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[ox-de] Situationen statt Personen (was: Re: [ox] Re: Selbstentfaltung vs. Selbstverwertung)



Am Friday 21 July 2006 19:15 schrieb Christoph Reuss:
Dann ist es keine Selbstentfaltung. Sondern "Selbstverwertung". So
nenne ich das als Gegensatz: Sich auf Kosten Anderer durchsetzen.
Das hat nichts mit personalen Eigenschaften zu tun, sondern es
bezeichnet unterschiedliche Dynamiken, die nahegelegt werden
(Selbstverwertung) oder als erweiterte Option zur Verfügung stehen
(Selbstentfaltung).

Eigentlich müsste es "Fremdverwertung" heissen, da Preds mangels
eigenen Schaffens gerade die von Anderen geschaffenen Werke verwerten
("müssen")...

In welcher Form sich Menschen, egal wer, das auf Kosten Anderer 
durchsetzen, ist nicht gesagt. Es ist jedoch kurzschlüssig, anzunehmen, 
es geschehe nur durch das, was traditionell "Ausbeutung" genannt wird 
(Aneignung/Verwertung der Produkte der Verausgabung von Arbeitskraft). 
Es findet genauso statt, wenn du jemanden verdrängst, zum Beispiel bei 
einer "erfolgreichen" Bewerbung um einen Platz zum Verkauf deiner 
Arbeitskraft. Diese allgemeine Struktur ist die der Selbstverwertung: 
Zur erfolgreichen eigenen Verwertung, musst du Konkurrenzverwerter 
erfolgreich verdrängen - egal in welcher gesellschaftlichen Position.

Also nochmal: Selbstverwertung ist _keine_ personale Eigenschaft, 
sondern die gesellschaftliche Struktur legt dir solche Optionen nahe, 
deren Ergreifen andere Menschen beschädigen. Gleichwohl ist es deine 
Entscheidung, diese zu nutzen oder nicht. Das ist keine leichte 
Entscheidung, denn schließlich hängt davon deine Reproduktion ab.

Genau darin liegt die Perversion der Verwertungslogik: Du musst dich 
freiwillig zu etwas entscheiden, was anderen schadet, um deine Teilhabe 
an der Gesellschaft und damit Existenzsicherung zu erhalten. Trotz 
dieser Zwangslage ist und bleibt es deine Entscheidung.

Es sind die je individuellen Gründe, die je mich zur einen oder
anderen Handlungsalternative greifen lassen. Und die können sich
ändern: heute so und morgen anders. Weder "Eigenschaften" noch sein
Pendant, die "Bedingungen", determinieren das Verhalten. Je mein
Verhalten ist begründet, und je ich habe immer die Möglichkeit, so
oder auch anders zu handeln. Ein Denken in "Eigenschaften" ist
völlig unangemessen, wenngleich weit verbreitet.

Und wodurch werden "die je individuellen Gründe" bestimmt, wenn weder
durch Verhältnisse noch durch individuelle Eigenschaften?  Durch
spontane Launen? (Durch den Stand der Gestirne kann's ja nicht sein,
denn der gehört zu den Verhältnissen... und lebende Würfel sind wohl
auch die wenigsten Menschen..)

Da Gründe immer erster Person sind, kann niemand dritter Person - 
also "von außen" - sagen, welche Gründe jemand hat, etwas zu tun oder 
zu lassen. Das kann nur der Mensch selbst sagen, und auch das fällt 
vielen nicht leicht.

In die Gründe fließen eine Reihe von Aspekten ein: Der Ausschnitt der 
objektiven Welt, mit dem je ich es zu tun habe; die subjektive 
Wahrnehmung und emotionale Wertung des Weltausschnitts; die 
deutende/begreifende Abbildung des emotional gewerteteten, subjektiv 
wahrgenommenen Weltausschnitts; die biografischen Erfahrungen; die 
konkreten Handlungsoptionen - soweit bekannt etc. Und vermutlich habe 
ich noch etliches vergessen.

Je meine Gründe "geschehen" mir also nicht, sondern ich "stelle sie 
her". Es ist ein aktiver Prozess, kein passiver. Das bedeutet nicht, 
dass das ein bis ins letzte denkend durchdrungener Prozess ist - ein 
Gefühl ist ja zum Beispiel zunächst mal einfach "da". Erst wenn ich mir 
(vielleicht) überlege, was mir mein Gefühl jetzt sagt, kommt das Denken 
ins Spiel. Auch wenn ich nicht weiter nachdenke, ist es keine "spontane 
Laune", weil auch je meine Gefühle eine Geschichte haben, zu denen ich 
ich verhalte, in die Entscheidungen einfließen etc.

Da es kein Determinationverhältnis gibt, bestimmen weder "die 
Verhältnisse", noch "die individuellen Eigenschaften", sondern es gibt 
Bedingungen (äußere wie innere), zu denen ich mich stets verhalte, 
indem ich begründet entscheide. Diese Entscheidungen finden auch nicht 
erst statt, wenn es darum geht, etwas zu tun (was dann "Verhalten" 
genannt wird), sondern als Mikroentscheidungen permanent: beim Denken, 
beim Fühlen, beim Wahrnehmen, beim Handeln.

Deswegen: wenn du nach schwarz-weiss suchst, dann typisiere nicht die 
Personen, sondern gucke auf die Situationen: Du entscheidest dich, 
jemanden als Lügner zu bezeichnen oder lässt es bleiben. Das hat nichts 
mit deinem Personentyp zu tun, sondern es ist deine begründete 
Entscheidung, für die du die Verantwortung trägst.

Glaubst du wirklich, die individuellen Gründe für Entscheidungen
hätten nichts mit persönlichen Eigenschaften wie z.B. Gier oder
Fleiss zu tun? Das widerspricht der täglichen Beobachtung von
Menschen...

Gier und Fleiss sind keine persönlichen Eigenschaften, sondern 
Beschreibungen von Verhaltensweisen von Personen in bestimmten 
Situationen vom Standpunkt dritter Person - Beobachtungen, wie du 
schreibst, ja. Das sowas gerne verallgemeinert wird bis hin zu 
Eigenschaften von "Völkern", ist schon klar, aber genau das ist der 
Fehler: aus Beobachtungen Eigenschaften zu machen.

Genauso wie eine statistische Angabe über Menschengruppen nichts über 
den einzelnen Menschen aussagt, gibt es "Eigenschaften" (etwa als 
biografisch gemittelte äußere Zuschreibungen) nicht. So etwas trotzdem 
zu tun, hat eher den Zweck, Menschen zu separieren, um dann damit 
Maßnahmen gegen diese Menschen zu rechtfertigen. Das geschieht 
allerdings im öffentlichen Diskurs permanent.

Ciao,
Stefan

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