeit aber, wenn man sie
ernst nimmt, schließt die Existenz dieses einzelnen Menschen,
auch als Analysekategorie, aus. Ich würde es wenn überhaupt so
formulieren wollen:
Die Natur *der Menschen* ist ihre Gesellschaftlichkeit.
Das aber ist eine Tautologie.
Liebe Grüße
Sabine
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