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Re: [ox] Fwd: Werthaltigkeit von Informationsguetern



On Saturday 13 September 2003 17:05, Holger Weiss wrote:
Mein Argument ist eher strukturlogisch: Wenn ich in einem
wissenschaftlichen Prozess einen historischen Prozess logisch (nicht
faktisch) rekonstruiere, dann müssen meine Kategorien in der Lage
sein, den rekonstruierten Prozess isomorph abzubilden. Also: Wenn in
der Entwicklungslogik ein qualitativer Übergang stattfindet, muss
sich das auch begrifflich niederschlagen. Das bedeutet umgekehrt,
dass es nur sehr wenige Begriffe gibt, die sich sozusagen
"durchziehen".

Aehnlich hat uebrigens Michael Heinrich mal in einem Seminar
argumentiert (als ich mich mit ihm ueber den Begriff der abstrakten
Arbeit gestritten habe), da habt ihr scheinbar eine Gemeinsamkeit ;-)

Da muss ich mich nicht schämen;-) Andererorts gibt's dann wieder deutliche 
Unterschiede...

Beim "qualitativen Uebergang" geht's doch um den Uebergang von einer
Gesellschaftsform in die andere. Der Begriff "Gesellschaftsform"
enthaelt die Begriffe "Gesellschaft" und "Form". Dass die Form sich
beim Uebergang qualitativ aendert, scheint kein Streitpunkt zu sein.

Ja.

Bleibt "Gesellschaft". Dies ist doch kein inhaltsleerer Begriff,
sondern ein Begriff, der einen _bestimmten_ sozialen Zusammenhang
bezeichnet. Du sagst selbst, dass _dieser_ Begriff ueberhistorisch sei.
Das macht aber nur dann Sinn, wenn die inhaltliche Bestimmung des
Gesellschaftsbegriffs fuer verschiedene Gesellschaftsformen eine
gemeinsame Konstante des sozialen Zusammenhangs bezeichnet. Unser
heutiger Zusammenhang hat wenigstens _irgendeine_ Gemeinsamkeit mit dem
Zusammenhang der frueheren feudalen Gesellschaft, ansonsten waere es
sinnfrei, in beiden Faellen von einer "Gesellschaft" zu sprechen. Dann
muss das aber bei der begrifflichen Darstellung des qualitativen
Uebergangs von einer in die andere Gesellschaftsform erfasst werden.
Ich sehe nicht, wie Du das leisten willst, wenn Du den
ueberhistorischen Inhalt nicht in eine begriffliche Beziehung zur
historischen Form bringst, wie Marx das mit seinen widerspruechlichen
Kategorienpaaren tut.

Sehe ich exakt genauso. Das tue ich.

Es macht methodologisch auch keinen Sinn, von einer vorgängigen
Existenz von Gebrauchswert und gebrauchswertschaffender Arbeit
auszugehen, zu der dann mit dem Kapitalismus der Tauschwert und die
wertschaffende Arbeit hinzutritt: Wenn es sich bei der
warenproduzierenden Gesellschaft um eine qualitativ neue historische
Vergesellschaftungsform handelt, dann müssen diesen qualitativ neuen
Formen auch qualitativ neue Kategorien entsprechen, die die
Entwicklungslogik »isomorph« widerspiegeln [6]. Gebrauchswert und
(Tausch-)Wert sowie konkrete und abstrakte Arbeit sind kategoriale
Paare, die den analytischen Zugriff auf einen
Realwelt-Sachverhalt erlauben. Gebrauchswert oder (Tausch-)Wert sind
also keine eigenständigen Entitäten, sondern es sind Aspekte einer
Sache, nämlich der Ware. Genauso gibt es keine »konkrete« oder
»abstrakte« Arbeit als separate Vorgänge, es sind Aspekte der
Lohnarbeit. Deswegen macht es keinen Sinn, solche Kategorien jenseits
der warenproduzierenden Gesellschaft in verdinglichter Form als
distinkte Entitäten zu behandeln.

Es ist doch kaum bestreitbar, dass bestimmte Mittel der
Beduerfnisbefriedigung unabhaengig von der historischen
Gesellschaftsform Arbeit zu ihrer Produktion erfordern, dass diese
Arbeit in arbeitsteiligen Gesellschaften (bewusst oder "hinter dem
Ruecken der Produzenten") organisiert werden muss, dass ab einem
gewissen Produktivitaetsstand der Arbeit ein Mehrprodukt produziert
wird, usw. Das ist fuer mich der Inhalt des Gesellschaftsbegriffs.

Da ich die Diskussion um "Arbeit" hier nicht anfangen will: ja, Arbeit 
verstanden als die "ewige Naturnotwendigkeit" des Stoffwechsels mit der 
(menschenäußeren) Natur.

M.E.
macht es eben gerade dann Sinn, zwischen "ueberhistorischem" Inhalt und
historischer Form zu trennen, wenn man aufzeigen moechte, dass die
_Verhaeltnisse_ historisch gemachte und nicht natuerlich gegebene sind.

Ja, genau. Deswegen ist die Differenzierung von "Arbeit" in "konkrete 
Arbeit" (GW-Seite)) und "abstrakte Arbeit" (W-Seite) notwendig. Diese ist 
gebunden an die Herausbildung der warenproduzierenden Gesellschaft.

In einem kritischen Kontext geht es darum, aufzuzeigen, dass "etwas"
prinzipiell auch ganz anders gemacht werden koennte, als wir es heute
tun. Dieses "Etwas" muss dann aber auch begrifflich bezeichnet werden.
Es muss unterschieden werden zwischen dem Inhalt, _dass_
Broetchenbaecker und Zahnbuerstenhersteller in einer arbeitsteiligen
Beziehung zueinander stehen auf der einen Seite, und der Frage, _wie_
diese Beziehung organisiert ist auf der anderen. Wenn ich umgekehrt
ausschliesslich formspezifische Begriffe verwende, fehlt mir jeglicher
Bezugspunkt fuer die Frage, _was_ ueberhaupt anders gemacht werden
soll.

Mein Argument. Du argumentierst für mich, prima.

Ich möchte ergänzen: Ich muss mich hüten, formspezifische Begriffe zu 
ontologisieren, also zu scheinbar überhistorischen zu machen.

Marx unterläuft also ein Kategorienfehler, wenn er schreibt: »Als
Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit
... ewige Naturnotwendigkeit, um ... das menschliche Leben zu
vermitteln" (Kapital, S. 57), er mischt eine Kategorie der
warenproduzierenden Gesellschaft in eine viel allgemeinere,
überhistorische Aussage. Aber auf solche Sätze konnten und können
sich in der Tat textexegetische Marxologen samt des
Traditionsmarxismus berufen.

Ich habe weniger bestimmte Saetze im Kopf, als die Grundstruktur, die
sich durch Marx' Darstellung (im "Kapital") durchzieht. Das Zitat ist
kein "Ausrutscher", sondern entspricht der Idee, die dem gesamten
kategorialen Apparat dieses Werks zugrunde liegt. Die Kritik, dass der
Zweck der kapitalistischen Produktion "Tauschwert" lautet und die
Betonung des genuin widerspruechlichen Verhaeltnisses von Tausch- und
Gebrauchswert, macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass
gebrauchwswertorientierte Produktion wuenschenswert sein koennte.

So wird es traditionell gelesen. Damit wird aber der kritische Charakter, 
den du ja auch willst, unterminiert, wenn nicht, gar eliminiert: Eine 
historische spezifische Sache (GW-Produktion) wird zur überhistorischen 
erklärt. Damit ist die GW-Seite raus aus der Kritik. So verwundert es 
überhaupt nicht, dass der Traditionsmarxismus jahrzehntelang blind war 
für die durch die GW-Seite hervorgerufenen ökologischen Katastrophen. 
Kritik der GW kam nicht vor, oder wenn, dann über den Umweg der TW-Seite 
- nach dem Motto: wenn "wir" erstmal dran sind, dann gibt's das nicht 
mehr ("gute AKWs" etc.). War zu besichtigen in Realsoz.

Aber mir geht's doch nicht um Marx-Exegese, selbstverstaendlich handelt
es sich bei den Fragen "was hat Marx gesagt?" und "welche Kategorien
sind der Sache angemessen?" um zwei verschiedene Gegenstaende, ersterer
ist nur von akademischen Interesse.  Was die Marx'sche Unterscheidung
Form/Inhalt betrifft, halte ich sie halt fuer der Sache angemessen.

Die grundsätzliche Unterscheidung halte ich auch für angemessen, nur meine 
ich, dass es eben nicht "die" durch super-konsistente und durchgängige 
Marx-Schreibe in dieser Hinsicht gibt.

Kategorial sind also Zeitaspekt und Nützlichkeitsaspekt von »Arbeit«
allgemeiner als Gebrauchs- und Tauschwertaspekt von »Arbeit«. Sie
sind logisch-historisch vorgelagert. (...)
<<

Oder wie unterscheidet sich mein Produkt in einer nicht
warenproduzierenden Gesellschaft Deines Erachtens von einem
Gebrauchswert?

Es ist keine Ware.

Herrje ;-) Also nochmal anders formuliert: Unabhaengig von der
Gesellschaftsform ist es doch eine Bedeutungsdimension eines
Arbeitsproduktes, dass es aufgrund seiner Eigenschaften nuetzlich fuer
irgendjemanden ist. Das fasse ich mit "Gebrauchswert". Haeltst Du den
Nuetzlichkeitsaspekt, also die Eigenschaft meines Produkts, ein
gegebenes Beduerfnis befriedigen zu koennen, ausserhalb von
Warenproduktion fuer irrelevant, oder wuerdest Du ihn nur anders
bezeichnen? Deine obige Aussage suggeriert ja letzteres, der
Nuetzlichkeitsaspekt sei allgemeiner als der Gebrauchwertaspekt. Hmmm.

Ja, ich würde hier eine begriffliche Differenzierung vorschlagen, weil es 
eine qualitative Unterscheidung in der realhistorischen Entwicklung gibt: 
vom "bloß nützlichen Ding" zum "Gebrauchswert". Ein Gebrauchswert 
bezeichnet den Nützlichkeitsaspekt der Ware. Aber nicht jedes nützlich 
Ding in der Geschichte hat GW. Z.B. auch FS. Freie Software ist einfach 
"nur nützlich" und frei von TW _und_ GW.

Für eine emanzipatorische Perspektive ist genau diese Differenzierung in 
den Blick zu holen.

Wie auch immer, wenn es bei Marx um "Wissen" geht, dann AFAICS
immer um frei verfuegbares Wissen, um "Freie Software". _Dieses_
Wissen dient schon immer als kostenlose Ressource der Produktion.
Ich sprach aber ausschliesslich von proprietaerem Wissen, also von
Software oder sonstiger Information, die nicht kopiert werden kann
oder darf. _Diese_ unterscheidet sich bezueglich der
(Re-)Produktion ihres Tauschwerts m.E. qualitativ nicht von einem
Toaster.

Das würde bedeuten, dass allein die Rechtsform - um eine andere
Unterscheidung geht es hier nicht - bestimmt, ob ein Produkt
kostenlose Ressource oder Ware ist.

Genau.

Diese Annahme halte ich für falsch.

Das heisst, ob ich meine Software GPL oder proprietaer lizensiere, hat
auf die (Nicht-)Warenfoermigkeit meines Produktes keine Auswirkung?

Das kannst du nicht schlussfolgern. Du kannst mit "wertlosen" Waren sehr 
wohl einen Reibach machen. Gesellschaftlich bedeutet das jedoch, das an 
anderer Stelle der Profit geschmälert wird. Es kommt zu einer 
Umverteilung. Beispiel: Der Grundbesitzer produziert keine Waren, bekommt 
aber eine Grundrente. Das ist ökonomisch eine Umverteilung von an anderen 
Stellen realisiertem Wert. Das sind "Unkosten", die leider bezahlt werden 
müssen, weil z.B. die Fabrik irgendwo stehen muss.

Das ist ganz deutlich sichtbar bei Software: Microsoft kassiert eine 
Informationsrente. Nix als Unkosten für wertloses Zeug. Freie Software 
befreit von Unkosten. Das wirkt zunächst stabilisierend für den 
Kapitalismus. Wenn aber der Kapitalismus ohnehin zunehmend aus Unkosten 
besteht, dann wirkt es befreiend.

Bis dato haette ich gedacht, dass wir uns einig waeren, dass die Lizenz
hier genau den entscheidenden Unterschied macht. Proprietaere Software
ist Ware, Freie Software nicht.

Das stimmt auch immer noch.

| In dem Masse, in dem Software zur profitablen Ware wurde, zog sich
| der Staat aus den Innovationen zurueck. Um die je eigene Software
| verwerten zu koennen, musste der Quelltext dem Konkurrenten und damit
| auch dem User verborgen bleiben. Software war nur als proprietaere
| Software profitabel. (...) Nur knappe Produkte eignen sich als Ware!

[ Stefan Meretz, "GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!",
  http://www.oekonux.de/texte/wertlos/ ]

Auch das sehe ich noch so.

Na ja, der ganze Text ist so flapsig formuliert, dass man da alles rein- 
oder rauslesen kann. Ich finde gerade keine Stelle, um mich selbst zu 
widerlegen;-)

Was sich aber bei mir gerade ändert, ist die ökonomische Begründung: Ich 
nahm vorher mehr intuitiv an, dass proprietäre Software substanziell 
"werthaltig" ist und Freie Software eben nicht (da sie nicht knapp ist). 
Das ist aber ein Argument, dass sich nur auf die Zirkulationssphäre 
bezieht, und das greift zu kurz (ähnlich wie Michael Heinrich). Das 
Argument, dass Rechtsform keinen Wert schafft, finde ich sehr schlagend.

Deswegen bin ich gerade dabei, mich von Graham überzeugen zu lassen.

Kannst du mich davor noch bewahren? ;-)

Ciao,
Stefan

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