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Utopien (Re: [ox] Re: Arbeit oder was?)



Hallo Annette,

Du schreibst:

Innerhalb der utopischen Literatur stehen sich da auch mehrere Konzepte
gegenüber:
- Cyber-Future: wies aussieht, wenns mit dem Kapitalismus weitergeht...
- Ökotopia: Zurück zur Natur und so (eher technikfeindlich)
- "Morgen" von R. Havemann: Menschenleere zentrale Fabriken unter der
Erde - noch die alte Vorstellung ...

Wie eine Hardware-Linux-Gesellschaft aussieht, wäre meine Frage... Da
kommen alte Vorstellung von kleinteiligeren, vernetzten
Lebensgemeinschaften (weg von Zentralisierungen) wieder zu ihrem Recht,
Ökologie auch - aber eben auf Basis hochentwickelter, bewußt
entwickelter Produktivkraefte. Das hat noch keine/r so richtig
vorgeahnt... Oder?

Stefan Mertens _GPL-Gesellschaft_ geht in diese Richtung. Ich suche
verwandte Sachen. (Vielleicht hat eine davon auch einen eingängigeren
Namen...;-D )

Eine empfehlenswerte Utopie in die Richtung (Geldfrei, Dezentral,
Selbstorganisiert,...) ist

p.m. bolo' bolo
1983 geschrieben  1995 Neuauflage
Verlag Paranoia City,Zürich
ISBN 3-907522-01-X  ( 18 Mark)

Es ist nicht wie Ökotopia eine romantische Geschichte, sondern es
beschreibt mögliche Strukturen und gesellschaftliche Einrichtungen und
läßt dabei viel Raum für Vielfalt.

Interessant ist auch die Analyse des bestehenden Systems (P.M. nennt es
Planetare Arbeitsmaschine) mit der das Buch eingeleitet wird. Obwohl
1983 geschrieben, enthält es schon vieles von dem, was zur Zeit
geade hochaktuell diskutiert wird.

Allerdings ist es keine Utopie, die "auf High-Tech basiert". Die Basis
sind soziale Vereinbarungen, und die Technik wird sich dann an den
Bedürfnissen der ibus ( Menschen) entwickeln, wobei auch nicht
ausgeschlossen ist, daß sie sich zurückentwickelt.

Ich versteh aber auch nicht, wozu es gut sein soll, wenn eine Utopie
auf High-Tech basiert. Das hieße ja auch, daß sie von dieser Technik
abhängig ist. Sie für den Übergang zu nutzen, wenn sie nicht schadet,
ist ja ok und vielleicht sogar unumgänglich, aber als Grundlage einer
neuen Gesellschaft halte ich sie für ungeeignet.

Als Kostprobe von bolo'bolo häng ich mal das Kapitel über sibi
(Handwerk, Kunst, Industrie, Werkzeuge, Produktion, Kreativität
Tätigkeit) an. bolo ist übrigens eine Lebens- und
Wirtschaftsgemeinschaft von ca 500 ibus.

Gruß, Jobst
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 sibi

Im bolo verbinden sich Agrikultur (kodu) und Fabrikultur (sibi). Die
ibus brauchen nicht nur Nahrung, sondern auch Gebäude, Wasser,
Elektrizität, Brennstoffe, Werkzeuge und Maschinen (vor allem für die
Landwirtschaft), Kleider, Möbel, Rohmaterialien, elektronische und
andere Bauteile, Geräte aller Art, Fahrzeuge, Geschirr, Schmuck,
Schallplatten, Filme, Strassen, Leitungsrohre usw.

Ein grosser Teil der heutigen industriellen und handwerklichen
Produktion wird überflüssig werden: Autos, Rüstung, Strassenbau,
elektronische Massenprodukte usw. Oder es werden davon dank anderer
Nutzung viel weniger gebraucht (1 Kühltruhe, 1 Fernseher, 1
Waschmaschine, 1 Kleinbus, 1 Computer, 1 Bohrmaschine pro Haus oder pro
bolo). Trotzdem ist es möglich, die bolos so gut auszurüsten, dass sie
die meisten handwerklichen Arbeiten, den Gebäudeunterhalt, Reparaturen
an Geräten, Möbeln, Kleidern, Wagen, Velos, Sanitäranlagen, selbst
durchzuführen können.

Ein bolo wird weniger Geräte brauchen und trotzdem viel selbständiger
sein als ein heutiges Quartier oder gar ein Haushalt. Da niemand mehr
ein Interesse an der Herstellung defekter oder sich schnell
verschleissender Produkte haben wird, fallen weniger Reparaturen an.
Dank einer solideren und einfacheren Konstruktion sind diese Reparaturen
auch leichter durchzuführen und werden Defekte weniger einschneidende
Folgen haben.

Die Befähigung, handwerkliche Arbeiten selbst auszuführen (vor allem im
Bereich Landwirtschaft und Energie), ist eine weitere Garantie für die
Unabhängigkeit der bolos. Sie können kurzfristig kaum erpresst werden.
Zudem verkleinert sich dadurch der zeitliche und energetische Aufwand:
Elektriker oder Klempner brauchen nicht durch die halbe Stadt zu reisen,
und Pannen können schneller behoben werden. Ein bolo ist gerade gross
genug, um diese bescheidene handwerkliche Spezialisierung möglich zu
machen.

Der Hauptinhalt des sibi ist aber das Ausleben produktiver
Leidenschaften, die zur Lebensweise oder kulturellen Eigenart eines bolo
gehören. Es gibt dann vielleicht Maler-bolos, Schuhmacher-bolos,
Gitarren-bolos, Foto-bolos, Leder-bolos, Farben-bolos, Parfüm-bolos,
Elektronik-bolos, Automobil-bolos, Buch-bolos, Holzschnitt-bolos,
Flugzeug-bolos, Marmor-bolos, Video-bolos usw. In gewissen bolos
wird sibi weniger wichtig sein. Sie werden sich nicht spezialisieren
und von allem ein bisschen tun. Andere bolos werden Produktion und
Gebrauch von Dingen bewusst auf ein Minimum reduzieren (Tao-bolos).
Ihre «Produkte» sind dann immateriell.

Produktion ist keine Verpflichtung - etwas Landwirtschaft und
Instandhaltung genügen. Da die Leute nicht für einen Markt arbeiten und
nur in zweiter Linie für den Austausch, gibt es keine Unterscheidung
zwischen Handwerk und Kunst, zwischen Job und Berufung, zwischen
Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Neigung und wirtschaftlicher
Notwendigkeit (abgesehen eben von Landwirtschaft und
Unterhaltsarbeiten). Selbstverständlich werden diese typischen Produkte
oder Dienstleistungen zwischen den bolos ausgetauscht werden, genauso
wie landwirtschaftliche Spezialitäten. Durch Geschenke, Tauschverträge
oder über Nachbarschaftsdepots und Märkte werden sie zirkulieren,
persönliche Beziehungen schaffen und verbessert werden.

Im Rahmen eines bolo, eines Quartiers oder einer Stadt werden Handwerker
oder kleine Industriebetriebe in engem Kontakt mit den Benützern ihrer
Produkte stehen. Umweltzerstörung, Lärm, schlechte Qualität oder
Missachtung der Bedürfnisse der « Verbraucher» werden an der Wurzel
verunmöglicht. Viele Produkte werden persönlichen Charakter haben,
weil der Benützer den Hersteller kennt. Defekte Güter können zurück
gebracht werden, und es gibt eine Wechselwirkung zwischen Anwendung
und Entwurf. Diese Verhältnisse werden eine neue Technologie
hervorbringen, die vielfältiger und raffinierter ist als die heutigen
Massenfertigungen, die keine Rücksicht auf lokale Gegebenheiten und
besondere Bedürfnisse nehmen. Es wird mehr Prototypen nach Mass
geben, weniger Abhängigkeit von grossen Systemen, von hohem
Energieverbrauch, von Spezialisten. Daneben bleibt die
Massenproduktion ausgewählter Güter, vor allem von Bauteilen, die für
vielfältige Zwecke verwendet werden können, weiterhin eine Möglichkeit
(z. B. Elektromotoren, Glühbirnen, Benzin, Baumaterial, Gummistiefel
usw.)

Der Bereich handwerklicher und industrieller Produktion ist breiter und
vielfältiger als die Landwirtschaft, da er weniger «natürlichen»
Beschränkungen unterworfen ist. Das bedeutet, dass die bolos in
dieser Beziehung mehr auf Austausch und Zusammenarbeit im grösseren
Rahmen angewiesen sind. Wasser, Energie, Rohstoffe usw. müssen
regional, eventuell sogar weltweit gewonnen und verteilt werden. Dies
kann durch gemeinsame Unternehmungen geschehen, an die alle beteiligten
Gemeinschaften Beiträge in Form von Arbeitskräften (kene) leisten.
Dabei wird man darauf achten, möglichst in der Nähe von Rohstoffquellen
zu produzieren und überhaupt so wenig Güter wie möglich zu verschieben.
Durch Wiederverwertungskreisläufe wird der Rohstoffverbrauch niedrig
gehalten und damit auch Arbeitsaufwand und Abhängigkeit.

Es wird sich eine neue Technologie entwickeln, die darauf aus ist,
örtlich verfügbare Materialien einzusetzen und die heutigen
internationalen Standardprodukte zu ersetzen (Holz statt Stahl, Steine
statt Beton, Lehm statt Blech, Glas statt Kunststoff usw.). Wo die
industrielle Fertigung wirklich Vorteile bringt, kann dies in Quartier-,
Bezirks- oder Regionalwerkstätten geschehen. Zusammenarbeit im
Produktionsbereich ist auch darum sinnvoll (d.h. arbeitsfeindlich),
weil viele Maschinen und Einrichtungen von einem bolo allein gar nicht
ausgelastet bzw. unterhalten werden können. Warum soll jedes bolo eine
eigene Getreidemühle, Baumaschinen, medizinische Labors, Lastwagen,
haben?  Fahrzeug und Maschinenpools ergeben sich so von selbst. Oder
bestimmte Güter werden in Quartierwerkstätten für alle beteiligten bolos
gemeinsam hergestellt (z.B. Brot, Stühle, Druckerzeugnisse,
Fensterrahmen, Bier, Leder, Bretter).

sibi bedeutet keineswegs, dass einfach zu alten Produktionsweisen
zurückgekehrt wird, denn diese sind meist auch nur Vorstufen der
heutigen, auf Herrschaft ausgerichteten Technologie. Es geht darum,
aus traditionellen Methoden zu lernen, was es zu lernen gibt. Einige
industrielle Technologien können, wie sie sind, benutzt werden, in
stark reduziertem Massstab. Andere können mit wenigen Veränderungen
«umgenutzt» werden. Daneben können neue Technologien entwickelt
werden, die auf die bolo 'bolo-Bedürfnisse abgestimmt sind. Der
«andere» technische Fortschritt, der von der Herrschaftstechnologie
seit Jahrtausenden unterdrückt wurde, kann dann beginnen...


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http://www.oekonux.de/



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