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[ox-de] Re: [ox-de] Ökonux und Politix



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Guten Tag zusammen, guten Tag Hans-Gert. 

1) zu Fortschritt: da sehe ich mich ganz der Programmatik und
Wertbegründung der Aufklärung verbunden und verpflichtet, also ganz
einfach: Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, innerer und äusserer
Friede, parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenwürde,
Sozialstaatlichkeit. Fortschritt heisst: das entweder zu erweitern,
oder wenigstens zu stabilisieren. Das ist nicht so neu. Das wäre dann
das Maß. Wer würde - normativ! - dagegen argumentieren wollen? Ich
verweise hier einmal auf das in der Diskursethik verwendete Argument
des performativen Selbstwiderspruches, und lade einfach jeden
ein, dafür zu argumentieren, dass es ein allgemein anerkennbares,
normativ verstandenes Maß für "Fortschritt" (in diesem hier
angedeuteten, kulturhistorischen Sinn) nicht geben kann. -

In einem trennungsschärfer definierten -
vielleicht wissenschaftstheoretischen, philosophischen - Sinne würde
ich mich dem Konstruktivismus zuordnen, in der Variante nach Peter
Janich Methodischer Konstruktivismus, oder Methodischer Kulturalismus.
Da finde ich auch einen Fortschrittsbegriff ganz gut und brauchbar -
im Sinne einer Handlungsorientierung - definiert. Ich hatte hier auch
schon einmal die Kantsche Formel "Erhebung der Autonomie des Willens
gegen die Heteronomie der wirkenden Ursachen" zitiert. Wissen, Kultur,
Vernunftgebrauch lassen sich verstehen als in einer Sprachgemeinschaft
herausgebildete Handlungs- und Denkweisen, die an dieser regulativen
Zielidee - Erhebung des Willens... - orientiert sind. Also: Schöpfung
von Zuständen der Lebensbedingungen, die begründeten bzw. begründbaren
Rechtfertigungsansprüchen zugänglich sind - ich sehe den
Fortschrittsbegriff hier ganz gut aufgehoben, und fühle mich damit
ganz wohl. So etwas zu benennen, zu formulieren und zu begründen,
heisst nicht, zu diktieren: ganz im Gegenteil. Es geht um das
Argument, wir befinden uns im Diskurs, wir argumentieren, aber
diktieren nicht, und verunglimpfen und beschimpfen auch nicht, nach
Möglichkeit. Ich unterstelle mal da sind sich hier alle einig.  
               
2) Kapitalismus am Ende: ich hatte auch dazu kurz meine Auffassung
angedeutet, dass wir es im Kern oder im wesentlichen mit einem
Reifeproblem des Kapitalismus zu tun haben, also nicht mit einer
Problemstellung die aus einer Fehlleistung oder Funktionsstörung des
K. stammt, sondern im Gegenteil aus seinem Erfolg, der in der bis an
die Sättigungsgrenzen erreichten Güterausstattung der Haushalte
besteht, dies jedenfalls in den entwickelten Industriestaaten des
"Westens". Angesichts weltweit gesättigter Konsumgütermärkte und daher
schwindender produktiver Investitionsmöglichkeiten für weltweit
gigantisch angewachsene Anlagekapitalströme kommt es zu immer mehr
spekulativen und auch immer mehr destruktiven, auch betrügerischen
Transaktionen. Als recht schlechtem Marx-Kenner ist es mir leider
nicht möglich, auf die Textstelle zu verweisen, in der Marx einen
Werte- und Moralverfall des kapitalistischen Führungspersonals
voraussagt, der mit dem Ende des Kapitalismus einhergeht. Aber es gibt
m. W. diese Einschätzung Marxens. Aber auch ein ganz und gar
unmarxistischer Ökonom wie etwa Joseph A. Schumpeter sah 1. ein Ende
des Kapitalismus, und 2. eben auch eine Art von "Degeneration" seines
Führungspersonals voraus, wenn auch nicht unbedingt in Gestalt
krimineller oder betrügerischer Neigungen, sondern als Verfall der
eigentlichen unternehmerischen Führungsqualifikationen. Schumpeter sah
das Ende des K. auch mit dem Übergang der Führung Mehrheit der
Unternehmen der Weltwirtschaft in "anonyme" bezahlte auswechselbare
Führungsmannschaften gekommen, wenn der K. also nicht mehr
mehrheitlich vom Ethos der Unternehmerpersönlichkeit geprägt ist, die
das Wohl und Wehe des ganzen Unternehmens mit dem Wohlergehen der
eigenen Person und dem ganzen eigenen Lebensschicksal verknüpft. Ich
denke wir sind uns wenigstens in diesem Punkt einig, dass es diese
unternehmerische Führungspersönlichkeit nur noch sehr ausnahmsweise
gibt (ausser Herrn Grupp von der Trigema), dass sich auch wohl nicht
mehr eine neue Branche auftun wird, die wiederum eine ganz neue
Generation von solchen Unternehmerpersönlichkeiten hervorbringt, und
dass dann immerhin dieser Indikator für ein sich andeutendes Ende des
K. als solcher anerkennbar sein könnte.  

K. am Ende heisst m. E. nicht: K. hat versagt, K. ist eine
Fehlkonstruktion oder Ähnliches, sondern: K. hat seine historische
Aufgabe erfüllt, das Programm des K. ist sozusagen abgearbeitet. Das
bestand in der Güterproduktion bis zur Sättigung zum einen, und der
Hervorbringung der neuen Produktionsmittel, die es erlauben, den K.
abzulösen, zum andern. Dazu gibt es ein sehr schönes Marx-Zitat: "Eine
Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte
entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere
Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die
materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten
Gesellschaft ausgebrütet sind. Daher stellt sich die Menschheit immer
nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich
stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die
materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens
im Prozess ihres Werdens begriffen sind." (aus dem Vorwort zur Kritik
der Politischen Ökonomie)  Produktionsverhältnisse, in den beigetragen
wird, statt getauscht, sind höhere Produktionsverhältnisse.           

3) Der K., die industrielle Revolution begann - sehr verkürzt gesagt,
vgl. etwa Max Weber etc. - mit der durch natur- und
ingenieurwissenschaftliche Erfolge und Entdeckungen gesteigerten
materiellen Produktion, also durch mechanisch-maschinelle
Unterstützung, und durch dieser Maschinennutzung angemessene
betriebliche Reorganisationen ("Taylorismus"), in der Summe bzw. im
Resultat mit gewaltigen Steigerungen der
Arbeitsproduktivität. In seiner Blüte war das Programm des K.
gewissermassen die massenhafte Ausstattung der privaten Haushalte mit
am Fliessband gefertigter Massenware. Es ist den sehr gut und breit
belegten Argumentationen der Verfechter der sog. "Mass Customization"
(ich nenne stellvertretend für viele F. T. Piller) ab den 1990er
Jahren gut zu entnehmen, welche ökonomischen Zwänge mit zunehmender
Marktsättigung auf der einen und ganz neuartigen technischen
Möglichkeiten auf der anderen Seite dann dazu führten, dass sich "der
Kern der Wertschöpfung zunehmend ans Ende der Wertschöpfungskette"
verlagert hat, dass sich also eine zunehmende Verzahnung von Kunde und
Konsument ergeben hat, bis zu einer regelrechten Kooperation. Auch
ganz technisch gesehen ist der denkbare Gipfel einer solchen
Kooperation und Verschmelzung eben gegeben mit der "Losgrösse-1-
Fertigung" mit dem Personal Fabricator, und aus diesem - sicherlich
noch sehr akademisch-theoretischen - Grund muss diese
Fertigungstechnologie zusammen mit Internettechnologien und Open
Source-Ideen im Kern der Überlegungen stehen, wie eine
nachkapitalistische Wirtschaftsordnung aussehen könnte. Es ist
vollkommen klar, das nicht im Zuge von 1. Mai-Revolten und politischen
Machtusurpationen solche Zustände geschaffen werden können, die
innerhalb von 14 Tagen den K. dann weltweit ablösen. Aber es ist klar,
dass sich andere Ordnungsprinzipien und andere Lebens- und
Existenzsicherungsmodelle ergeben werden und ergeben müssen als die,
an der marktwirtschaftlich vermittelten Wertschöpfung durch
massenhafte industrielle Warenproduktion beteiligt zu sein. Da durch
diese genannten Technologien - Fabber und Netze - es prinzipiell
möglich ist, von der wertschöpfenden Zentralinstitution
"Warenproduktion und -tausch" zur Institution "Beitragen von
konstruktiver Leistung" überzugehen, finde ich dieses Motto "Beitragen
statt Tauschen" sehr plakativ und hilfreich. Aber klar ist natürlich
auch, dass damit nicht schon alles gesagt ist, und noch lange nicht
klar ist, wie eine "post-kapitalistische Gesellschaft" nun ganz
konkret und im grauen Alltag aussehen und funktionieren soll, und wie
all diese unverzichtbaren Leistungen hergestellt und zur Verfügung
gestellt werden sollen, ohne die das menschliche Zusammenleben auf
einem menschenwürdigen Niveau offenbar nicht funktionieren kann.
            

4) Dass mit der gegenwärtig diskutierten US-Immobilienkrise sich das
Platzen einer Blase ankündigt, deren Ausmass die gerade erlebte
Finanzblase um ein mehrfaches übersteigt, und dass die finanziellen
Mittel der Ökonomien der Welt ein solches Platzen dann mit genügend
Finanzmitteln aufzufangen ja gerade erst durch die vorangegange
Finanzkrise äusserst strapaziert sind, dieser Hinweis war vor nicht
langer Zeit im Revolverblatt SpON zu lesen. Wenn man auch nicht
unbedingt alles glauben sollte was in dieser Unterabteilung des
ehemaligen Nachrichtenmagazins zu lesen ist: man kann ja nicht
ausschliessen dass die auch mal recht haben. Jedenfalls kann man
hier http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/
0,1518,689786,00.html ja noch mal nachlesen. Überschrift: "Das macht
schon nervös".     

Hier ist der Tenor aber auch nicht schlecht: "Die Katastrophe, die
Analysten schon seit einiger Zeit haben kommen sehen, ist
eingetreten.."
http://www.fondsvermittlung24.de/us-immobilienkrise.html


Mehr wollte ich an der Stelle zu diesen Dingen nicht sagen.
Raushängende Kleinbürger pflege ich eigentlich nicht zu diskutieren.
Dass Sachverstand erforderlich ist auch enorm richtig. Und in der Zeit
der grossen Suche wäre es eigentlich kein grosser Schaden, auch
mal zum Finden zu kommen. Wobei ich - ich jedenfalls - das Finden so
sehen würde, dass es konstruktive Bauteile zu finden und zu entdecken
gibt auf der grossen Suche, die sich zu einem grösseren Ganzen
zusammensetzen oder weiterentwickeln lassen. Das kann dann aber ruhig
auch mal so sein - wenn es sich denn um einen erklärenden
theoretischen Aussagenzusammenhang handelt - dass man dem das Prädikat
"Geschlossen" verleihen könnte. Fände ich keine Schande. Bei Paul
Lorenzen z B könnte ich mich ganz präzise informieren, was mit
theoretischer Geschlossenheit gemeint sein könnte, nämlich einfach die
Einhaltung einer Reihe von eigentlich ganz plausiblen Regeln bei
der Theoriebildung. Das ist nichts Verwerfliches, auch nichts
Diktatorisches.

Wünsche einen schönen 1. Mai verlebt zu haben.

Viele Grüsse,
Ludger



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de


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