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Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Am Montag, 7. August 2006 20:30 schrieb El Casi:
Jac (2006-08-07 03:43 [PHONE NUMBER REMOVED]):
... Nur gibt es Untersuchungen, die den Hinweis erbringen, daß
andere gesellschaftliche Institutionen andere
Kindheitserfahrungen erfordern (vgl. Lloyd de Mause), als die
Menschen der autoritären kapitalistischen Gesellschaft gemacht
haben.

Das klingt irgendwie fatalistisch: die Leute, die unter
kapitalistischen Verhältnissen aufgewachsen sind, können also
diesen Untersuchungen zufolge nicht an der Entwicklung von
alternativen Institutionen teilhaben bzw. -nehmen?

Sie können alternative Institutionen entwickeln, die jedoch die
kindliche Vorerfahrung und Prägung einzubeziehen haben, solange
Trauer darüber, um die eigene Autonomie betrogen worden zu
sein, nicht bzw. noch nicht möglich war. Um nicht in ein Verhalten 
nach dem Machtmodell zurück zu fallen, sollte als Faustregel die
Wiederholung des Beitrages des anderen Menschen in den eigenen
Worten eingeführt werden, die daß Gegenüber korrigieren kann,
sollte eine feste Redezeit vereinbart werden und jegliche Mißfallens-
kundgebung gegen die sprechende Person unterbunden werden.

HGG würde so etwas "New Culture" nennen. Diese spiegelt jedoch
notwendigerweise erst einmal die Kulturlosigkeit in unstrukturierten
Gruppen einer autoritären Gesellschaft, nicht die freie Gesellschaft.

Dies legt die Vermutung nahe, daß den indianischen Gesell-
schaften sowohl der Historie als auch teilweise der Gegenwart
ein anderer Umgang mit Kindern zugrundeliegt, der diese völlig
andere Erfahrungen machen läßt - um die demokratischen
Institutionen ihrer Gesellschaften später mit Leben zu füllen.

Inwiefern ist dies aber für uns relevant? (Vor allem im
Zusammenhang mit dem oben gemachten statement?) Welche
Unterschiede gibt es denn, die wir bei einem Vergleich der
indianischen mit unserer kapitalistischen Gesellschaft
berücksichtigen müssen?  Ich nehme nicht an, daß Du die `Rasse'
für einen wesentlichen Unterschied hältst.  Kannst Du mit
Sicherheit sagen, daß ähnliche Erziehungsmethoden in Europa nie
eine Rolle gespielt haben?  Kann es nicht sein, daß dies doch
etwas mit der Art und Weise der gesellschaftlichen Reproduktion zu
tun hat?

Erziehung in autoritären Gesellschaften ist gesellschaftliche Re-
produktion - freilich jedoch nicht so sozial-ökonomisch, wie es
einige gewohnt sind. Reiche Menschen, die sich der Solidarität 
mit anderen verweigern und ihr Einkommen nicht dazu verwenden,
notleidenden anderen Menschen zu helfen, sondern es als Beweis
ihrer Macht und ihres Erfolges anhäufen, als Vorbild zu begreifen,
funktioniert nur solange, wie das Machtmodell alle sozialen
Beziehungen direkt bestimmt oder beeinflußt. Sonst wären  jene
hoch angesehen, die anderen Menschen helfen und jeden Cent
ihres höheren Einkommens dazu verwenden, die Not anderer
Menschen abzuwenden - wie es in indianischen Gesellschaften
und Gruppen früher und heute noch der Fall ist 

Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und anderen Menschen, wozu
man fähig ist und wozu nicht, wird um so weniger funktionieren, je
mehr man die eigene Lebendigkeit fürchtet und zur Größe, zum Er-
folg und zur Macht verdammt ist. Zuzugeben,  etwas nicht zu können,
kein Star zu sein, würde beinhalten, eine Schwäche  zuzugeben und
damit möglicherweise der gefürchteten Hilflosigkeit und Ohnmacht
der frühen Kindheit nahe zu kommen, vor der wegzulaufen zum 
größten Teil Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung ist. Indiani-
sche Gesellschaften und Gruppen stellen Aufrichtigkeit gegenüber
sich selbst und anderen in ihren Mittelpunkt - und ächten jedes
Verhalten, anderen etwas zu versprechen, was dann nicht einge-
halten werden kann.

Im grundsätzlichen Respekt anderen Menschen und ihrer Tätigkeit
gegenüber - Erwachsenen, Kindern und Säuglingen - verbirgt sich 
die andere Gesellschaftsauffassung, die sich von der kapitalistischen 
oder europäisch-autoritären Auffassung stark unterscheidet. Ein
Kind zu schlagen, zu demütigen, zu bedrohen oder es durch Entzug
des für es lebensnotwendigen Kontaktes zu manipulieren, um es zu 
einem erwünschten Verhalten zu zwingen, ist für indianische Eltern
mit dem Respekt anderen Menschen gegenüber nicht vereinbar. Dies
ermöglicht es dem Kind, weitaus stärker Vertrauen in die eigenen
Gefühle, Fähigkeiten und Stärken zu entwickeln als autoritär erzogene
weiße Kinder, der eigenen Lebendigkeit zu trauen und sie zum Aus-
gangspunkt der eigenen Entwicklung zu machen. Den Respekt, den
das Kind durch andere Menschen erfährt, lernt es anderen gegen-
über zu zeigen. Kinder, die sich in den Vordergrund drängen, ihre
Eltern durch  flegelhaftes Verhalten oder dazwischen schreien zur
Aufmerksamkeit ihnen gegenüber zwingen wollen - was hier bei
uns schon fast als Teil der kindlichen Natur angesehen wird - ,
kommt bei traditionell "erziehenden" indianischen Familien so gut
wie nicht vor.

In Experimentalschulen und freien Schulen taucht der Begriff des
Respektes der Erwachsenen den Kindern gegenüber seit über 200
Jahren gelegentlich wieder auf - nirgends jedoch ist er in Europa zur 
Massenbewegung geworden.

Der Konflikt mit Christoph spiegelt den mangelnden Respekt der
autoritären kapitalistischen Kultur Menschen gegenüber - verursacht 
durch Kindheitserfahrungen mit Autoritäten. Die Theorie des P/P 
rechtfertigt für Christoph, jenen Menschen keinen Respekt zu 
schulden, die als Preds zu enttarnen sind - ergo allen. P/P zeigt
hier die Funktion, der der Ideologie in einer autoritären Gesellschaft
wie der unseren zukommt - im Grunde asoziales Verhalten als
"vernünftiges Handeln" hinzustellen. Aber ohne gegenseitigen
Respekt ist eine freie Diskussion unmöglich.

Gruss,
Jacob

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