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[ox] Loops und Linux



Hi,

zum Schmöckern aus De:Bug mit freundlicher Genehmigung des Autors, der
sich über Re's freut, also setzt ihn bei evt. Antwort einfach ins cc.

Ciao,
Stefan

+++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

Von: Anton Wald, aus: De:Bug. Elektronische Lebensaspekte 35 (Mai 2000),
S.28.
waldt lebensaspekte.de

Loops und Linux

Open Source vs. Techno

Open Source ist hip. So wie Techno Mitte der Neunziger. Alle weiteren
Analogien zwischen kulturellen und technischen Codes klärt Anton Waldt,
der Mann, der mit Fishbone-Pulswärmern den Aldi-Rechner frisiert.

Mit Open Source macht unter dem Namen Linux ein Code-Erstellungsprinzip
internationale Börsen-Karriere, das bisher eher in kulturell definierten
sozialen Systemen praktiziert wurde - besonders in den letzten 35 Jahren
in dem Bereich, der als Jugendkultur geführt wird. Sowohl Open Source
Software als auch Mod, Punk, HipHop, Techno, Skater definieren sich über
Haltungen (Attitudes) und Produkte. Nur aus der richtigen Haltung werden
jeweils die richti-gen Produkte generiert, und je nach dem, auf welchem
Feld sich die Haltung bewegt, entstehen Software-, Sound- oder
Style-Strukturen.

Attitude und Selbstorganisation

"Open Source bedeutet nicht einfach nur Zugriff auf den Quellcode." Die
deutlichste Parallele von Nerds und Szenen besteht in ihrer sozialen
Selbstorganisation. Dabei sein kann prinzipiell jeder und jede, der
Status in der Gruppe wird durch die Leistungen und gebotene Kompetenz
definiert. Die Ränder der Gruppen werden durch Sympatisanten und
Neulingen gebildet, die - vorausgesetzt, sie zeigen die richtige Haltung
- durch eigene Leistungen den gemeinsamen Code fortschreiben können. Je
länger ein Individuum DABEI ist, desto weiter steigt es un-willkürlich
in der Hierarchie nach oben. Dieser Prozess kann durch besondere
Leistungen - also ein elegantes Patch oder ein richtungsweisender
Basslauf oder ein neuer Modestyle - beschleunigt werden, aber sicher
oder sogar einklagbar wird kein noch so hoher Status jemals sein, da
Selbstlosigkeit im Dienst des Quellcodes ein Grundaxiom ist. Längere
Zeiten der Passivität mindern das Standing unweigerlich. "Ein
Programmierer soll den Quellcode verändern können." Ein höherer Status
bringt auch zunächst nur EIN Privileg: mehr Definitionsmacht über den
gemeinsamen Code. Erst als Nebenwirkung und nur in bestimmten Relationen
wird von den Gruppen eine - indirekte - Bezahlung des Status geduldet,
die in der Regel in den coolen Jobs besteht: im richtigen Plattenladen,
beim richtigen ISP oder hinter der richtigen Bar.

Offene Quellen machen Rumms. Rumms. Rumms.

Während diese Parallelen für so ziemlich alle erinnerten Jugendkulturen
gelten, hatten Punk und noch mehr Techno darüber hinaus reichende, da
sie auch die Produktionsweisen des bestimmenden Sounds offengelegt
haben. Nicht mehr handwerkliche Fähigkeiten, sondern die clevere
Umsetzung bekannter Produktionsstrukturen mit bekannten Geräten und
Tools wurden zum entscheidenden Faktor.
"Die zum Programm gehörigen Rechte müssen für jeden gelten, der das
Programm erhalten hat, ohne dass eine weitere Lizenz beachtet werden
muss." Der Quellcode des Betriebssy-stems waren 909, 303, und ein
Mackie-Mischpult. Frei einsetzbare Software-Routinen bedeuten im Techno
das Recht zu samplen, in beiden Fällen ist die Verwendung cool, wenn sie
zur sinnvollen Erweiterung des Code-Pools beiträgt und uncool, wenn sie
eine blosse Kopie ist. Sowohl Techno als auch Open Source beschäftigen
sich zudem mit dem Gefühl für Maschinen. In dem Bewusstsein, dass deren
Funktionsweise ein Ausdruck unseres eigenen Denkens darstellt, werden
sie nicht als unmenschlich empfunden, sondern als Chance, einen Blick in
den Spiegel zu erhaschen und die eigenen Neuronen abgebildet zu finden.
"Absichtlich verwirrend geschriebener Quellcode ist nicht erlaubt." Ist
es für eine Linux-Anwendung wichtig, dass ihr Code elegant formuliert
ist, so hat Techno ermöglicht, die Funktionsweisen der Maschinen zu
hören und auf der Tanzfläche zu spüren. Ein wichtiges Indiz für
Parallelität dieser Vorgänge ist ihr repetitiver Charakter, Software und
Sound funktionieren jeweils nur in Loops.

Die Reinheit der Quelle

"Die Lizenz muss die Veränderung des Programms, auf dem Programm
basierende Werke, sowie deren Verbreitung unter den gleichen
Lizenzbedingungen gestatten." Nerds und Headz mögen eben Systeme, in
denen SIE auf alle Parameter zurückgreifen können. Die kommerzielle
Verwertung des Quellcodes ist hier wie dort das wichtigste Axiom, wobei
die geschilderten sozialen Selbstorganisationen durch ihre eigene
Effizienz offenbar Zyklen von Abschottung, Popularisierung und
Vereinnahmung durch die Gesamt-Gesellschaft durchlaufen, in denen sich
sowohl die Akteure und deren Rollen als auch die Produkte verändern. Der
aktuelle Status von Linux dürfte dabei etwa dem von Techno Mitte der
90er entsprechen. Die kommerzielle Verwertung geschieht durch
Dienstleistungen und Vermittlung, dabei haben Distributionen etwa den
Stellenwert von Labels, die Anpassung an Kundensysteme den des DJs.
Darüber hinaus weckt die Effizienz und Coolheit, mit der offene Codes
kulturellen Fort-schritt produzieren - also Codes fortschreiben und
verfeinern - unweigerlich weitergehende Begehrlichkeiten, die dazu
führen, dass auch der Quellcode an sich vermarktet wird. Dies scheint
immer dann zu geschehen, wenn er eine gewisse Reife und eine gewisse
Vollständigkeit erreicht hat. Die anschliessende Kommerzialisierung, die
auch auf den Status des Quellcodes selbst Auswirkungen hat, wird von
genauso wütendem wie hilflosem Protest der Veteranen begleitet. Der
Quellcode bleibt zwar vordergründig der selbe, aber er fühlt sich anders
an, wenn er am Nasdaq gehandelt wird oder in der Fernsehwerbung
verwendet wird.

Neuer Markt macht Boing

Wenn sich Analogie fortsetzt, dürfte Linux einen dauerhaften, wenn auch
nicht dominierenden Status erhalten, gleichzeitig dürften die Nerds mehr
und mehr das Gefühl verlieren, dass der Code ihnen gehört. Cor allem
letzteres kann wiederum fatale Folgen für den Code selbst haben, da er
zunehmend in Hände von Profis gerät, die den Grundsatz des selbstlosen
Einsatzes für den gemeinsamen Code als absurde Zumutung empfinden.
Veteranen müssen sich zwar zunächst nicht wirklich entscheiden, ob sie
sich abgelegeneren Codes zuwenden oder mitverdienen, aber mit dem
wohlverdienten Abkassieren geht auch ein Code-Verlust des
Selbstverständnisses einher. Der Musikmarkt ist natürlich im Vergleich
zum Softwaremarkt kein ernstzunehmendes BUSINESS, dies sollte einerseits
die Nerd-Erosion beschleunigen, andererseits dürften sich die Regeln der
Vereinnahmung unter dem Druck der Börsen-Milliarden modizifieren.

Da es sich bei der Erstellung von Software vordergründig um ein ernstes
Business dreht, wurde für diesen Bereich natürlich genau definiert, was
unter einer offenen Quellenlage zu verstehen ist: Alle als "Zitat"
gekennzeichneten Sätze sind aus der "Open Source Definition" entnommen.

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
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