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Hallo Hans-Gert,

ich fürchte diese Dinge scharf und hinreichend vollständig und
systematisch auszudiskutieren fehlt uns hier der Raum, wohl auch die
Zeit. 
Ich will an dieser Stelle nur schnell folgende Dinge anmerken:  


Am 05/02/10 15:56, schrieb Ludger.Eversmann
1) zu Fortschritt: da sehe ich mich ganz der Programmatik und
Wertbegründung der Aufklärung verbunden und verpflichtet, also ganz
einfach: Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, innerer und äusserer
Friede, parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenwürde,
Sozialstaatlichkeit. Fortschritt heisst: das entweder zu erweitern,
oder wenigstens zu stabilisieren. Das ist nicht so neu. Das wäre
dann
das Maß. Wer würde - normativ! - dagegen argumentieren wollen?

"Da sind wir schon mitten in einer Wertedebatte - und realiter gibt es

neben dem Rechtsstaatlichkeitsansatz wenigstens zwei weitere weit
verbreitete Leitwerte: das der Verteilungsgerechtigkeit (zentral für
weite Kreise der Linken) und das der Nachhaltigkeit (zentraler
Diskurspunkt für grüne Ansätze). Auch wenn normativ vielleicht nicht
gegen deinen Wertekanon argumentiert würde, bei realen Zielkonflikten
fallen dann doch einige deiner hier aufgelisteten Werte hinten runter.

Allerdings siehst du das wohl auch so:"

... dafür zu argumentieren, dass es ein allgemein anerkennbares,
normativ verstandenes Maß für "Fortschritt" (in diesem hier
angedeuteten, kulturhistorischen Sinn) nicht geben kann. -

Nachhaltigkeit ist auch für mich ein sehr wichtiges Prinzip, es gehört
aber deshalb auf eine andere Ebene, weil es ein abgeleitetes, und auch
vom historischen Kontext in seiner Wichtigkeit
möglicherweise schwankendes Prinzip ist, aktuell ist Nachhaltigkeit
wesentlich lebenswichtiger (wegen der ökologischen Problematik) als
vielleicht vor der Industrialisierung, jedenfalls im Sinne
der Vermeidung von Umweltbelastungen. Verteilungsgerechtigkeit ist
ebenfalls ein vermitteltes, abgeleitetes Prinzip, und deshalb sicher
nicht weniger wichtig, aber an anderes Stelle zu nennen; aber da haben
wir oder ich sicher keine grosse Differenz.       

Du hast mich allerdings völlig missverstanden, was meine Position zu
einem allgemein anerkennbaren Mass für Fortschritt angeht: ich habe
geschrieben, ich lade jeden ein, dagegen zu argumentieren, dass es so
etwas (allgemeines Mass... ) geben kann, weil ich glaube dass so ein
Argumentationsversuch letztlich in einen performanten
Selbstwiderspruch gerät, so würde ich mal behaupten wollen (mit Bezug
auf die bekannte Argumentationsfigur der Diskursethik): weil so eine
Argumentation letztlich die schon in der Sprache, in der Möglichkeit
des verständigungsorientierten Räsonnierens angelegten
Verallgemeinerungs- und Intersubjektivitätsansprüche würde verneinen
oder verleugnen müssen.    

Du  schreibst:

"Einen tragfähigen Fortschrittsbegriff wirst du also nur bekommen,
wenn
du die *Privatheit* der Leitwerte (Freiheit fehlt interessanterweise
in
deiner Aufzählung) als Ausgangspunkt nimmst und die daran anknüpfenden

Kohärenzprozesse mit im Auge behältst. Ich habe das in meinem Aufsatz
"Wie geht Fortschritt?" genauer ausgeführt. Im Übrigen - im Zuge einer

Kontroverse mit den Herausgebern einer linken Zeitschrift - erweitert
um
Überlegungen zur 11. Feuerbachthese, nach der die verschiedenen
Interpretationen der Welt durch die Philosophen zweitrangig seien,
denn
"es kömmt darauf an, sie zu verändern"."

Was ist "Privatheit" der Leitwerte? Beliebigkeit? das kann es eben
nicht sein, deshalb habe ich diese Werte genannt deren Verbindlichkeit
eben schlechterdings von niemand verneint oder bestritten werden kann,
der nicht letzten Endes die in der Sprache selber schon
angelegten Intersubjektivitätsnormen würde bezweifeln wollen, die
Grundlage der Verständigung selber sind, und auch Grundlage eines
jeden friedlichen Zusammenlebens. Ohne Vernunft, ohne Verständigung,
ohne allgemein anerkennbare Normen haben wir nur den Ausweg
gewalttätiger Auseinandersetzung, den gewalttätigen Kampf nicht
kooperations- und verständigungsfähiger Akteure. 

Warum fehlt Freiheit in meiner Aufzählung - weil Freiheit ein in der
letzten Zeit zu sehr von Wirtschaftsliberalen in Beschlag genommener
Begriff ist, als dass man ihn ohne mitgelieferte Begriffsbestimmung
verwenden könnte, für meinen Geschmack; im übrigen lässt sich das aus
dem übrigen was ich genannt habe unschwer ableiten, dass und in
welchem Sinne damit eben auch Freiheit gemeint ist, zum Beispiel eben
auch so, als Autonomie des Willens gegen die Heteronomie wirkenden
Ursachen: das heisst die naturwüchsige Mangelhaftigkeit der
Lebensumstände zu überwinden, und letzten Endes auch das: nicht mehr
an die Einförmigkeit der 40-Tage-Woche gefesselt zu sein, als
Regelinstitution sozusagen, also an dieser "milden Krankheit" zu
leiden, wie - finde ich - Frithjof Bergmann das sehr schön umschrieben
hat.  
        
"Diese Verrechtlichung ist nämlich eine inhärente kulturelle
Errungenschaft der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur, in
vorkapitalistischen Gesellschaften gab es die meisten der
Institutionen
nicht, und selbst die existierenden konnten bei genügender Machtfülle
leicht außer Kraft gesetzt werden. Auch dies normativ (!) - dass in
der
*Praxis* dieser Gesellschaft die Rechtsinstrumente oft ebenso
ausgehebelt werden, ist eine andere Frage."

ja was nun - für oder gegen rechtsstaatliche Verhältnisse? es kann
sein, das in einem konkreten, hier oder da geltenden Rechtkorpus
Verhältnisse materialisiert sind, die eben nicht GERECHT sind, also
anerkennbaren höheren Rechtsnormen eben nicht genügen, daraus kann man
aber offensichtlich keine Argumente gegen Rechtsstaatlichkeit an sich
ableiten.

"Allerdings ist dein Wertekanon stark ordnungsrechtlich aufgeladen,
während in dieser Gesellschaft - gerade an deren Basis - vor allem
vertragsrechtliche Instrumente die zentrale Rolle spielen. Die
Wertkategorie ist - wenigstens heute - ein inhärentes Moment dieser
vertragsrechtlichen Instrumente, und Eigentum wird dabei benötigt, um
Schuldfähigkeit und damit Verantwortungsfähigkeit zu reproduzieren,
wie
ein Blick auf die Systematik des BGB zeigt. Wenn dir
Rechtsstaatlichkeit
wichtig ist, dann müsste man also erst mal schauen, wie die
Wertkategorie dort wirklich drin hängt - jenseits
traditionsmarxistischer Mantras. Habe ich versucht mit meinem Aufsatz
"Arbeitswerttheorie - ein dezentraler Ansatz"."

Also Deinen Aufsatz habe ich nun leider noch nicht lesen können. Mein
Wertekanon: ich habe nun hier ziemlich aus dem Ärmel mal was genannt
und aufgezählt, das ist aber sicherlich nicht vollständig und "mein
Wertekanon". Zum Eigentum: da bin ich allerdings ziemlich klar der
Auffassung, dass man "das Eigentum" nicht - als diesen in
"kapitalistischen" Verhältnissen so prägenden Sachverhalt - durch
Eingriff in Rechtsbegriffe oder Rechtsnormen loswerden wird, sondern
eben wohl erst durch genau das was hier doch das Generalthema ist: es
gibt eben diese sich langsam herausbildenen "Produktionsmittel", die
gewissermassen von Natur aus die "Öffentlichkeit" einverleibt haben,
die als privates Kapital einfach keinen Sinn machen, nämlich zum
Beispiel ein "Netz der Dinge", wenn es denn mal eines Tages in
hinreichendem Umfang zur Verfügung stehen sollte. Dagegen etwa eine
Lampenfabrik eines privaten Unternehmers aus dessen privater
Verfügungsgewalt durch Veränderung des Eigentumsbegriffs in
Gemeineigentum überführen zu wollen ist ähnlich sinnlos wie ein je
privates Aussenministerium... das hat allerdings lange gedauert, bis
das begriffen worden ist. Das stimmt schon. 

... Wissen, Kultur, Vernunftgebrauch lassen sich verstehen als in
einer Sprachgemeinschaft herausgebildete Handlungs- und Denkweisen,
die an dieser regulativen Zielidee - Erhebung des Willens... -
orientiert sind.

""Willen" im Singular ist dann aber kontraproduktiv. Kant
unterscheidet
ja den "öffentlichen Gebrauch der Vernunft im Raisonnieren" und den
"privaten Gebrauch der Vernunft im Handeln", wobei - neben externen
Naturphänomenen, von denen sich, im Sinne der von dir zitierten
Kantschen Formel, die Menschheit versucht zu befreien - allein
zweiteres
die Quelle der Konflikte dieser Welt ist."

Das hast Du mich ebenfalls falsch verstanden: ich hatte das hier als
kurze Referenz auf das oben angeführte Kant-Zitat verstanden.
Was Quelle der Konflikte dieser Welt ist - das ist eine grosse Frage,
ich würde eigentlich sagen zu gross, oder besser: viel zu sehr
unterspezifiziert, als dass sie sinnvoll und mit Erkenntnisgewinn
beantwortet werden könnte. Die Konflikte der Welt - ja dann noch
gleich die Frage mitbeantworten, was die Quelle des Leids der Welt
ist... und dann noch schnell sagen was all die schlechten Dinge sind,
die schaffen wir dann ab und dann ist alles gut. I saved the world
today - the bad things went away. So sah das ja schon glasklar und
hinreichend präzise Annie Lennox mal, in den 90ern. 

"Ob ein solcher Konstruktivismus

Also: Schöpfung von Zuständen der Lebensbedingungen, die begründeten
bzw. begründbaren Rechtfertigungsansprüchen zugänglich sind - ich
sehe den Fortschrittsbegriff hier ganz gut aufgehoben, und fühle
mich
damit ganz wohl.

angesichts der zunehmend deutlicher werdenden Probleme der
Industriegesellschaft überhaupt noch zeitgemäß ist, sei dahingestellt.

In meinem "Chemnitzer Thesen" wird das sehr problematisiert. Ich stehe

da weitgehend auf den Positionen des "Potsdamer Manifests".

ja schön, und der Konstruktivismus ist eine philosophische Schule, ein
Programm, mit einer Reihe von Vertretern und Veröffentlichungen, und
er bemüht sich um Klarheit des Denkens und der Orientierungen, und
solche Bemühungen sind angesichts der "deutlicher werdenen Probleme
der Industriegesellschaft" sicher nicht weniger zeitgemäss...  im
übrigen ist es nicht meine Absicht den Konstruktivismus hier als
grosse Heilslehre vorzuführen, sondern ich beziehe mich darauf, weil
ich der Auffassung bin dass hier gut entwickelte und begründete
Positionen zu finden sind, mit denen ich mich würde identifizieren
wollen oder können.      

Ich denke wir sind uns wenigstens in diesem Punkt einig, dass es
diese unternehmerische Führungspersönlichkeit nur noch sehr
ausnahmsweise gibt (ausser Herrn Grupp von der Trigema), dass sich
auch wohl nicht mehr eine neue Branche auftun wird, die wiederum
eine
ganz neue Generation von solchen Unternehmerpersönlichkeiten
hervorbringt, und dass dann immerhin dieser Indikator für ein sich
andeutendes Ende des K. als solcher anerkennbar sein könnte.

"Ich denke und sehe in meinem Umfeld, dass es diese "unternehmerische
Führungspersönlichkeit" im klein- und mittelständischen Bereich sehr
wohl noch gibt und unternehmerische Elemente auch im Bereich der
Lohnarbeit zunehmend Einzug halten. Hier wird man doch etwas genauer
hinschauen müssen."

Bitte mal die DAX-Unternehmen durchgehen und nachzählen, welche von
denen eigentümergeführt sind, und dann auch in der Weltwirtschaft. Der
klein- und mittelständische Bereich ist eben nicht prägend, und wir
sind auch eben nicht mehr in einer Phase der Wirtschaftsentwicklung,
in der in irgendeiner Banche diese kleinen und mittleren Unternehmen
die Chance hätten, so gross und bedeutend zu werden, wie seinerseits
eben die Krupps und Thyssen, Siemens, Neckermann, Schickedanz und
Grundig etc etc. Selbst in der jungen Software-Branche ist die Zeit
der Gründer offenbar schon vorbei, und wo wäre die neue aufstrebende
Branche, von der man erwarten könnte dass sie Unternehmen von der
Bedeutung und Grösse wie SAP oder Apple oder Oracle hervorbringt?  die
Wirtschaft ist weltweit geprägt von Überkapazitäten, und von einem
grotesken Überwiegen der arbeitsparenden Prozessinnovationen über die
arbeitverbrauchenden Produktinnovationen, oder wo siehst Du die
"Killerapplikation", die die Konsumnachfrage plötzlich so in Wallung
bringt, dass sie einen neuen Aufschwung initiieren könnte? dann hast
Du die Finanzkrise und die sich jetzt anbahnende Immobilienkrise
offenbar nicht verstanden.       

3) Der K., die industrielle Revolution begann - sehr verkürzt
gesagt,
vgl. etwa Max Weber etc. - mit der durch natur- und
ingenieurwissenschaftliche Erfolge und Entdeckungen gesteigerten
materiellen Produktion, ...

"Da hast du allerdings ein sehr verkürztes Bild von Kapitalismus - du
reduzierst ihn auf eine einzige Kondratjewwelle, während er, auch
schon
in Marxens Sicht, eher die Schlange ist, die sich immer wieder häutet,

um grundlegend neue technologischen Herausforderungen durch einen
grundlegenden Umbau aller Institutionen zu meistern. Nicht umsonst
heißt das Buch von Altvater "Ende des Kapitalismus, *wie wir ihn
kennen*".

Kapitalismus in diesem Verständnis (insbesondere auch die Wirkung der
kap. Warenkategorie) lassen sich mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen,

in denen sich die Schlange, nach den einschlägigen Vorstellungen,
wenigstens fünfmal gehäutet hat. Warum soll es gerade heute anders
sein?
Das braucht zumindest weitere Argumente. In der PÖ-Debatte weicht man
diesen meinen Nachfragen konsequent aus. Die Wertkategorie ist dort
nämlich, nach meinem Verständnis, mit Händen zu greifen, wenn man
beginnt, auch nur ein Moment von Verbindlichkeit hineinzudenken."

Die Kondratiew-Welle. Na sowas. Es gab eben genau das, es gab ein paar
Innovationen auf der Produktionsseite, die - bei vorhandener
Nachfrage! - die Produktionsmöglichkeiten ausgeweitet haben, da gab es
einen Aufschwung, dann gab es ein paar Innovationen auf der
Produktseite, irgendwas was alle haben wollten, Fernseher und
Waschmaschinen, dann gab es einen Aufschwung, und es gab ein paar
Faktoren von ganz ausserhalb des
Wirtschaftsgeschehens, nämlich kriegerische Auseinandersetzungen, und
Krisen aufgrund von überproportionalen Kapitalanhäufungen gab es auch
schon einmal, aber im wesentlichen befindet sich die
weltwirtschaftliche Entwickluing genau da, wo John Maynard Keynes z B
sie schon in den 1930er Jahren für die Zeit ab den 1970er Jahren
erwartet hat: in einer Phase sättigungsbedingt sich nachhaltig
verlangsamenden Wachstums, und immer mehr alle potentielle Nachfrage
weit überschiessender Produktionsmöglichkeiten, bei Vollbeschäftigung.
Das ist erstaunlicherweise nur in den aufstrebenden Industrienationen
China und Indien nicht so, und alle Welt rätselt, wo die ihre
traumhaften Wachstumsraten hernehmen: na vielleicht einfach deshalb
weil die sich einer Phase befinden, in der wir vor 50 Jahren
gesteckt haben, die fangen eben jetzt erst an, den Menschen das Glück
des satten privaten Konsums mit Autos und Flachbildfernsehern in die
Haushalte zu bringen. Da gibts dann ordentlich was in die Hände zu
spucken. Wir haben das aber längst hinter uns, und das wird wohl keine
neue Kondratiewwelle mehr gross ändern. Ich habe mal im FREITAG
geschrieben dass ich mir nur von der "Marx-Maschine", dem Fabber
vorstellen könnte, dass der so eine Killer-Applikation ist, die
dann plötzlich alle haben wollen. Das Problem ist dann aber nur:
das Ding kann sich dann eben auch selber herstellen! RepRap-Projekt.

Dann wirds nix mehr mit Vollbeschäftigung und gehäutetem Kapitalismus.
     

Viele Grüsse,
Ludger

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