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Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?



Hallo Christian!

Am 29.12.2010 19:19, schrieb Christian Siefkes:
mir scheint, du hast großen Respekt vor der dichten und hochkomplexen
Vernetzheit der modernen kapitalistischen Gesellschaft -- mit
Just-in-Time-Produktion und verwickelten weltweiten Produktionsketten.

Wovor auch immer - meine Ehrfurcht vor diesen kulturell-organisatorischen Errungenschaften scheint in der Tat deutlich größer zu sein als (u.a.) deine. In dieser Wahrnahme des Zusammenhangs zwischen Produktivkraftentwicklung und Entwicklung von Produktionsorganisation weiß mich allerdings in guter Gesellschaft (MEW 4, 462-467). Und die Zunahme dieser Komplexität und Vernetztheit ist wohl auch eine der wenigen Konstanten in der Entwicklung der Menschheit seit wenigstens der neolithischen Revolution. An die Komplexität und Vernetztheit natürlicher Prozesse kommt das allerdings (noch) in keiner Weise heran - die Natur hatte dafür ja auch mehrere Mrd. Jahre Zeit, die Menschheit seit der Sesshaftwerdung nur etwa 11.000. Dafür sind die Resultate schon erstaunlich.

Übrigens scheint jede Zeit ihre spezifische Erfahrung mit "Fülle" vorweisen zu können, die stets mit "Respekt vor dichter und hochkomplexer Vernetzheit" verbunden war, siehe etwa die letzte OYA, beispielsweise Jochen Schilks Aufsatz http://oya-online.de/article/read/195-Zurueck_in_die_Steinzeit_.html

Nicht zu unrecht, aber man sollte nicht vergessen, dass diese hohe
Komplexität auch eine hohe Fragilität bedeutet -- einzelne Ausfälle,
ob bei Produktion oder Transport können einen Domino-Effekt hinter
sich herziehen, wo immer mehr ausfällt.

Als gelernter DDR-Bürger kenne ich auch eine andere produktive Praxis, die mit dieser "Fragilität" deutlich schlechter zurecht kam als die heutige. Spannend ist ja, dass, bezogen auf die latente Fragilität, solche Dominoeffekte selten genug auftreten. Ein ambivalentes Thema - aber was mir gerade in diesen Wintertagen im Vergleich zu früher auffällt - was früher durch Einsatz von Menschen bewältigt wurde, wird heute mit viel größerem maschinellen und organisatorischen Einsatz angegangen, auch wenn die Reproduktion dieser Vorsorgefähigkeit schon stark unter der Finanzsituation der Kommunen gelitten hat.

Es gibt diverse Autor/innen, die argumentieren, dass Gesellschaften
dann kollabieren, wenn sie zu komplex geworden sind.

Klix/Lanius beschreiben in "Wege und Irrwege der Menschenartigen" den Zusammenbruch komplex organisierter Gesellschaften unter Klimastress (dort Kap. 9: Kanaan, das südliche Maya-Tiefland, altnodrische Siedlungen in Westgrönland, das weströmische Reich) vor allem als Phänomen der Erstarrung der kulturell-organisatorischen Strukturen und damit fehlender Flexibilität, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren. Das sind aber deutliche Sackgassen, die immer überwunden wurden, indem eine solche Kultur unterging und andere Kulturen diesen (physischen) Raum eingenommen haben. Die kulturell-organisatorische Komplexität hat sich im Mittel trotzdem dauernd weiter erhöht.

Im Kontext der Peer-Produktion ist dagegen oft von "resilience"
(Belastbarkeit, Unverwüstlichkeit) die Rede. Statt der langwierigen
Abhängigkeitsketten, wo der Ausfall eines einzelnen Glieds die komplette
Kette zum Stillstand bringt, werden modulare Architekturen mit
austauschbaren Bausteinen favorisiert. Wenn ein Element ausfällt, gibt es
dann genug kompatible Alternativen, die man einfach stattdessen verwenden kann.

Kein anderes Paradigma liegt der kulturell-organisatorischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft seit 300 Jahren zugrunde. Ich staune immer wieder, wie wenig du das zu sehen scheinst. Verhärtungen dieser kulturell-organisatorischen Struktur, wie sie derzeit insbesondere im Ringen um die politische Verfasstheit der "digitalen Gesellschaft" zum Ausdruck kommen, gab es mehrere in dieser langen Zeit. Sie hingen immer mit technologischem "Stress" zusammen, der gewohnte kulturell-organisatorische Strukturen in Frage stellte und letztlich zu Umbrüchen derselben führte. Die meisten waren übrigens von größeren Krisen des Geldsystems begleitet.

Ein Beispiel für solche resilience ist das "Open Source"-Prinzip: bei
proprietärer Software haben die Nutzer/innen Pech gehabt, wenn der
Hersteller die Weiterentwicklung der Software einstellt, bei Freier Software
können sie -- oder jede/r andere -- die Sache dagegen selbst in die Hand
nehmen.

Das ist sehr vereinfacht dargestellt, denn es ist reine Potenzialität (es "kann" geschehen). Damit es Wirklichkeit wird, müssen auch in einer PÖ die entsprechenden Ressourcen allokiert werden - entweder ich mache das selber und habe dann keine Zeit mehr für die mir wirklich wichtigen Dinge oder es finden sich genügend andere, die auch leiden. Das ist aber in keiner Weise auf Freie Software beschränkt, siehe etwa die Macsyma Saga <http://maxima-project.org/wiki/index.php?title=The_Macsyma_Saga>. Du kannst dem entgegenhalten, dass mit Maxima nun doch eine Freie Lösung gefunden wurde - das ist aber eine andere Geschichte.

> Das Ausfallrisiko wird dadurch stark reduziert, und das ist ja auch
einer der Gründe, warum viele Firmen Freie Software bevorzugen -- man
reduziert seine Abhängigkeit.

Das ist unklar - auch Freie Softwareprojekte können eingehen - es geht nicht um die Projekte, sondern um das Vertrauen der Firmen in die Stabilität des Reproduktionszusammenhangs. Siehe oben - "Fülle" hat unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss (re)produziert werden.

Der Traum vom Schlaraffenland - wenigstens in der vor 300 Jahren auf einer
klaren produktionsorganisatorischen Basis geträumten Form - ist heute mit
der Konsumgesellschaft, mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen,
weitgehend realisiert.

"Mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen"...

Das haben Träume so an sich, sie erfassen nicht die volle Realität, sondern einen mglw. utopischen Moment in derselben. Mein Argument war übrigens: Der Traum ist heute weitgehend Realität ()siehe Ludgers Thema), verlangt uns aber neue Anstrengungen ab, die im Traum nicht mitgeträumt wurden.

Deine "Konsumgesellschaft als Schlaraffenland" ist darüber hinaus aber auch
falsch, selbst wenn die "nötige Knete" für alle wunderbarer Weise vorhanden
wäre. Wenn alle Menschen weltweit so leben und konsumieren würden, wie wir
in Deutschland das tun (von den Reichen in Deutschland ganz abgesehen),
würde das die Ressourcen unseres Planeten so weit übernutzen, ...

Das ist dem Traum vom Schlaraffenland schon immer eigen. Dazu hatte ich mich früher ausführlich geäu0ert <http://oekonux.de/liste/archive/msg12863.html> und will das hier nicht wiederholen.

Nein, nicht unser Denken, sondern die gesellschaftlichen Strukturen hindern
uns daran. Deshalb kommt man nicht darum herum, um andere Strukturen
nachzudenken, wie ich und andere hier auf der Liste und anderswo es tun.

Du suchst schon nach Antworten, wo ich (für mich) noch nach den richtigen Fragen suche - denn was nützen richtige Antworten auf die falschen Fragen ... ?

Viele Grüße,
Hans-Gert

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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