Message 08610 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT07492 Message: 84/84 L3 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Ziele setzen



Hi Liste!

Ich greife nochmal was auf, was schon ein wenig zurück liegt.

10 months (311 days) ago Franz Nahrada wrote:
Hallo, gleich mal eine Sammelantwort, ich befürchte das kann ein neuer
Subthread werden. Auf jeden Fall wird das eine super-lange mail.

Die wird wohl auch eher lang ;-) .

Irgendwie kreisen viele Fragen und Antworten um die Frage: wer setzt in
der GPL Gesellschaft die Ziele?

Kein schlechter Gedanke. Allerdings würde ich etwas weiter greifen und
so etwas fragen wie: Wie entstehen Ziele, die von ausreichend Menschen
unterstützt werden, so dass sie erreicht werden können.

Stefan Merten hat unlängst ja schon
zurecht am linken Dogma gerüttelt "das werden die Leute schon
entscheiden". Michael Hönnig hat gestern eine sehr provokative Mail
Geschickt, die bis jetzt noch keinen Sturm der Entrüstung hervorgerufen
hat, ich denke das hat auch mit echter, weitverbreiteter Ratlosigkeit zu
tun. er schrieb:

könnte es sein, dass in so einer kooperativen, freiwilligen und
selbstentfaltetenden Gesellschaft gewisse Arbeiten eben nicht mehr
erledigt werden?

Das wäre doch sehr zu hoffen. Z.B. das Kriegshandwerk sollte eben
nicht mehr erledigt werden.

Könnte die Folge davon sein, dass wir uns viele sogennante
"Errungenschaften" gar nicht mehr leisten können? Z.B. den privaten
PKW (den ich eh als Wahnsinn pur empfinde, aber das ist ein anderes
Thema), Elektrizität 24h am Tag und 365 Tage im Jahr, ja sogar fließend
Wasser? Ja, vor allem auch Computer und das Internet, nämlich wegen der
dafür notwendigen Basistechnologien.

Was also tun, damit ein solches System dann aber nicht wieder langfristig
kapitalistisch werden soll, nicht geplant, sondern aufgrund der
Eigendynamik?

Der Schlüssel zur Antwort liegt darin, dass du fragst, was denn am
kapitalistischen System gebraucht wird, um diese Infrastruktur
aufrecht zu erhalten. Das finde ich in der Tat eine sehr spannende
Frage.

Ein Element, auf das ich bisher oft verwiesen habe, ist der
(strukturelle) Zwang, den Tauschwirtschaft beinhaltet. Dieser Zwang
funktioniert, weil Menschen ihrer Subsistenzlebensmittel entäußert und
somit zwingbar sind. Dieser Faktor spielt aber heute keine große Rolle
mehr, weil ich jede Wette halte, dass weit über 90% keinen Bock drauf
haben, sich (z.B.) um ihre eigenen Nahrungsmittel zu kümmern, und
somit die Lebensgrundlage auf Subsistenzbasis keine reale Alternative
ist. Die Gesellschaft hat auf diese Weise auch einen nie gekannten
Vernetzungsgrad erreicht. Diesen Vernetzungsgrad möglichst ohne
Zwangssystem wieder hinzukriegen, ist wohl die Frage.

Aber dieses OHA-System ja auch einen positiven Aspekt: Es bindet Leute
so ein, dass sie auf dem niedrigen, vorhandenen Produktivkraftniveau
die miesesten Jobs machen - und damit eben zu einer reicheren
Infrastruktur beitragen (dass das Ganze natürlich durch
Profitinteressen massiv überformt ist und dieser positive Aspekt
deswegen im Kapitalismus schwer wahrnehmbar ist, muss ich hier nicht
ausführen). Dieser Faktor ist auch heute noch relevant, hängt aber
eben auch an der Produktivkraftentwicklung und speziell an der
Technikentwicklung.

Wenn du die Leute nämlich nicht mehr strukturell zwingen musst, etwas
Sinnvolles zu tun, dann tun sie es vielleicht von ganz alleine. Und je
mehr, desto mehr Erfüllung / Selbstentfaltung ihnen dieses Tun gibt -
und die Erfüllung einer gesellschaftlich notwendigen Aufgabe kann viel
Erfüllung / Selbstentfaltung geben.

Der Schlüssel liegt also darin, nützliche Aktivitäten zum Gegenstand
von Selbstentfaltung zu machen. Die Arbeitsmittel dahin zu trimmen,
ist ein wichtiger Aspekt. Die Identifikation mit den Zielen der
Tätigkeit (aka nicht-entfremdetes Schaffen) ein anderer. Beides wird
in der Freien Software exemplarisch vorgeführt.

Ist das geklärt, ist deine Frage beantwortet. Zur Frage des
Menschenbilds, die hier auch rein spielt, unten noch mehr.

Vermutlich sind die Maßnahmen ählich zu denen, wie dieses
System überhaupt überwunden werden kann. Aber evtl. kann es nur an sich
selbst zugrunde gehen?

Danke Michael für diese phantastische Frage und Provokation. Du schreibst
hin, was andere sich nicht zu schreiben getrauen, aber insgeheim selber
denken. Vielleicht wären wir schon längst in einer GPL Gesellschaft, wenn
diese insgeheimen Zweifel nicht so weit verbreitet wären, nämlich daß den
Menschen in ihrer Selbstorganisation das alles nicht gelingt, was den
herrschaftsförmig organisierten und strukturierten gesellschaftlichen
Systemen gelingt: das Management einer hochkomplexen, fast
unüberschaubaren Vielfalt von Zwecken, Zielen und Wünschen namens
"Gesellschaft",

 ...eigentlich einer Gesellschaftsform...

einer Infrastruktur in der sich diese mehr oder weniger
verläßlich betätigen können.

M.a.W.: Wie sehen die Regelsysteme aus, die das gewährleisten.

Ich möchte die Frage mal so im Raum stehen lassen, ich denke das ist auch
die eigentliche Frage hinter Stefan Mertens H-Thread.

Ja, damit hat es viel zu tun.

Wie ich die Sache
verstehe, geht es Stefan um das "Äquivalent für H" (Herrschaft,
Hierarchie) , das wir noch nicht gefunden haben, oder wenn mans anders
ausdrücken möchte den H-Faktor,  also die Komponente die aus der
Selbstorganisation nicht nur eine spannende und dynamische, sondern auch
verläßliche und sichere Sache macht.

Ja genau. Und mich interessiert zunächst mal heraus zu arbeiten, was
es mit OHA jenseits konkreter Gesellschaftsformen überhaupt auf sich
hat, um erst mal raus zu kriegen, um was es eigentlich geht. Quasi
eine Konkretisierung durch Abstraktion ;-) . Deswegen auch mein
Beharren auf dem Nutzen von OHA-Systemen.

Ich möchte diesen möglichen Thread mit ein paar Antworten auf recent
postings quasi "umkreisen"

Ich greife einige Teile auf.

1.

Zunächst die Frage: Kann die Wirtschaft Ziele setzen.

Laurent Straskraba schreibt

(FN)
... die Wirtschaft ex definitione mit autonomer
Zweckfindung und Zweckbindung nichts zu tun hat und sich ganz
allgemein
dem Prinzip der Fremdbestimmung unterwirft,

Ich dachte, jeder der sich selbständig macht bzw. Unternehmer ist,
(er)findet einen Zweck seines Tuns und bindet sich (und andere, die sich
dazu bereit erklären) daran. Die Fremdbestimmung kommt meines Erachtens
erst dort zum Tragen wo sich Leute nicht überlegen (können) wozu sie sich
bereit erklären. zB wenn die Alternative entweder diese eine Arbeit
machen
oder mangels Alternativen sterben lautet. Und das betrifft hauptsächlich
den Produktionssektor ... Dienstleistungen sowie Informationsarbeiten -
also auch Freie Software - unterliegen meines Erachtens nicht dieser
Ausprägung. Zumindest in den OECD-Ländern gibt es durchaus
Wahlmöglichkeiten ...

Franz:

Ich glaube wir müssen unterscheiden zwischen Wahlmöglichkeiten und der
Freiheit, Ziele zu setzen. Das ist für mich ein ganz grundlegender
Unterschied, in der deutschen Sprache noch dazu durch das Begriffspaar
Willkür und Freiheit ausgedrückt.

Da verstehe ich nicht den Zusammenhang. Ziele zu setzen ohne Konsens
nennt mensch Willkür. Freiheit ist dann Wahlmöglichkeit? Das meintest
du wohl nicht... Was dann?

Also Akkumulation von Geld ist die Mehrung der Möglichkeit zur
Fremdbestimmung anderer.

Ja. S.o.

Also wenn ein Unternehmer sich selbständig macht, erfindet er gerade nicht
den Zweck seines Tuns, sondern fragt: womit kann ich Geld verdienen. Das
ist etwas anderes als die Frage, ob eine Tätigkeit in sich sinnvoll ist.

Natürlich gibt es da Alternativen: die einen machen einen Luxusladen für
zahlungskräftige Besucher aus Russland auf, die anderen einen
Sicherheitsdienst, damit in diese Läden nicht eingebrochen werden kann etc.

Ja, es gibt hier schon Shades of Grey. Z.B. ist die Berufswahl im
Kapitalismus, in dem ein Mensch seine Möglichkeiten im Rahmen des
Arbeitsmarkts frei entscheiden kann. Und auch UnternehmerInnen - als
Personen, nicht als Charaktermaske - ist nicht ganz egal, was sie
verticken.

Hier handelt es sich aber durchaus auch um einen gesellschaftlichen
Vermittlungsprozess zwischen individuellen Interessen und
gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Wie kann diese Vermittlung anders
gehen? Können wir auf sie verzichten? Dass die gesellschaftlichen
Notwendigkeiten nicht verschwinden, sagt Michael ja gerade oben und
ich denke, dass dem uneingeschränkt zuzustimmen ist.

Du siehst: an der schon vorhandenen Verteilung von Geld bilden und
scheiden sich die Zwecke, und werden auch viele Zwecke zuschanden.

Man könnte sogar weitergehen und Fragen, ob eine Tätigkeit Geld bringt,
die andere Menschen in ihrer Autonomie stärkt. Das ist im Normalfall eher
nicht so.

Das sehe ich nicht. Ich denke, dass das nicht gekoppelt ist.

Das ist der Ausgangspunkt der Frage ob die Wirtschaft Ziele setzen kann.

Paradoxerweise habe ich mich dennoch dagegen gewehrt, die Frage
prinzipiell zu verneinen. Daraus ergab sich eine interessante Diskussion.


2.

Stefan Merten schreibt:

Muss ich mich gleich nochmal einklinken. Die Frage war, ob die
Wirtschaft der Freien Software Ziele setzen kann bzw. ob daran deren
Kultur zerbricht. So, wie die Frage formuliert war, tritt die
Wirtschaft von Außen an die Freie Community heran und formuliert
Ziele, die die Community dann doch bitte zu erfüllen hat.

Ich denke, es stimmt was hier bemerkt wurde, dass das zumindest für
Doppelt Freie Software nicht gelten kann. Da ist der Zwangsapparat
(aka Geld) schlicht nicht gegeben, der die entsprechenden
EntwicklerInnen zwingen könnte. Würdest du dem widersprechen? Wenn ja,
warum?

(Franz:)

Erstens ist das auch ein relativ langweiliges gebiet, weil es kommt nur
das raus, was Du im Begriff der doppelt freien Software schon
definitorisch gesetzt hast: daß sie nicht um des Geldes wegen geschrieben
wird.
Und zweitens: warum nicht? Wenn IBM sagt, ich starte jetzt eine Initiative
für ein Stück Software, bezahle den Maintainer, aber jeder der will kann
mitmachen, dann  ist doch die ganze feine Unterscheidung zwischen einfach
und doppelt freier Software beim Teufel.

Natürlich handelt es sich bei der Unterscheidung zwischen Einfach und
Doppelt Freier Software vor allem um eine begriffliche Unterscheidung.
In der Praxis wirst du davon natürlich beliebige Mischformen finden.

3.

oder muß man vielleicht gar keine Ziele setzen? auch diesen extravaganten
Standpunkt gibt es...

Stefan Seefeld schreibt:
Was heisst denn, dass Ziele 'allgemein akzeptiert werden' ?
Es geht doch nicht darum, einen Consens zu erreichen und dann gemeinsam
diesem Ziel zuzuarbeiten. FS hat eine Eigendynamik entwickelt, die man
so gar nicht mehr steuern kann...zum Gl"uck.
Das ist doch "uberhaupt das credo:

Q: when will this be released ?
A: sooner if you help !

Mit anderen Worten: Jeder ist frei, an dem zu arbeiten, woran ihm
gelegen ist. Woran vielen gelegen ist, wird eher verwirklicht.

(Franz:)
mit dem Resultat daß das rauskommt was Michael ironisch skizziert hat und
was die Einleitung zu diesem Thread bildete.


Ich denke daß diese Darstellung zwar irgendwie der Realität entspricht,
aber in Wirklichkeit auch nicht. Oder anders gesagt: leider ist es so wie
Du sagst. Dieses Credo ist tatsächlich in vielen Köpfen, auch hier auf der
Liste. Mein Gegen-Credo: Es sind immer konsensbildende Prozesse notwendig,
ohne sie könnte Kooperation nicht funktionieren.

Ja. In einer emanzipatorischen Gesellschaftsformation müssen sie der
Kern des OHA-Systems sein.

Kooperation ist letztlich
keine "Eigendynamik", sondern sie verlangt nach konsensbildenden
Prozessen, die auch öffentlich ausgedrückt und bekräftigt werden.

Ja.

Und wie angekündigt nochmal zum Menschenbild.

10 months (311 days) ago Michael Hoennig wrote:
Irgendwie kreisen viele Fragen und Antworten um die Frage: wer setzt in
der GPL Gesellschaft die Ziele?
...
könnte es sein, dass in so einer kooperativen, freiwilligen und
selbstentfaltetenden Gesellschaft gewisse Arbeiten eben nicht mehr
erledigt werden?

Du konzentrierst dich stark auf die Ziele im Sinne von "was" erreicht
werden soll. Meine Fragen bezogen sich aber mehr auf das "warum", also
die Motivation.

Wenn ich genug Nahrung habe, ausreichend Freizeit, Freunde und Familie,
vielleicht ein Musikinstrument, habe ich dann überhaupt noch die
Motiviation, mehr zu schaffen? Ich persönlich ja, aber andere auch, gar
jeder Mensch oder zumindest die meisten?

Dein Menschenbild ist so, wie es die UnternehmerIn sieht, die am
liebsten 24 Stunden Arbeitskraft ohne Entlohnung hat (und sich
deswegen Maschinen hinstellt ;-) ).

Ich persönlich bin ziemlich sicher, dass dieses Menschenbild nicht
viel mit der Realität zu tun hat. Menschen fühlen sich nicht dauerhaft
wohl, wenn sie nur in der Hängematte liegen. Jedenfalls kann mensch
das von den protestantisch geformten Menschen des europäischen
(globalisierten) Kulturraum sagen.

Anders herum: Wenn ich glaube, dass Menschen zu ihrem Glück gezwungen
werden müssen, da sie selbstorganisiert nicht dazu in der Lage sind,
dann kann ich alle Gedanken an eine emanzipierte
Gesellschaftsformation aufgeben.

Doch zurück zum Thema: Was würden diejenigen, die überhaupt motiviert
sind, machen? Dinge die Spaß nachen, jedenfalls zum größten Teil.

Spaß und Selbstentfaltung sind zwei unterschiedliche Dinge. Spaß ist
nur ein kleiner Teil von Selbstentfaltung - manchmal vielleicht sogar
nicht mal das. Selbstentfaltung beinhaltet nützliches Tun, auch wenn
es mal gerade keinen Spaß macht - auch hier bietet Freie Software
genügend Anschauungsmaterial.

Ich
behaupte aber, für eine technisierte Gesellschaft braucht man auch viele
Dinge die keinen Spaß machen.

Mag sein. Kannst du Dinge nennen, die nicht in Selbstentfaltung
möglich sein können?

Und ich behaupte, heute kommt die
Motivation über die Sucht.

Nun neigst du ja ein wenig zu starken Begriffen - hier "Sucht". Mir
ist das zu platt und zu falsch.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

--
Please note this message is written on an offline laptop
and send out in the evening of the day it is written. It
does not take any information into account which may have
reached my mailbox since yesterday evening.


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT07492 Message: 84/84 L3 [In index]
Message 08610 [Homepage] [Navigation]