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Re: [ox] Weltliche Religion



Am Freitag, 12. Mai 2006 15:38 schrieb Stefan Seefeld:
Andreas:
die marxsche theorie mit der äthertheorie in einen zusammenhang zu
stellen ist nicht sehr unlauter, deine aussage ist auch einfach nicht
richtig, und eine verteidigung von marx ist mehr als eine "weltliche
religion".

Jacob:
Dies kann als Deine Auffassung stehen bleiben. Ich dagegen habe einen
durch die Soziologie mit Tatsachen unterfütterten historischen Verlauf
skitziert, der mit der marxschen Theorie bislang unvereinbar ist. Eine
Theorie, die laut Engels angeblich ein Naturgesetz menschlicher Ge-
schichte formuliert, müsste allerdings nach Interpretation der Natur-
gesetze des 19. Jahrhunderts (Erkenntnis der Anfangsbedingungen be-
deutet genaue Vorausberechnung der weiteren Entwicklung und End-
bedingungen!) den historischen Verlauf des 20. Jhds. wiederspiegeln.

Wie kommst Du darauf ? Determinismus und wissenschaftliche Beschreibbarkeit
sind doch nicht Synonym !

Natürlich - und ich verwende sie hier auch nicht als synonym. Insbesondere 
auch deshalb, weil wir heute ein ganz anderes wissenschaftliches Paradigma
haben als im 19. Jahrhundert (siehe Chaostheorie und Systeme zweier Ent-
wicklungswege an jedem Punkt ihrer Entwicklung). 

Engels behauptet, Marx hätte ein Naturgesetz der Geschichte entdeckt (im 
Anti-Düring(?)). Wahrscheinlich geht Engels vom wissenschaftlichen Para- 
digma der newtonschen Physik aus, demzufolge Erkenntnis der Anfangsbe-
dingungen bedeutet, die  Endbedingungen berechnen zu können. Marx be-
legt die Anfangsbedingungen der Konkurrenz der Produzenten untereinan-
der - und nach dem wissenschaftlichen Paradigma Newtons kann aus 
diesen Anfangsbedingungen auf die Endbedingungen geschlossen wer-
den, d.h., die Zuspitzung der Widersprüche und das Umschlagen des Ka-
pitalismus in den Kommunismus ist eine Folgerung aus den Anfangsbe-
dingungen der Konkurrenz der Produzenten.  

Weder Marx noch Engels formulieren andere Entwicklungsmöglichkeiten 
der Geschichte aus, ganz so, als wären beide überzeugt, daß die Historie 
deterministisch ist  und sich gar nicht anders entwickeln kann als von 
Marx aus der Konkurrenz der Produzenten geschlossen (Vielmehr wird in 
den Briefen des Nachlasses fast jede Krise als Anzeichen des Umschlagens 
bejubelt).  Daher hätte das 20. Jahrhundert ganz im Zeichen der Zuspitzung 
der Widersprüche und des Umschlagen des Kapitalismus in den Kommu-
nismus stehen müssen, wenn Marx Theorie zutreffend und laut Engels 
ein Naturgesetz wäre.

Aber stimmen denn die von Marx gegebenen Anfangsbedingungen? Bei
genauer Prüfung finden wir heraus, daß der Staat in seiner merkantilis-
tischen Rolle als Wegbereiter des Kapitalismus (Produktionsnormen als
Voraussetzung zur Entwicklung von Maschinen in der Textilindustrie etc.)
zum Büttel und Anhängsel der Bourgeoisie erklärt wird. Dem Staat spricht
Marx eine eigenständige Rolle auch gegen die Bourgeoisie ab, Recht so
zu setzen, daß die von ihm vorhergesagte Zuspitzung der Widersprüche
gar nicht eintreten kann, weil sie vom Staat in der Wirtschaft unterbunden 
wird  (Kartelämter, Zölle, Subventionen, Militäraufträge, staatliche zivile
und militärische Forschung etc.). 

Demzufolge steht das 20. Jahrhundert ganz im Zeichen des neo-merkan- 
tilistischen Staates, der auf der einen Seite durch Sozialgesetze und auf der 
anderen durch die Gesetzgebung, Zölle, Industriesubventionen, Verstaat- 
lichung, Kartelämter, Kolonien  und Militäraufträge lenkend in die 
Wirtschaft eingreift. An den Staat oder eine Gruppe von Staaten werden
heute sogar Entwicklungsaufgaben neuer Produkte deligiert, die die Indu-
strie später im globalen Wettbewerb nutzt.. Man denke hier nur an die Nano-
technologie, die Raumfahrt und ihre Nebenprodukte, die intelligenten Stoffe 
und Industriefasern oder das Internet, deren Anfänge in der staatlichen
militärischen Forschung zu finden sind. Ein solcher Staat ist bei Marx nicht 
definiert - und demzufolge als historische Entwicklungsmöglichkeit der 
Auflösung der Widersprüche des Kapitalismus m.E. nicht vorgesehen.

Mehr noch, nicht der Staat ist Gehilfe der Bourgeoisie, sondern die 
Bourgeoisie kann nur durch die Gesetzgebung, Normierung und das
Geldmonopol, d.h., durch staatliche Strukturmaßnahmen in aller Ruhe
ihren Geschäften nachgehen. Die Bourgeoisie ist das Fettauge in der
Suppe des merkantilistischen Staates, nicht der Staat das Fettauge
in der Suppe der Bourgeoisie. Die Tatsache, das die Bourgeoisie die
staatlichen Strukturen nutzt und diese ihre Geschäfte ermöglichen,
heißt  nicht, daß der Staat ausschließlich den Interessen der Bour-
geoisie dient - vielmehr dient er der Bourgeoisie und seinem Eigen-
interesse an einem reibungslosen, nicht an sich selbst zugrunde 
gehenden, einer Revolution zutreibenden Kapitalismus, die auch die
Macht aller im Namen des Staates Regierenden in Frage stellen könn-
te. 

Handel und Transport sind bei Marx zu wenig berücksichtigt. Marx
anerkennt einen Mehrwert des Produktes durch die Produktion, der
jedoch erst durch den Verkauf am Markt realisiert und in das Mono-
polgeld des  Staates überführt werden kann. Wertschöpfend sind
für Marx weitgehend die Produzenten, nicht die Transportunterneh-
men, die die Waren zu den Märkten bringen oder die Händler am
Markt. Bewegliches Kapital entsteht zwar in der Produktion, jedoch
vermehrt es sich ungleich schneller durch den Handel, wenn es die
bodenständigen Fesseln der Produktion zurücklassen kann. Dadurch
hat sich die Wertschöpfung im Verlauf des 20. Jahrhunderts von
der Produktion zum Handel verschoben. Motor der Geldvermehrung
ist heute nicht die Produktion, sondern die reinen Handelsgewinne
des Handels mit Optionen des Kauf- und Verkaufsrecht von Aktien,
Devisen und Waren aller Art, allein bestimmt vom Informationsvor-
teil und der Psychologie des Marktes selbst.

Gruss,
Jacob
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Kontakt: projekt oekonux.de



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