Message 07158 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT07138 Message: 21/59 L5 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Fwd: Werthaltigkeit von Informationsguetern



* Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org> [2003-09-13 09:08]:
On Saturday 13 September 2003 05:29, Holger Weiss wrote:
Eine Staerke von Marx' Analyse ist doch gerade die
Unterscheidung zwischen nicht formspezifischem Inhalt auf der einen
Seite (Gebrauchswert, Arbeitsprozess, Mehrprodukt usw.) und der
spezifischen Form, die dieser Inhalt annimmt, auf der anderen (im
Kapitalismus Tauschwert, Verwertungsprozess, Mehrwert usw.). Die
Analyse des Kapitalismus erfolgt durchgehend nach diesem Muster: Marx
schaut sich an, welche historisch bestimmte Form der historisch
unbestimmte Inhalt hier jeweils annimmt. Gebrauchswert wird seit
Menschengedenken produziert, die Form des Tauschwerts nimmt er nur
innerhalb der Warenproduktion an.

Ich glaube, es ist bei Marx nicht so eindeutig wie du ihn lesen willst.
Ich will keine Marx-Exegese betreiben.

Mein Argument ist eher strukturlogisch: Wenn ich in einem
wissenschaftlichen Prozess einen historischen Prozess logisch (nicht
faktisch) rekonstruiere, dann müssen meine Kategorien in der Lage sein,
den rekonstruierten Prozess isomorph abzubilden. Also: Wenn in der
Entwicklungslogik ein qualitativer Übergang stattfindet, muss sich das
auch begrifflich niederschlagen. Das bedeutet umgekehrt, dass es nur sehr
wenige Begriffe gibt, die sich sozusagen "durchziehen".

Aehnlich hat uebrigens Michael Heinrich mal in einem Seminar
argumentiert (als ich mich mit ihm ueber den Begriff der abstrakten
Arbeit gestritten habe), da habt ihr scheinbar eine Gemeinsamkeit ;-)

Beim "qualitativen Uebergang" geht's doch um den Uebergang von einer
Gesellschaftsform in die andere. Der Begriff "Gesellschaftsform"
enthaelt die Begriffe "Gesellschaft" und "Form". Dass die Form sich beim
Uebergang qualitativ aendert, scheint kein Streitpunkt zu sein. Bleibt
"Gesellschaft". Dies ist doch kein inhaltsleerer Begriff, sondern ein
Begriff, der einen _bestimmten_ sozialen Zusammenhang bezeichnet. Du
sagst selbst, dass _dieser_ Begriff ueberhistorisch sei. Das macht aber
nur dann Sinn, wenn die inhaltliche Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs
fuer verschiedene Gesellschaftsformen eine gemeinsame Konstante des
sozialen Zusammenhangs bezeichnet. Unser heutiger Zusammenhang hat
wenigstens _irgendeine_ Gemeinsamkeit mit dem Zusammenhang der frueheren
feudalen Gesellschaft, ansonsten waere es sinnfrei, in beiden Faellen
von einer "Gesellschaft" zu sprechen. Dann muss das aber bei der
begrifflichen Darstellung des qualitativen Uebergangs von einer in die
andere Gesellschaftsform erfasst werden. Ich sehe nicht, wie Du das
leisten willst, wenn Du den ueberhistorischen Inhalt nicht in eine
begriffliche Beziehung zur historischen Form bringst, wie Marx das mit
seinen widerspruechlichen Kategorienpaaren tut.

Es macht methodologisch auch keinen Sinn, von einer vorgängigen Existenz
von Gebrauchswert und gebrauchswertschaffender Arbeit auszugehen, zu der
dann mit dem Kapitalismus der Tauschwert und die wertschaffende Arbeit
hinzutritt: Wenn es sich bei der warenproduzierenden Gesellschaft um eine
qualitativ neue historische Vergesellschaftungsform handelt, dann müssen
diesen qualitativ neuen Formen auch qualitativ neue Kategorien
entsprechen, die die Entwicklungslogik »isomorph« widerspiegeln [6].
Gebrauchswert und (Tausch-)Wert sowie konkrete und abstrakte Arbeit sind
kategoriale Paare, die den analytischen Zugriff auf einen
Realwelt-Sachverhalt erlauben. Gebrauchswert oder (Tausch-)Wert sind also
keine eigenständigen Entitäten, sondern es sind Aspekte einer Sache,
nämlich der Ware. Genauso gibt es keine »konkrete« oder »abstrakte«
Arbeit als separate Vorgänge, es sind Aspekte der Lohnarbeit. Deswegen
macht es keinen Sinn, solche Kategorien jenseits der warenproduzierenden
Gesellschaft in verdinglichter Form als distinkte Entitäten zu behandeln.

Es ist doch kaum bestreitbar, dass bestimmte Mittel der
Beduerfnisbefriedigung unabhaengig von der historischen
Gesellschaftsform Arbeit zu ihrer Produktion erfordern, dass diese
Arbeit in arbeitsteiligen Gesellschaften (bewusst oder "hinter dem
Ruecken der Produzenten") organisiert werden muss, dass ab einem
gewissen Produktivitaetsstand der Arbeit ein Mehrprodukt produziert
wird, usw. Das ist fuer mich der Inhalt des Gesellschaftsbegriffs. M.E.
macht es eben gerade dann Sinn, zwischen "ueberhistorischem" Inhalt und
historischer Form zu trennen, wenn man aufzeigen moechte, dass die
_Verhaeltnisse_ historisch gemachte und nicht natuerlich gegebene sind.
In einem kritischen Kontext geht es darum, aufzuzeigen, dass "etwas"
prinzipiell auch ganz anders gemacht werden koennte, als wir es heute
tun. Dieses "Etwas" muss dann aber auch begrifflich bezeichnet werden.
Es muss unterschieden werden zwischen dem Inhalt, _dass_
Broetchenbaecker und Zahnbuerstenhersteller in einer arbeitsteiligen
Beziehung zueinander stehen auf der einen Seite, und der Frage, _wie_
diese Beziehung organisiert ist auf der anderen. Wenn ich umgekehrt
ausschliesslich formspezifische Begriffe verwende, fehlt mir jeglicher
Bezugspunkt fuer die Frage, _was_ ueberhaupt anders gemacht werden soll.

Marx unterläuft also ein Kategorienfehler, wenn er schreibt: »Als
Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit ...
ewige Naturnotwendigkeit, um ... das menschliche Leben zu vermitteln"
(Kapital, S. 57), er mischt eine Kategorie der warenproduzierenden
Gesellschaft in eine viel allgemeinere, überhistorische Aussage. Aber auf
solche Sätze konnten und können sich in der Tat textexegetische
Marxologen samt des Traditionsmarxismus berufen.

Ich habe weniger bestimmte Saetze im Kopf, als die Grundstruktur, die
sich durch Marx' Darstellung (im "Kapital") durchzieht. Das Zitat ist
kein "Ausrutscher", sondern entspricht der Idee, die dem gesamten
kategorialen Apparat dieses Werks zugrunde liegt. Die Kritik, dass der
Zweck der kapitalistischen Produktion "Tauschwert" lautet und die
Betonung des genuin widerspruechlichen Verhaeltnisses von Tausch- und
Gebrauchswert, macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass
gebrauchwswertorientierte Produktion wuenschenswert sein koennte.

Aber mir geht's doch nicht um Marx-Exegese, selbstverstaendlich handelt
es sich bei den Fragen "was hat Marx gesagt?" und "welche Kategorien
sind der Sache angemessen?" um zwei verschiedene Gegenstaende, ersterer
ist nur von akademischen Interesse.  Was die Marx'sche Unterscheidung
Form/Inhalt betrifft, halte ich sie halt fuer der Sache angemessen.
Viele andere grosse und kleine Punkte bei Marx halte ich fuer
Fehlanalysen.

Kategorial sind also Zeitaspekt und Nützlichkeitsaspekt von »Arbeit«
allgemeiner als Gebrauchs- und Tauschwertaspekt von »Arbeit«. Sie sind
logisch-historisch vorgelagert. (...)
<<

Oder wie unterscheidet sich mein Produkt in einer nicht
warenproduzierenden Gesellschaft Deines Erachtens von einem
Gebrauchswert?

Es ist keine Ware.

Herrje ;-) Also nochmal anders formuliert: Unabhaengig von der
Gesellschaftsform ist es doch eine Bedeutungsdimension eines
Arbeitsproduktes, dass es aufgrund seiner Eigenschaften nuetzlich fuer
irgendjemanden ist. Das fasse ich mit "Gebrauchswert". Haeltst Du den
Nuetzlichkeitsaspekt, also die Eigenschaft meines Produkts, ein
gegebenes Beduerfnis befriedigen zu koennen, ausserhalb von
Warenproduktion fuer irrelevant, oder wuerdest Du ihn nur anders
bezeichnen? Deine obige Aussage suggeriert ja letzteres, der
Nuetzlichkeitsaspekt sei allgemeiner als der Gebrauchwertaspekt. Hmmm.

Wie auch immer, wenn es bei Marx um "Wissen" geht, dann AFAICS immer um
frei verfuegbares Wissen, um "Freie Software". _Dieses_ Wissen dient
schon immer als kostenlose Ressource der Produktion. Ich sprach aber
ausschliesslich von proprietaerem Wissen, also von Software oder
sonstiger Information, die nicht kopiert werden kann oder darf. _Diese_
unterscheidet sich bezueglich der (Re-)Produktion ihres Tauschwerts
m.E. qualitativ nicht von einem Toaster.

Das würde bedeuten, dass allein die Rechtsform - um eine andere
Unterscheidung geht es hier nicht - bestimmt, ob ein Produkt kostenlose
Ressource oder Ware ist.

Genau.

Diese Annahme halte ich für falsch.

Das heisst, ob ich meine Software GPL oder proprietaer lizensiere, hat
auf die (Nicht-)Warenfoermigkeit meines Produktes keine Auswirkung? Bis
dato haette ich gedacht, dass wir uns einig waeren, dass die Lizenz hier
genau den entscheidenden Unterschied macht. Proprietaere Software ist
Ware, Freie Software nicht.

| In dem Masse, in dem Software zur profitablen Ware wurde, zog sich der
| Staat aus den Innovationen zurueck. Um die je eigene Software
| verwerten zu koennen, musste der Quelltext dem Konkurrenten und damit
| auch dem User verborgen bleiben. Software war nur als proprietaere
| Software profitabel. (...) Nur knappe Produkte eignen sich als Ware!

[ Stefan Meretz, "GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!",
  http://www.oekonux.de/texte/wertlos/ ]

Holger

-- 
PGP fingerprint:  F1F0 9071 8084 A426 DD59  9839 59D3 F3A1 B8B5 D3DE
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT07138 Message: 21/59 L5 [In index]
Message 07158 [Homepage] [Navigation]