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Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Hallo El Casi und Stefan

El Casi wrote:
Das ist ja ein herzlicher Ton, der sich hier wieder breitmacht!

So lange ich zurückdenken kann war es auf Oekonux immer so, dass
Reflexionen über die gemeinsame Praxis von flames begleitet waren, warum
sollte es also diesmal anders sein?

Ernsthaft - ich denke, dass eine gewisse emotionale Höhe der Debatte
solcher Aspekte nicht zu vermeiden ist und (aus Gründen der
Nachhaltigkeit der Ergebnisse) auch nicht vermieden werden sollte. Es
sind dabei psychologische Komponenten präsent - und die kann man
versuchen zu reflektieren oder eben unreflektiert wirken lassen.

Wenn ich für die Selbstdimension von ersterem den - zugegeben
provokanten - Begriff "kollektive Psychotherapie" verwende, dann ist das
auch eine Form des Protests gegen den allgegenwärtigen pejorativen
Gebrauch des Worts "Psychotherapie". Warum uns *diese* Gesellschaft
(u.a.) durch eine solche pejorative Konnotation die "kollektive
Psychotherapie" ausreden will ist m.E. mehr als evident.

s.mz: Ich sagte nur deutlich aus, dass ich daran kein Interesse
habe und dass ich die Idee einer "kollektiven Selbsttherapie" für
verfehlt halte, weil sie im Kern eine Psychologisierung
gesellschaftlicher Phänomene bedeutet.

Hier bin ich zumindest gespannt, ob das wirklich so ist. Besser 
gesagt, ob Hans-Gert das wirklich so meint.

Doch, das meine ich ähnlich ernst wie die These von der "pubertären
Form". Weil du an das (psychologische) Phänomen des "blinden Flecks"
nicht selbst rankommst und deshalb ein erfahrener Psychotherapeut in
derartigen Fragen an sein Selbst immer einen Kollegen zu Rate ziehen
wird, dem er vertraut. Deshalb spielt auch Supervision im
therapeutischen Bereich als "Therapie der Therapeuten" strukturell eine
sehr große Rolle. Und sie nennen es nicht so - aber das, was Stefan
Merten und Franz von ihren "Anwälten" erhoffen und erwarten (siehe
OekonuxWiki/Forum), ist in der Substanz genau dasselbe.

Allerdings verwende ich den Begriff "kollektive Psychotherapie" (k.P.)
und nicht "kollektive Selbsttherapie", denn letzteres (jeder therapiert
sein "je ich") ist genau die "Konstruktion", die psychoanalytisch nicht
funktioniert. Und  k.P. bedeutet auch nicht, dass die einen die
Patienten und die zweiten die Therapeuten sind, sondern jeder ist beides
zugleich.

Das kannst du natürlich auch alles ohne dieses Reizwort formulieren,
aber damit nimmst du m.E. den Druck vom Kessel. So wie übrigens auch
erst mit der Anerkenntnis des Satzes "Diese Gesellschaft macht krank"
die "Heilung beginnt" (im Sinne von Joe Cockers "Let the healing
begin"). Weil du damit an dich heranlässt, dass die Art, wie du bist
(und geworden bist), nicht ein persönlicher, sondern ein struktureller
Mangel ist.

Ich finde die Auseinandersetzung zwischen Euch aber trotzdem 
interessant.  Noch interessanter fänd ich aber auch die 
Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene.

Nun, auch jenseits inhaltlichen Fragen, wo mir nicht klar ist, wie weit
Stefan Meretz die Auseinandersetzung um *mich* interessierende Ansätze
(logischerweise *mein* Maßstab, mein "Ich"-Sagen) wirklich zu führen
bereit wäre (*seine* Entscheidung, sein "Ich"-Sagen), denke ich, dass
allein schon die deutlichere Markierung der Positionen einiger aktiver
Oekonuxis die "Auseinandersetzung" wert ist, um die Potenzen und
potenziellen Bruchstellen von "Oekonux als Projekt" besser zu verstehen.
In den Kontext gehört m.E. unbedingt auch Stefan Mertens
AboutSocialSystems und meine Antwort auf Karl vom 14.9., siehe pox (hier
fiel sie der Moderation zum Opfer, obwohl ich mir beim crossposting
sicher was gedacht habe. Anyway ...). Jedenfalls wird in diesen
"Differenzen in der Einheit" zwischen mir und den beiden Stefans (und
solche bestehen wohl auch zwischen beiden) deutlich, was das
Oekonux-Projekt aushalten muss, allein wenn es uns drei unter seinem
Dach beherbergen soll.

Doch nun zu den inhaltlichen Fragen.

Stefan Meretz schreibt (19.9.)
Der körperliche Mensch _ist_ ein gesellschaftlicher Mensch. Aber 
wie ich anderenorts 
(http://www.opentheory.org/ko-kurrenz/text.phtml#2.1.2) lesen 
musste, bist du gar nicht dieser Meinung.

Wie bitte? Was liest du da raus?

Du meinst wohl "wo". Aus diesem Satz der o.g. Referenz: "Das
Individuum ist daher nicht das gesellschaftliche Wesen, sondern nie
etwas anderes als die Einzelinstanz einer Gemeinschaft."

Ich verstehe nicht, wieso du hier offensichtlich ein Gleichheitszeichen
zwischen "körperlicher Mensch" und "Individuum" setzt - zumal in der
Semantik von (ruben-98) an der von mir zitierten Stelle, wo ja die
Begriffe "Individuum" und "Person" genauestens untersetzt sind.

Möchtest du das Verhältnis von Holzkamp zur Psychoanalyse
diskutieren?

Ja, das interessiert mich sehr.

Annette und du hatten die kategoriale Ebene ja dankenswerter Weise
noch mal deutlich auseinandergepuzzelt. ... Wieso meinst du, dass
derartige intersubjektive Interaktionen in deinen Überlegungen zu "je
meine Selbstentfaltung" mit den Instanzen quasi automatisch
mitgedacht sind?

Eine Psychologisierung halte ich genauso inadäquat wie eine 
informatische Analogiebildung. Trotzdem der Versuch einer Antwort: 
Das konkret-allgemeine "ich" _ist_ das "je ich". Weil ich vermute,
dass diese kurze Antwort - obwohl vollständig - nicht ausreicht, dazu
ein paar Erläuterungen. ...

Zunächst: Ich kann nicht nachvollziehen, wieso du meinst, dass
Informatik und insbesondere Objekt-Modellierung nichts mit Philosophie
und insbesondere mit Konkret-Allgemeinem und Abstrakt-Allgemeinem zu tun
haben. Für mich ist da nicht nur eine Analogie, sondern ich gehe davon
aus, dass man Objekt-Modellierung erst wirklich begreift, wenn man
verstanden hat, dass die dabei erforderlichen Abstraktionen (praktische)
Philosophie *sind*. Exemplarisch (an einer anderen Thematik) sehr schön
ausgeführt in den beiden Aufsätzen der Wittenbergers (Jörg -
Informatiker, Werner - Theologe/Philosoph) im Protokollband der
Chemnitzer Tagung.

Da auch El Casi hier noch einmal nachgehakt und -gefragt hatte,

Also für mich bleibt die Frage auch nach Deinen Erläuterungen
offen:  denn die Erläuterungen führen diese konkreten Beziehungen
nicht begrifflich aus, ...

will ich mal mein Verständnis des philosophischen Hintergrunds genauer
ausführen. Es ist allerdings (schon wieder) eine assoziative
Argumentation, denn, Stefan, ich kann deine Aversion gegen assoziatives
Denken nicht nachvollziehen wie im Übrigen auch nicht deine spezielle
Sicht auf die philosophischen Kategorien "Abstrakt-Allgemein" und
"Konkret-Allgemein". Sind beides doch Abstraktionen (und damit zugleich
Reduktionen - es wird ja *von etwas* abstrahiert), denen assoziatives
Denken vorausgeht. Bevor ich "Baum" denken kann, muss ich schließlich
eine assoziative Verbindung zwischen verschiedenen realen Gewächsen
herstellen. Um dann das Gemeinsame als Abstrakt-Allgemeines
(intentional) abzuheben. Erst dann kann ich das Abstrakt-Allgemeine in
die Welt als Konkret-Allgemeines zurück abbilden und überall da, wo "je
Bäume" sind, diese auch als solche erkennen. Aber auch hier ist der
konkret-allgemeine Baum (Singular) *nicht* der "je Baum" (Plural),
sondern beide Begriffe stehen in einem extensionalen Verhältnis zueinander.

Und genauso stehen "ich" und "je ich" für mich in einem extensionalen
Verhältnis und sind nicht identisch. Wobei "ich" - derselben Linie wie
eben für "Baum" beschrieben folgend - eine Abstraktion ist, die das
Gemeinsame der Selbsterkenntnisprozesse der Menschen benennt und dabei -
selbstverständlich - von gewissen Differenzen absieht. Allerdings nicht
von allen, so wie verschiedene Objektinstanzen derselben Klasse
verschiedene Werte desselben Attributs haben können, das "je ich" aber
dann auf die gemeinsame Existenz des Attributs abstellt und die
(gemeinsamen) Mechanismen, wie das Attribut zu seinem Wert kommt, und
nicht auf die "je Werte" selbst.

Mit diesen allgemeinen "ichs" ist generell "unsereiner" vom Standpunkt 
erster Person gemeint. Dieser allgemeine Standpunkt erster Person ist 
je mein Standpunkt als Subjekt, der den Standpunkt aller anderen als 
Subjekte mit einschließt. 

Hier etwa kommt in deiner Argumentation unvermittelt der Plural auf den
Tisch, um im nächsten Satz sofort wieder in den Singular ("Dieser
allgemeine Standpunkt erster Person") zu verfallen. Aber mein Standpunkt
als Subjekt ist etwas höchst Individuelles, das den Standpunkt aller
anderen als Subjekte nur *in meiner Wahrnahme* einschließen kann.

Sofern der Standpunkt erster Person nicht hintergangen, der
Subjektstandpunkt des Anderen also nicht negiert, sondern voll
akzeptiert wird, ist das Verhältnis zwischen diesen ein 
intersubjektives. Ein instrumentelles Verhältnis hingegen liegt vor,
wenn der Subjektstandpunkt hintergangen oder negiert wird, der Andere 
also nicht wie "meinereiner" ... behandelt wird. 

*Genau* darum ging es mir - dass dieser "Standpunkt erster Person" in
*diesem* Sinne als konkret-allgemeine Kategorie (in seiner
Extensionalität als "je ich") gedacht dazu führt, dass die Beziehungen
zwischen Menschen "von den Enden her" und damit automatisch
instrumentell gedacht werden. Es geht darum, nicht das Ich zu
konstruieren, sondern die Beziehungen. Gehst du vom  "Standpunkt erster
Person" aus, dann steht - ob du das willst oder nicht - dein Ich im
Mittelpunkt und das "Andere Ich" wird - mit allen Konsequenzen - nur
peripher, eben insofern es deiner Entfaltung dient, wahrgenommen.

Da ich davon ausgehe, dass du dich auch entsprechend deinen
theoretischen Einsichten verhältst, ist deine Erwiderung auf meinen
"Erfahrungsbericht" für die konkrete Praxis "Hütten" eine perfekte
Illustration meiner Ausführungen - dass du mir, aus deinem im "je ich"
und damit (war ja eine konkret-spezielle Situation) "ich" wurzelnden
Entfaltungsanspruch *bewusst* meinen Entfaltungsraum nicht gelassen hast
(ich war halt "dreist" etc.) und dabei durchaus instrumentell
("ignorieren", "ansonsten in größtmöglicher Klarheit argumentieren")
vorgegangen bist.

Bitte - ich bemerke das alles ohne jede Bitterkeit; mir geht es einzig
darum, das alles zu analysieren und einen Punkt in deiner Theorie
anzugreifen, der dich zu einer solchen mir gegenüber ignoranten Praxis
führt, die ich - mit Blick auf ihre intersubektive Dimension - mit dem
(provokanten) Wort "ausbeuterisch" bezeichnet habe. Und es wäre mir auch
weitgehend egal, wenn es ein spezifisches, nur an dere einen Stelle zu
beobachtendes Phänomen wäre. Das könnte man dann mal bei einem Bier
besprechen. In unserer Praxis sehe ich aber dieses "Phänomen C"
allgegenwärtig und hinter jeder Ecke lauernd, dass keiner - ich
selbstverständlich eingeschlossen - davon verschont wird.

Die Entfaltung des Einzelnen setzt die Entfaltung aller Anderen
voraus - und umgekehrt. Was aus Sicht von Herrschaftsverhältnissen
wie eine revolutionäre Forderung aussieht (nicht zufällig steht ein
ähnlicher Satz im kommunistischen Manifest als soziale Utopie), ist
aus Sicht der Kritischen Psychologie ein Selbstverständlichkeit,
sofern es sich um intersubjektive und nicht instrumentelle
Beziehungen handelt. Dieses "Selbstverständliche" (oder "Einfache"
wie Brecht es nannte) ist aber schwer zu machen.

Es geht aber - siehe Holzkamps "Werkstattpapier" - nicht um die "je
Entfaltung", sondern darum, Beziehungen zu "produzieren", die eine
positive Rückkopplung zwischen den einzelnen Entfaltungen herstellen.
Bevor wir lernen können, in diesem neuen Sinne "wir" zu sagen, müssen
wir zunächst einmal lernen "ich" zu sagen. Dazu gehört selbstbewusstes
Agieren, das von anderen vielleicht durchaus zunächst auch als "dreist"
wahrgenommen wird (eine solche Wahrnahme in Hütten beruhte ja durchaus
auf Gegenseitigkeit - wie von mir am 4.9. ausgeführt). Erst auf dieser
Basis kann man von einem neuen "wir" als dem "Einfachen, das schwer zu
machen ist" überhaupt sprechen.

Dass es töricht wäre - diese Art gegenseitigen Respekts vorausgesetzt -
vorhandene Instrumente (u.a. die Wertform - selbstverständlich nicht in
ihrer heutigen hypertrophierten Position) *nicht* zielgerichtet
einzusetzen, also der Einsatz von Instrumenten nicht unbedingt ein
instrumentelles Verhältnis bedeutet, will ich hier und heute nicht
weiter vertiefen.

Diese Sachen (ich und wir) sind in meinen Chemnitzer Thesen als sechster
und siebter Sinn drin, denn sie haben ganz offensichtlich auch eine
sinnliche Dimension: Zunächst die Kraft des "Ich" wahrzunehmen, das
letztlich im Machbarkeitswahn des 20. Jahrhunderts kulminiert, und dann
auch noch wahrzunehmen, dass diese (mächtigen) Ichs zu einem (noch
mächtigeren) Wir (siebter Sinn) zusammengeschlossen werden können, was
erst in der Lage ist, die Schäden, die ohne den Gebrauch des siebten
Sinns auftreten, in den Griff zu bekommen.

Viele Grüße, hgg


-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe



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Kontakt: projekt oekonux.de



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