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[ox] The Next Free Project



http://www.opentheory.org/immaterial_world_05/text.phtml

Stefan Meretz: The Next Free Project

Was kommt nach Freier Software und Wikipedia?

Der deutsche Mathematiker David Hilbert stellte auf dem 
Welt-Mathematikerkongress von 1900 zehn ungelöste Probleme der 
Mathematik vor, die er später auf 23 ausweitete. Sie beeinflussten 
die weitere Entwicklung der Mathematik erheblich. Auf dem 
Wikipedia-Kongress in Frankfurt/M. im August 2005 griff 
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales diese Tradition auf und schlug in einem 
»Freien Kultur Manifest« vor, worauf die globale Community ihre 
Aufmerksamkeit richten möge: »Zehn Dinge, die frei sein müssen«[1].

Die zehn Dinge...

Die freie Enzyklopädie Wikipedia hält Wales für Englisch und Deutsch 
für erledigt, Französisch und Japanisch seien fast soweit. Viele 
Sprachen würden in den nächsten Jahren folgen, darunter auch solche, 
für die es noch nie eine Enzyklopädie gab.

Die Befreiung des Wörterbuchs sei wesentlich schwieriger, da erst ein 
weitgehend vollständiges Wörterbuch nützlich sei. Das freie 
Online-Wörterbuch Wictionary nehme aber zunehmend Fahrt auf.

Die Befreiung des Curriculums für alle Sprachen sei die Voraussetzung 
für eine freie Ausbildung - vom Kindergarten bis zur Universität. Mit 
Wikibooks gäbe es hier ein vielversprechendes Projekt.

Mit der Befreiung der Musik hat Wales nicht - wie man zunächst denken 
könnte - den freien Tausch von Musikdateien (Filesharing) im Auge, 
sondern ihm geht es auch hier um die Herstellung von freier  Musik 
für alle. Viele klassische Werke stünden bereits als Werke der Public 
Domain zur Verfügung, aber für neuere Stücke gelte das noch nicht. 
Wales schlägt vor, dass gesponsorte Orchester ihre Werke frei geben 
sollten.

Die Befreiung der darstellenden Kunst sieht Wales als Durchsetzung des 
Anspruches, Bilder und Gemälde, für die der Urheberrechtsschutz 
abgelaufen ist, frei abbilden zu können - zum Beispiel in der 
Wikipedia. Museen wollten mit der Begründung, die Bilder seien in 
ihrem Besitz, genau das jedoch verhindern.

Die Befreiung der Dateiformate ist für Wales Voraussetzung für die 
Durchsetzung Freier Software. Nur wenn die Dateiformate offen lägen 
und frei wären, könnten Nutzerinnen und Nutzer ihre Software frei 
wählen. Entscheidend sei hierbei die Verhinderung von 
Softwarepatenten.

Die Befreiung der Landkarten gewinnt mit den populär gewordenen 
Projekten von Google-Earth und World Wind eine wachsende Bedeutung. 
Schließlich sei der Platz auf der Erde die »Public Domain« 
schlechthin.

Mit der Befreiung der Produktcodes will Wales die Abhängigkeit der 
Produktlogistik von einzelnen Unternehmen verhindern. Vorbild ist für 
Wales hier das ISBN-System.

Auf die USA bezogen ist die Forderung nach einer Befreiung der 
TV-Informationen. Da die Kabelnetzbetreiber in den USA bestimmen 
würden, was in den Programm-Zeitschriften erscheine, würden sie 
indirekt entscheiden, was im Fernsehen zu sehen sei und auf diese 
Weise die Öffentlichkeit beeinflussen.

Die zehnte Forderung nach Befreiung der Communities geht an die freie 
Bewegung selbst, sich nicht in die Abhängigkeit von Firmen zu begeben 
und auf freien Lizenzen zu bestehen.

Der Stand des Bewusstseins

Die zehn Befreiungsforderungen von Jimmy Wales spiegeln die Debatte in 
der sehr breiten und sehr heterogenen freien Community wider. Sehr 
wichtige Punkte stehen neben eher fragwürdigen - wie den freien 
TV-Informationen. Brennende Fragen sind komplett unerwähnt geblieben 
wie zum Beispiel freie Suchmaschinen. In etlichen Bereichen sieht die 
Lage eher schlecht aus. So hat die Firma Corbis, die Bill Gates 
gehört, die Rechte von etwa 70 Mio. Bildern aufgekauft und betreibt 
eine restriktive Lizensierungspraxis.

Sehr interessant ist die Forderung nach freien Produktcodes. Viele 
werden sich gefragt haben, was das soll, aber hierbei geht es um die 
wenig beachtete Frage nach der Organisation der Produktlogistik. 
Dieses Thema ist in Bezug auf eine mögliche gesellschaftliche 
Transformation absolut zentral. Soll die Allokation von Gütern nicht 
dem blinden Marktmechanismus überlassen bleiben, so ist die 
Möglichkeit der globalen Information über und der Steuerung von 
Güterströmen ein Dreh- und Angelpunkt. Doch weder Jimmy Wales noch 
die freie Community sind in der Lage, über den Status Quo der 
Warenform des hier und jetzt hinaus zu denken.

Ökonomisch handelt es sich bei den »Zehn Dingen« um 
Entwertungsprojekte. Bislang proprietär unter exklusiver 
Privatverfügung gehaltene Informationen sollen nun allen zugänglich 
gemacht werden. Ist mit der Allgemeinverfügung einmal die 
Voraussetzung der Knappheit[2] entfallen, bricht die Warenform, und 
die Verwertung wird schwierig bis unmöglich. Es handelt sich um einen 
realen Befreiungsakt - sie wissen es nicht, aber sie tun es.

Mit der ökonomischen Entwertung von Teilbereichen bricht der 
Kapitalismus nicht zusammen. Im Gegenteil bedeutet die Entwertung bei 
einem Unternehmen eine Kostenentlastung und damit 
Überlebensverlängerung bei einem anderen Unternehmen. Damit 
unterstützt die freie Bewegung, was sich ökonomisch ohnehin 
vollzieht, nämlich den Abbau von Wertsubstanz. Während Unternehmen 
aufgrund des ökonomischen Zwangs, den Einsatz von lebendiger Arbeit 
stetig zu minimieren, immer weniger Wert erzeugen, entzieht die freie 
Bewegung vorhandene Sparten direkt der Verwertung. Der wesentliche 
Unterschied ist hierbei, dass der von Unternehmen mit immer weniger 
Arbeitseinsatz geschaffene immer größere stoffliche Reichtum 
keineswegs den Menschen zur Verfügung steht, während die direkt 
entwerteten freien Produkte allen Menschen unmittelbar zu Gute 
kommen.

Wer die Freie Software bereits vor einigen Jahren tot sagte, wer 
Wikipedia noch letztes Jahr belächelte, hat sich geirrt. Die 
Expansion der freien Entwertungsbewegung geht weiter, die 
Vernetzungen mit  globalisierungskritischen Bewegungen werden 
intensiver. Einzelne Länder haben die Potenzen erkannt. Brasilien, 
Venezuela, Kuba, Indien - in vielen Ländern ist die Förderung Freier 
Software ein Mittel, um sich aus den Klauen der Software-Monopole zu 
befreien. Doch auch die Widersprüche und die Gegenwehr des Empires 
wachsen - mit Softwarepatenten, Digital Restriction Management und 
massiver Propaganda soll die Kontrolle bewahrt werden. Die nächsten 
Jahre werden spannend.

Anmerkungen

[1] www.heise.de/newsticker/meldung/62516
[2] Vgl. Meretz, S., Knappheit. Eine Realabstraktion, in: Streifzüge 
32/2004, S. 23.

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