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Kapitalistisches Komplexitätsversagen (war: Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?)



Hallo HGG und alle,

On 2010-12-31 12:54, Hans-Gert Gräbe wrote:
Und die Zunahme dieser Komplexität und
Vernetztheit ist wohl auch eine der wenigen Konstanten in der
Entwicklung der Menschheit seit wenigstens der neolithischen
Revolution.

Würde ich auch so sehen.

An die Komplexität und Vernetztheit natürlicher Prozesse
kommt das allerdings (noch) in keiner Weise heran - die Natur hatte
dafür ja auch mehrere Mrd. Jahre Zeit, die Menschheit seit der
Sesshaftwerdung nur etwa 11.000. Dafür sind die Resultate schon
erstaunlich.

Das kannst du nicht vergleichen, denn die gesellschaftlichen Formen 
bauen einerseits auf den natürlichen auf und stehen andererseits zu 
diesen (als äußerer Natur) im einem Vermittlungsverhältnis.

Versteht man Komplexität als Einheit von von Differenziertheit und 
Vermittlung, dann kann man sogar sagen, dass der gesamte Prozess seit 
der Entstehung des Lebens (möglicherweise noch davor) ein Prozess der 
Zunahme von Komplexität (Differenzierung und Vermittlung des 
Differenzierten) ist.

Insofern würde ich dir, HGG, zustimmen.

Im Gegensatz zu dir sehe ich aber als eine Grenze des Kapitalismus, mit 
dieser steigenden Komplexität klarzukommen. Dabei vergleiche ich nicht 
den Kapitalismus mit dem gehabten "Realsozialismus" (den ich nicht von 
innen gelernt habe), der zwar real aber nicht sozialistisch oder gar 
kommunistisch war, sondern sich auch in Bezug auf die 
Komplexitätsdimension höchstens als unreifer Kapitalismus erwies.

Als gelernter DDR-Bürger kenne ich auch eine andere produktive
Praxis, die mit dieser "Fragilität" deutlich schlechter zurecht kam
als die heutige. Spannend ist ja, dass, bezogen auf die latente
Fragilität, solche Dominoeffekte selten genug auftreten.

Wer so schreibt, muss vollständig ausblenden, dass die produktive Praxis 
des Kapitalismus Mensch und Natur derartig untergräbt, dass nicht nur 
jetzt eine Milliarde Menschen hungert und noch ein paar Milliarden mehr 
weitere elementare Lebensbedingungen nicht haben etc., sondern auch 
hierzulande Komplexitätsreduktion durch Sphärenspaltung betreibt, so 
dass die kapitalistische Praxis mit dem Drittel von Tätigkeiten 
klarkommt, die direkt über die Wertform laufen, indem sie die anderen 
für seine Logik "fragilen" zwei Drittel abspaltet.

Da war der Staatskapitalismus der DDR ja noch komplexer, weil der die 
Betriebe gezwungen hat, lauter unnütze und unproduktive Sperenzien zu 
finanzieren (Kindergärten, Ferienlager etc. -- das kennst du besser), die 
gefälligst in die abgespaltene Sphäre gehören (wo sie ja dann auch 
hinkamen, sobald die Betriebe auf den freien Markt traten).

Der Kapitalismus scheitert an der Komplexitätsproblematik, weil er eben 
nicht in der Lage ist, das gesamte Mensch-Natur-System so zu entwickeln, 
dass a) die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden und b) dies auch 
noch für die nächsten Generationen gewährleistet ist. Er kann mit der 
Anforderung nur durch Komplexitätsreduktion umgehen, was Millionen 
Menschen umbringt und die Natur zerstört (als "externale Effekte" 
verbrämt).

Ein ambivalentes Thema - aber was mir gerade in diesen Wintertagen im
Vergleich zu früher auffällt - was früher durch Einsatz von Menschen
bewältigt wurde, wird heute mit viel größerem maschinellen und
organisatorischen Einsatz angegangen, auch wenn die Reproduktion
dieser Vorsorgefähigkeit schon stark unter der Finanzsituation der
Kommunen gelitten hat.

Also die Finanzsituation in Berlin war auch schon vor fünf Jahren 
hoffnungslos, aber da fuhr die S-Bahn im Winter wenigstens noch 
einigermaßen zuverlässig. Gewinn plus öffentliche Vorsorge -- das ist zu 
schlicht zu komplex für dieses tolle System.

Ein Beispiel für solche resilience ist das "Open Source"-Prinzip:
bei proprietärer Software haben die Nutzer/innen Pech gehabt, wenn
der Hersteller die Weiterentwicklung der Software einstellt, bei
Freier Software können sie -- oder jede/r andere -- die Sache
dagegen selbst in die Hand nehmen.

Das ist sehr vereinfacht dargestellt, denn es ist reine Potenzialität
(es "kann" geschehen). Damit es Wirklichkeit wird, müssen auch in
einer PÖ die entsprechenden Ressourcen allokiert werden - entweder
ich mache das selber und habe dann keine Zeit mehr für die mir
wirklich wichtigen Dinge oder es finden sich genügend andere, die
auch leiden.

Ich glaube, ihr verwechselt beide die keimförmige Jetzt-Situation mit 
einer entfalteten commons-basierten Peer-Produktions-Gesellschaft. 
Solange auf _personale_ Lösungen zurückgegriffen werden muss, ist die 
neue Vergesellschaftungsweise entweder untauglich oder noch im 
unentfalteten Stadium (darum ist zu streiten).

Resilienz ist ein Ausdruck von Krise, einer Situation, in der man sich 
vor dem Versagen des Alten schützen muss, weil das entfaltete Neue noch 
nicht da ist. Inwieweit Robustheit und Absicherung in einer freien 
Gesellschaft implementiert wird, hängt vollständig von den Bedürfnissen 
der Menschen ab (nach mehr oder weniger Sicherheit, beschleunigter oder 
langsamer Befriedigung neuer Bedürfnisse etc.).

einer der Gründe, warum viele Firmen Freie Software bevorzugen --
man reduziert seine Abhängigkeit.

Das ist unklar - auch Freie Softwareprojekte können eingehen - es
geht nicht um die Projekte, sondern um das Vertrauen der Firmen in
die Stabilität des Reproduktionszusammenhangs. Siehe oben - "Fülle"
hat unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden
Prophezeiungen zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss
(re)produziert werden.

Exakt. Nur ist es verwunderlich, dass du dieses Vertrauen stets in den 
kapitalistischen Strukturen suchst, anstatt jenseits von diesen.

Der von Christian und mir (mit Varianten) favorisierte Ansatz der 
commons-basierten Peer-Produktion stellt sich dagegen dem 
Komplexitätsproblem in seiner vollen Dimension: Er basiert darauf, dass 
der Logik nach alle Bedürfnisse aller Menschen einbezogen werden und 
dies in gleichem Maße für die jetzige wie für zukünftige Generationen 
(siehe Christians Artikelserie zur Fülle).

Daran gemessen ist deine Problembetrachtung total unterkomplex.

Du suchst schon nach Antworten, wo ich (für mich) noch nach den
richtigen Fragen suche - denn was nützen richtige Antworten auf die
falschen Fragen ... ?

Was nützt die falsche Suchrichtung nach den notwendigen Fragen?

Ciao,
Stefan

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