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[ox] Wesen et al.



Hallo Listige,

da ist ja eine Lawine im Gange...es ist nun mühsam, auf die 
gegenseitig vor die Füsse geworfenen Brocken nochmal im Detail 
einzugehen. Die Grundproblematik zieht sich durch und daher 
möchte ich lieber noch ein weiteres mal mehr prinzipiell 
rummeckern, statt einzelne Argumente unter die Lupe zu nehmen.

Warum? Weil: Mich erinnert das ganze ein wenig an Thomas 
Kuhn, jener Physiker, der den Begriff des Paradigmenwechsels 
geprägt hat und der von den Sozialwissenschaftlern für ihre Zwecke 
dankbar aufgenommen wurde (Kuhn hatte ausschließlich die 
Geschichte der Physik untersucht !!! Wird gern unterschlagen.). 
Ein Paradigma ist danach eine Art Weltbild, gespickt mit einer 
Reihe von Prämissen und Voraussetzungen, die aber nicht mehr 
hinterfragt sind, sondern stillschweigend den "Filter" bilden, mit der 
die Welt begriffen und analysiert wird. Dabei spielt auch die 
Sprache ihre Rolle. Es werden in den verschiedenen Paradigmen 
nämlich durchaus die gleichen Vokabeln benutzt, aber mit sehr 
unterschiedlichen Konnotationen und Inhalten. Wenn zwei 
unterschiedliche Paradigmen aufeinander treffen, wird jeder von 
sich aus in gutem Glauben denken, er habe recht, ein 
Zusammenkommen gibt es aber nicht. Es gibt nur die Möglichkeit, 
irgendwann zu wechseln, von der einen auf die andere Seite 
("Paradigmenwechsel"). Dies geschieht aber nicht durch Einsicht, 
sondern durch "Überredung". Das war nun wirklich die Kurzform, 
ich will das nun nicht weiter ausführen. Ich erwähne es hier, weil 
ich das Gefühl habe, auch hier stossen Paradigmen aufeinander, 
bei denen grundsätzlich unterschiedliche Voraussetzungen 
stillschweigend einfließen und entgegen Kuhn (nochmal: der 
sprach auch nur von Physikgeschichte) würde ich hoffen wollen, es 
könnte durchaus eine Chance zur Auflösung der widerstreitenden 
Welten geben, wenn man versuchen würde, erst einmal diese 
Prämissen zu identifizieren, statt auf der Basis eines 
unhinterfragten Welt- und Menschenbildes entsprechende davon 
abhängige Argumente auszutauschen. Es macht die Sache nicht 
durchsichtiger, wenn Argumente wiederholt werden, in immer 
anderen Worten, ohne drauf zu gucken, woher sie kommen.

Ich hatte ja schon versucht, grundsätzlicher an das "Paradigma" 
ranzugehen, indem ich die Sache mit dem Wesen des Menschen 
angeführt habe, und wie man zu solchen Annahmen eines Wesen  
des Menschen überhaupt kommt. Ist mir ja leider nicht ganz 
gelungen, Hartmut, dich zu überzeugen ;-) - aber ich würde dann 
halt gerne da weitermachen und genau an diesem Punkt bleiben, 
nirgendwo anders hin. Also, nochmal, okay?

"nihil humanum mihi alienum est - nichts menschliches ist mir 
fremd" - das war das Zitat, welches nett umschreiben sollte, dass 
es halt doch irgendwie über die Epochen hinweg Gemeinsamkeiten 
zwischen Menschen gibt. Es hätte mich dann doch eher erstaunt, 
wenn es nicht so wäre. Auf hohen Abstraktionsebenen findet man 
immer Gemeinsamkeiten innerhalb einer Spezies. Auch zwischen 
Hasen und Igel würden wir Ähnlickeiten finden, oder zwischen 
Dinosauriern und Tieren der Neuzeit. Je nach dem, welche Kriterien 
ich VORHER festlege, nach denen ich Gemeinsamkeiten 
identifizieren möchte. Es handelt sich also um Menschen und da 
hat man nun festgestellt, dass es Gemeinsamkeiten gibt, über die 
Geschichte hinweg. Holla. Die Tatsache, dass dies festgestellt 
wird, kann nur auf der Basis als überragend überraschend 
empfunden werden, weil die Unterschiedlichkeiten so evident sind. 
Letzteres nehme ich ernst, ersteres honoriere ich mit "Ach, was. 
Es gibt Gemeinsames? Wer hätte das gedacht?". Es überzeugt 
mich also nicht. Noch nicht. (ich bin offen für Argumente, also, 
nicht aufgeben!).

Jetzt will ich noch eine Stufe "tiefer", was das Menschenbild 
angeht, dies nun auch für Stefan Meretz. Du sagst, 

"Wenn Du so willst, liegt dem auch eine "Sein-Annahme" über den
Menschen zugrunde, nämlich: Jeder Mensch möchte einfach ein 
gutes Leben"

Das hatte ich eben vermutet. Nicht, dass Du von einer "Natur des 
Menschen" ausgehst, die du via Ansicht der real existierenden 
Welt entnimmst, das nicht, aber das auch du vom konkreten 
Menschen abstrahierst. Du sagst, dass es den "allgemeinen 
Menschen" oder "Menschen-an-sich" als Realphänomen nicht gibt, 
"Aber es gibt den "allgemeinen Menschen" als Begriff, als 
Kategorie, als analytisches Denkmittel".

Im ersten Punkt sind wir uns einig, im zweiten nicht. Methodisch 
erst mal: Was hilft mir ein Analyseinstrument, dass in der Empirie 
keine Entsprechung findet? Das verstehe ich nicht ganz. 

Zweitens und noch viel wichtiger: Im Grunde ist die Annahme eines 
allgemeinen Menschen als Analysekategorie doch genau das 
gleiche wie die in der herrschenden Wissenschaft rauf und runter 
verinnerlichten Annahmen über "das Individuum" als solches. Die 
sagen halt, das Indidviduum ("der Mensch") ist 
nutzenmaximierend. Auf dieser Basis wird dann alles erklärt und 
der Kapitalismus beklatscht, als die beste aller Welten, weil nur 
dort das Individuum seinen Nutzen total maximieren kann. Dass 
Individuum ist nutzenmaximierend ist das durchgesetzte 
Menschenbild - sowohl in der Wissenschaft, als auch im 
Alltagsdenken der Leute - und der Denkfehler hat seine Wurzel in 
der Kategorisierung. Erst die Tatsache, dass ich vom konkreten 
Menschen auf einen allgemeinen abstrahiere, bahnt mir den Weg 
über Aussagen, die ich diesem Individuum dann zuschreibe. Egal, 
ob ich ihm zuschreibe, dass das Individuum nutzenmaximierend 
ist, oder ob ich ihm zuschreibe, dass er gutes will. Es liegt die 
gleiche Vorgehensweise - mit unterschiedlichen Konsequenzen -  
zugrunde. Es besteht die Gefahr, dass man dann auf diese 
banalen oder sagen wir es freundlicher "nichts mehr erklärenden" 
Aussagen kommt: Der Mensch ist nutzenmaximierend oder der 
Mensch will ein gutes Leben, erklärt deshalb nix mehr, weil sowohl 
"Nutzen maximieren" als auch ein "gutes Leben" in 
unterschiedlichster Weise unterschiedlich mit Inhalten gefüllt 
werden kann, je nach gesellschaftlichem oder historischem 
Kontext. Es bleiben leere Sätze, weil sie auf solchen hohen 
Abstraktionsebenen getroffen werden. (Ich bin nicht grundsätzlich 
gegen Abstraktion, nur nebenbei) 

Noch eine Stufe tiefer, okay? Dann bin ich auch durch.

Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die 
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht so 
alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken ein 
Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. Der Mensch ist 
gleich, frei und so weiter. Erst mit dem Auslösen der Leute aus 
ihren gesellschaftlichen-sozial-ökonomischen Beziehungen 
(Leibeigenschaft, Stände, usw.) hinein ins bürgerliche Leben der 
gleich doppelt freien Arbeiter, die dann nichts weiter mehr als ihre 
Arbeitskraft zu verkaufen hatten, begann der ganze Kladderadatsch 
mit dem Individuum. Die Kategorie des Individuums, die ich mit der 
Kategorie des Menschen als solches gleichsetzen möchte, gab es 
vorzumals nicht in dieser Form. Da gab es Kategorien wie "die 
Sklaven" oder der "obere Stand", die Leute wurden also in ihren 
gesellschaftlichen Rollen/Ständen/Schichten begriffen und nicht als 
Individuum. (Bitte das alles nun analytisch und nicht wertend 
begreifen). Ich würde dafür plädieren wollen, sich von einer wie 
auch immer gearteten Abstraktion vom Menschen als solches zu 
befreien, auch wenn es schwer fällt. Aber es gibt kein Individuum. 
Auch und übrigens gerade nicht (!!!) als Denkkategorie. Das führt 
zwangsläufig zu Seins-Annahmen. Davon ist nicht viel zu halten, 
find ich, egal ob sie gut oder schlecht aufgeladen sind. Ob das 
nicht auch eine Ideologie sei, wurde an anderer Stelle gefragt. Das 
weiß ich nicht. Wenn es eine ist, würde ich halt gerne darauf 
hingewiesen werden, an welcher Stelle sie sich als solches 
identifizieren läßt. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich ein 
Dogma wiederhole, eher begründe und argumentiere ich und 
versuche, transparent zu machen, woher mein Denken kommt, um 
Gegenargumenten ein besseres Handlungsfeld zu geben. Ich 
denke, das ist das Gegenteil von Ideologie.

Stefan Meretz, noch kurz dein zitat möchte ich aufgreifen in 
diesem Zusammenhang: 

"Die Natur des Menschen ist seine Gesellschaftlichkeit."

Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten ist das ein 
Widerspruch. "Die Natur des Menschen" impliziert, dass es jeder 
einzelne Mensch in sich trägt, also das von den konkreten 
Menschen abstrahiert wird und ein einzelner ideeller 
Gesamtmensch dann da steht, der da eine Natur hat, nämlich die 
Gesellschaftlichkeit. Die Gesellschaftlichkeit aber, wenn man sie 
ernst nimmt, schließt die Existenz dieses einzelnen Menschen, 
auch als Analysekategorie, aus. Ich würde es wenn überhaupt so 
formulieren wollen:

Die Natur *der Menschen* ist ihre Gesellschaftlichkeit. 

Das aber ist eine Tautologie.

Liebe Grüße
Sabine
   

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