[ox] The Next Free Project
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Mon, 28 Nov 2005 08:16:02 +0100
http://www.opentheory.org/immaterial_world_05/text.phtml
Stefan Meretz: The Next Free Project
Was kommt nach Freier Software und Wikipedia?
Der deutsche Mathematiker David Hilbert stellte auf dem
Welt-Mathematikerkongress von 1900 zehn ungelöste Probleme der
Mathematik vor, die er später auf 23 ausweitete. Sie beeinflussten
die weitere Entwicklung der Mathematik erheblich. Auf dem
Wikipedia-Kongress in Frankfurt/M. im August 2005 griff
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales diese Tradition auf und schlug in einem
»Freien Kultur Manifest« vor, worauf die globale Community ihre
Aufmerksamkeit richten möge: »Zehn Dinge, die frei sein müssen«[1].
Die zehn Dinge...
Die freie Enzyklopädie Wikipedia hält Wales für Englisch und Deutsch
für erledigt, Französisch und Japanisch seien fast soweit. Viele
Sprachen würden in den nächsten Jahren folgen, darunter auch solche,
für die es noch nie eine Enzyklopädie gab.
Die Befreiung des Wörterbuchs sei wesentlich schwieriger, da erst ein
weitgehend vollständiges Wörterbuch nützlich sei. Das freie
Online-Wörterbuch Wictionary nehme aber zunehmend Fahrt auf.
Die Befreiung des Curriculums für alle Sprachen sei die Voraussetzung
für eine freie Ausbildung - vom Kindergarten bis zur Universität. Mit
Wikibooks gäbe es hier ein vielversprechendes Projekt.
Mit der Befreiung der Musik hat Wales nicht - wie man zunächst denken
könnte - den freien Tausch von Musikdateien (Filesharing) im Auge,
sondern ihm geht es auch hier um die Herstellung von freier Musik
für alle. Viele klassische Werke stünden bereits als Werke der Public
Domain zur Verfügung, aber für neuere Stücke gelte das noch nicht.
Wales schlägt vor, dass gesponsorte Orchester ihre Werke frei geben
sollten.
Die Befreiung der darstellenden Kunst sieht Wales als Durchsetzung des
Anspruches, Bilder und Gemälde, für die der Urheberrechtsschutz
abgelaufen ist, frei abbilden zu können - zum Beispiel in der
Wikipedia. Museen wollten mit der Begründung, die Bilder seien in
ihrem Besitz, genau das jedoch verhindern.
Die Befreiung der Dateiformate ist für Wales Voraussetzung für die
Durchsetzung Freier Software. Nur wenn die Dateiformate offen lägen
und frei wären, könnten Nutzerinnen und Nutzer ihre Software frei
wählen. Entscheidend sei hierbei die Verhinderung von
Softwarepatenten.
Die Befreiung der Landkarten gewinnt mit den populär gewordenen
Projekten von Google-Earth und World Wind eine wachsende Bedeutung.
Schließlich sei der Platz auf der Erde die »Public Domain«
schlechthin.
Mit der Befreiung der Produktcodes will Wales die Abhängigkeit der
Produktlogistik von einzelnen Unternehmen verhindern. Vorbild ist für
Wales hier das ISBN-System.
Auf die USA bezogen ist die Forderung nach einer Befreiung der
TV-Informationen. Da die Kabelnetzbetreiber in den USA bestimmen
würden, was in den Programm-Zeitschriften erscheine, würden sie
indirekt entscheiden, was im Fernsehen zu sehen sei und auf diese
Weise die Öffentlichkeit beeinflussen.
Die zehnte Forderung nach Befreiung der Communities geht an die freie
Bewegung selbst, sich nicht in die Abhängigkeit von Firmen zu begeben
und auf freien Lizenzen zu bestehen.
Der Stand des Bewusstseins
Die zehn Befreiungsforderungen von Jimmy Wales spiegeln die Debatte in
der sehr breiten und sehr heterogenen freien Community wider. Sehr
wichtige Punkte stehen neben eher fragwürdigen - wie den freien
TV-Informationen. Brennende Fragen sind komplett unerwähnt geblieben
wie zum Beispiel freie Suchmaschinen. In etlichen Bereichen sieht die
Lage eher schlecht aus. So hat die Firma Corbis, die Bill Gates
gehört, die Rechte von etwa 70 Mio. Bildern aufgekauft und betreibt
eine restriktive Lizensierungspraxis.
Sehr interessant ist die Forderung nach freien Produktcodes. Viele
werden sich gefragt haben, was das soll, aber hierbei geht es um die
wenig beachtete Frage nach der Organisation der Produktlogistik.
Dieses Thema ist in Bezug auf eine mögliche gesellschaftliche
Transformation absolut zentral. Soll die Allokation von Gütern nicht
dem blinden Marktmechanismus überlassen bleiben, so ist die
Möglichkeit der globalen Information über und der Steuerung von
Güterströmen ein Dreh- und Angelpunkt. Doch weder Jimmy Wales noch
die freie Community sind in der Lage, über den Status Quo der
Warenform des hier und jetzt hinaus zu denken.
Ökonomisch handelt es sich bei den »Zehn Dingen« um
Entwertungsprojekte. Bislang proprietär unter exklusiver
Privatverfügung gehaltene Informationen sollen nun allen zugänglich
gemacht werden. Ist mit der Allgemeinverfügung einmal die
Voraussetzung der Knappheit[2] entfallen, bricht die Warenform, und
die Verwertung wird schwierig bis unmöglich. Es handelt sich um einen
realen Befreiungsakt - sie wissen es nicht, aber sie tun es.
Mit der ökonomischen Entwertung von Teilbereichen bricht der
Kapitalismus nicht zusammen. Im Gegenteil bedeutet die Entwertung bei
einem Unternehmen eine Kostenentlastung und damit
Überlebensverlängerung bei einem anderen Unternehmen. Damit
unterstützt die freie Bewegung, was sich ökonomisch ohnehin
vollzieht, nämlich den Abbau von Wertsubstanz. Während Unternehmen
aufgrund des ökonomischen Zwangs, den Einsatz von lebendiger Arbeit
stetig zu minimieren, immer weniger Wert erzeugen, entzieht die freie
Bewegung vorhandene Sparten direkt der Verwertung. Der wesentliche
Unterschied ist hierbei, dass der von Unternehmen mit immer weniger
Arbeitseinsatz geschaffene immer größere stoffliche Reichtum
keineswegs den Menschen zur Verfügung steht, während die direkt
entwerteten freien Produkte allen Menschen unmittelbar zu Gute
kommen.
Wer die Freie Software bereits vor einigen Jahren tot sagte, wer
Wikipedia noch letztes Jahr belächelte, hat sich geirrt. Die
Expansion der freien Entwertungsbewegung geht weiter, die
Vernetzungen mit globalisierungskritischen Bewegungen werden
intensiver. Einzelne Länder haben die Potenzen erkannt. Brasilien,
Venezuela, Kuba, Indien - in vielen Ländern ist die Förderung Freier
Software ein Mittel, um sich aus den Klauen der Software-Monopole zu
befreien. Doch auch die Widersprüche und die Gegenwehr des Empires
wachsen - mit Softwarepatenten, Digital Restriction Management und
massiver Propaganda soll die Kontrolle bewahrt werden. Die nächsten
Jahre werden spannend.
Anmerkungen
[1] www.heise.de/newsticker/meldung/62516
[2] Vgl. Meretz, S., Knappheit. Eine Realabstraktion, in: Streifzüge
32/2004, S. 23.
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