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Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hi Hans-Gert,
wir können sicherlich noch ewig so weitermachen: Du wirfst mir oder wahlweise
auch StefanM eine dingliche Argumentationsweise vor und ich dir
unwissenschaftliche Esotherik, die ich zwar glauben (oder eben nicht glauben)
- über die ich jedoch nur schlecht wissenschaftlich diskutieren kann. Nur
bringt uns das nicht wirklich weiter. Früher wird es die Liste, später dann
irgendwann auch uns drei ziemlich anöden. 

In meiner letzten Mail ging es mir ja nur zweitrangig um inhaltliches, sondern
vor allem um einen Vorschlag für die Vorgehensweise bei der weiteren
Diskussion. El Casi hat ja durchaus zurecht angemahnt, dass niemand sich
anmaßen sollte, den Listenteilnehmern das denken abzunehmen. Allerdings geht
eine "10-Punkte-Liste über Essentials eines Informationsbegriffs" ja gerade in
die Entgegengesetzte Richtung: Es ist eine Setzung, die aus der Perspektive
eines unwissenden Dritten erst mal recht Willkürlich ist. Wir wollen hier aber
doch sicherlich keinen "Oekonux-Katechismus", den alle dann brav auswendig zu
lernen haben, oder? Mir jedenfalls geht es zunächst einmal vor allem um einen
systematischen Weg dorthin, dass wir - die Liste - gemeinsam einen Level
erreichen, auf dem wir nicht weiterhin prächtig aneinander vorbeireden, auf
dem wir dann vielmehr gemeinsam in der Lage sind logisch konsistentes von
inkonsistentem, sinnvolles von sinnlosem, Zielführendes von schlichter
Konfusion zu trennen. DANN sind wir sicherlich auch gemeinsam in der Lage,
hinsichtlich des Sinns und Unsinns der einzelnen Punkte der
Fuchs-Kittowskis'schen Heilslehre einen gemeinsamen Nenner zu erreichen. Wenn
dann am Ende eines methodisch stringent gegangenen Weges alle der Meinung
sind, dass diese 10 Punkte tatsächlich die Essentials sind, für die du sie
hältst, dann soll?s mir auch recht sein. 

Bis dahin bin ich aber geneigt dein Bild, das du unten verwendest auf meine
Weise zu deuten: Auf der Ebene, auf der du beschlossen hast den
"Gesellschaftskörper" zu studieren, findest du dich in guter Gesellschaft mit
 den Romanciers, den Feuilletonisten und Stammtischbrüder, die den
Gesellschaftskörper ebenfalls recht 'äußerlich' und in einem wörtlichen Sinne
'oberflächlich' "in seiner vitalen Kraft" studieren... So etwas hat natürlich
durchaus seine Berechtigung und stellt in vielen Fällen eine Bereicherung für
unsere Gesellschaft dar ? allerdings glaube ich, dass uns dieser Weg - auch
wenn er recht bequem wäre -  nicht dorthin führen kann, wo wir hinwollen. 

Im Übrigen müsstest du dich mit deinem Informations- und Wissensverständnis,
wenn es denn etwas taugen sollte, nicht vor einer systematischeren,
strukturierteren und damit für alle nachvollziehbare Vorgehensweise fürchten. 
Schöne Grüße,
Stephan


Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de> schrieb:

Hallo Stefan,

Vorab allgemein und sicher meinerseits überspitzt: Du argumentierst
wieder sehr dinglich. So, als ob (in deinem Sinne gesellschaftliches)
Wissen in einer Pulle abgefüllt wäre und nur die Frage ist, ob man
ansetzt und trinkt (aka, es sich aneignet oder nicht). So einfach ist es
aber sicher nicht. Eine elementare Quintessenz von (Capurro-95) und
(Fuchs-Kittowski) ist, dass ein solcher Ansatz die Sicht auf wesentliche
Aspekte des Informations- und auch des Wissensbegriffs versperrt (ganz
deutlich etwa in Fuchs-Kittowskis 10-Punkte-Liste über Essentials eines
Informationsbegriffs). Wenn wir mal bildlich Information und Wissen als
wesentliche Aspekte des "Gesellschaftskörpers" auffassen, dann ist der
Unterschied etwa der, den Körper durch Sezieren oder in seiner vitalen
Kraft zu studieren. Wenn letzteres, dann ist mir vollkommen
schleierhaft, wie du meinst, mit Begriffen wie "indivudelles Wissen" und
"gesellschaftliches Wissen" hantieren zu können und zugleich "Wissen"
als das sie verbindende Element auszuklammern:

HGG: Hier wäre also erst einmal die Semantik zu schärfen, die mit dem 
Bezeichner "Wissen" verbunden ist. 

Zweifellos. Damit mühen wir uns ja gerade.

Aber ich denke, dass mittlerweile klar ist, dass ein einheitlicher
Begriff zumindest von Wissen keinen Sinn macht, sondern dass es
mindestens Qualifikationen wie "individuell" oder "gesellschaftlich"
braucht. Right?

Weiter:

In all meinen Texten ist Wissen eine 
genuin gesellschaftliche Kategorie, also der historisch gesammelte 
Erfahrungsschatz der Menschheit.

Das ist dann wohl dem nahe, was StefanMz meinte. Right?

Ja, sicher ein Begriff der Sinn macht. *Dieses* Wissen ist dann aber
in keiner Weise konkret, sondern nur als abstrakte Idee vorhanden.
Right? Bestenfalls Repräsentationen von Ausschnitten können konkret
sein oder Teile davon können per Aneignung in individuelles Wissen
übersetzt werden. Right?

Wenn Wissen ein Verhältnis ist - auf was wir uns vielleicht langsam mal,
Capurro und Fuchs-Kittowski folgend, einigen sollten - dann verstehe ich
 dich schlicht nicht. Wie kann man aus einer solchen
Individualperspektive heraus überhaupt darüber sprechen, was Wissen
ausmacht? Ist Wissen nicht gerade das Sublimat aus intersubjektiv
kommunizierter Erfahrung einer *Vielheit*? Wie funktioniert dieser
Sublimationsprozess (der Kern der Wissenssozialisierung)? Wo ist gar die
aus gemeinsamem *Tun* gewonnene Erfahrung anzusiedeln?

Ich muss z.B. fest stellen, ob ich noch einen Arm habe, den ich
heben könnte.

Viel interessanter ist die Frage, ob es auch möglich ist dir einzureden,
dass du keinen Arm hast, und dies schlicht zu einer psychosomatischen
Blockade dieser deiner Fähigkeit führt. Ein in der Psychologie gut
bekanntes Phänomen. Womit wir sofort im Zentrum der Fetischdiskussion
wären.

Würdest du sagen, dass es bei diesen Prozessen grundsätzliche
Unterschiede zu Computern gibt? Die Lebenswelt eines Computers ist
sicher eine völlig andere als unsere und Intentionalität würde ich
Computern zumindest heute auch nicht zugestehen, aber ich würde
dennoch denken, dass es da auf dem abstrakten Niveau, das wir hier
gerade verhandeln, große Ähnlichkeiten gibt.

Was ist "die Lebenswelt eines Computers"? In welche Widersprüche ist der
verwickelt? Wie geht er mit ihnen um? Wie akkumuliert er seine
Erfahrungen? Sind das überhaupt Erfahrungen, was da ggf. akkumuliert wird?

Genau. Deswegen wirst du in der Regel auch das gesellschaftliche
Wissen, auf dessen Basis die Software entstanden ist, in der Regel nie
in individuelles Wissen verwandeln. Du wirst also nie etwas über guten
Drucksatz erfahren um mal auf das Beispiel mit dem Wordprocessor
zurück zu kommen.

Gleichwohl existiert dieses Wissen. Und zwar nicht als in deinem Sinne
"individuelles Wissen", sondern als "Szenewissen", auf dessen
Tragfähigkeit du dich (sicher nicht grundlos) verlässt. Software - egal,
ob Open Source oder proprietär - ist ein Sublimat dieses Wissens. Die
beiden Formen unterscheiden sich einzig im Zugangsmodus zum
"Szenewissen". Einen Wissensbegriff, der nicht über die Dynamik _dieser_
Wissensformen sprechen kann, halte ich für deutlich unterdimensioniert.

Es ist eben keine "'unwissende' Anwendung der als Programm-Code 
vorliegenden Information", sondern eine *bewusste* Entscheidung, sich an 
der Stelle auf andere zu verlassen. Übrigens auch eine weitgehend 
verantwortungsbeladene, denn der Schaden, den ich mit den Tools 
anrichte, die ich verwende, wird (meist) mir zugerechnet.

Du vermischst hier die Ebenen. Es ist sicher eine bewusste
Entscheidung mich auf ein bestimmtes Programm zu verlassen. Es ist
aber keine bewusste Entscheidung eine "fl"-Kombination in einer
bestimmten Situation als Ligatur zu setzen - um mal mein beschränktes
individuelles Wissen im Bereich des Drucksatzes zu bemühen. Und auch
die Schusterjungen und Hurenkinder sind bestenfalls konfigurierbar,
ihre konkrete Behandlung ist aber codiert und wird automatisch
operationalisiert.

So? Ist es nicht eine bewusste Entscheidung, sich _nicht_ mit den
Feinheiten von Ligaturen zu beschäftigen und damit vielleicht auch die
Fehlentscheidungen der Software - etwa beim Wort "Auflauf" - zu
tolerieren? Und - falls du dich etwa für LaTeX entschieden haben
solltest - ist es nicht auch eine _bewusste_ Entscheidung, sich für die
_Nutzung_ von Ligaturen zu entscheiden und _zugleich_ gegen die
(einigermaßen intensive) Beschäftigung mit dem Thema (indem du dich
nicht dafür interessierst, dass man am besten gleich Auf\/lauf schreiben
sollte)? Und hängt dies nicht von den Anforderungen deines praktischen
Tuns ab? Insbesondere auch mit der Knappheit deiner eigenen Lebenszeit?
Und hast du diese Entscheidungsmöglichkeit nicht genau deshalb, _weil_
es nicht nur das Wissen der Druckerszene, sondern die Szene selbst gibt?
 Die so nette Tools baut, die du für durchschnittliche Bedürfnisse ohne
Detailwissen einsetzen kannst?

Deine Argumentation läuft letztlich darauf hinaus: Solche Tools kann ich
mir alle "auf dem Markt" kaufen (oder von mir aus von einer
OS-Distribution kostenfrei herunterladen - das macht hier keinen
Unterschied). Ich frage nach den Voraussetzungen, wie solche Tools
nachhaltig entstehen können. Deinen Zugang bezeichne (nicht nur) ich als
dinglich: Die Dinger sind da, nun nutzen wir sie. Ich frage nach den
Verhältnissen, aus denen die Dinger entstehen. Aber du doch letztlich
auch, oder? Warum dann immer wieder diese Fetischisierung von
Computerwerkzeugen? Wie sehr das übrigens mit dem Warenfetisch
zusammenhängt kannst du bei (Holloway) nachlesen, dessen zentrale Frage
ist, warum wir die Welt immer dinghaft und so selten prozesshaft sehen.
Hat bei ihm zentral mit instrumenteller vs. kreativer Vernunft zu tun.

Genau an dieser Stelle wird die lebensweltliche Rückbindung essentiell. 
Was ist eine "von jeglicher Stofflichkeit abgelöste" Information? Kann 
es so was überhaupt geben?

Nun, wenn ich den Begriff des gesellschaftlichen Wissens nehme, dann
ist dieser auch eine reine Idee, also ohne eine konkrete
Stofflichkeit. Lediglich Repräsentationen von Ausschnitten können
stofflich sein - eben in Codierungen.

Was ist eine Codierung? Fokussierst du nicht zu stark auf den _Akt_ des
Codierens und verlierst dabei den _Zweck_ des Codierens aus dem Auge?
Vielleicht nun doch langsam "Information als Verhältnis" wie in
Fuchs-Kittowskis 10-Punkte-Liste? Als "Trias von Form, Inhalt und
Wirkung", als "Verbindung von Materiellem und Ideellem"?

Nur die Repräsentation dessen, was informationsverarbeitende Systeme
als Information betrachten. Nicht aber die Information selbst.
Zwischen Ding und Repräsentanten ist m.E. streng zu unterscheiden.

Welchen Charakter hat dieses "Betrachten"? Stehen da nicht immer
Menschen mit lebensweltlichen Zwecken dahinter? Deshalb nochmal gefragt:

Wenn ja, wodurch wird der *Eindruck* einer Ablösung hervorgerufen?

........

<cite>Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit wird auf CD-Roms, auf 
Internetseiten, in Antiquariaten und im Buchhandel dargeboten, alles ist 
gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine Schande wäre, dieses 
Material nicht wach und offenen Sinnes zu gebrauchen.</cite>

Also stofflich vorgehalten wird die Codierung, die ich sehen kann, aus
der ich Information holen kann, in dem Rechner der vor mir steht.
Nirgends sonst. Dass der die Codierung von anderer Stelle holt ist
davon unabhängig.

Und dafür ist nichts anderes als "dein vor dir stehender Rechner" und
die von ihm ausgespuckten Zeichenketten konstitutiv?

Neben der Algorithmisierung (und damit in Buchbergers 
Terminologie Trivialisierung) des Problems

Ein Problem verändert sich nicht durch die Art der gefundenen Lösung,
es kann also nicht trivialisiert werden. Nur die Lösung kann
trivialisiert werden.

Wie kann man Problem und Lösung auseianderdividieren? Werden Probleme
nicht erst zu Problemen, indem eine Lösung gesucht wird? Und hat man
eine gefunden, ist dann das Problem nicht gleich viel "kleiner"
geworden? Und sind Lösungen nicht immer graduell? Selbst wenn es eine in
Software gegossene algorithmische Lösung gibt? Vielleicht läuft sie
gerade auf deinem Rechner nicht. Oder ein kleiner Bug im Makefile?
Falsches Encoding? Trotzdem nennt das Buchberger "trivialisiert". Gibt
es einen Unterschied zum Beweis des Großen Satzes von Fermat durch
Andrew Wiles? Ich glaube schon.

Nein, Sozialisation *ist* das Aufsaugen der individuellen Arbeiten durch 
den Gesellschaftskörper.


Ok, ich registriere mal, dass ich deinen Begriff von Sozialisation
nicht verstehe... Oder meinst du Sozialisierung? Das verwendest du
unten öfter. *Das* verstehe ich dann.

Vielleicht doch besser Sozialisierung, um den Tuns-Aspekt zu
unterstreichen. Aber ansonsten sind das nur die unvollendete und die
vollendete Form desselben substantivierten Verbs, der Unterschied also
marginal.

Viele Grüße, Hans-Gert

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de




-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124
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