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Re: [ox] Bordieu



Hi Julian und alle!

8 days ago Julian wrote:
Ich hab' leider die Diskussion, aufgrund derer Benni den Bourdieu
eingeworfen hat, nicht so verfolgt. Aber trotzdem für Interessierte zum
Einsteigen mal ein paar Gedanken zu Bourdieu und freier Software:

Danke zunächst mal für den Kontext, den du uns geliefert hast. Solche
Postings finde ich eines der Qualitätsmerkmale der Liste :-) .

Bei Bourdieu gibt es drei Formen von Kapial:

1. ökonomisches Kapital. Dazu zählen Geld, Maschinen, Häuser, Computer
und dergleichen mehr. Für Bourdieu spielt es allerdings erstmal keine
Rolle, ob diese innerhalb von Verwertungsstrukturen oder außerhalb
dieser existieren.

2. kulturelles Kapital. Dazu zählt zunächst das, was Menschen an Wissen
und Bildung angesammelt haben (verinnerlichtes Kulturkapital), ein
entsprechender Fundus an "Objekten", also Bücher, CD's, Gemälde etc.
(objektiviertes Kulturkapital) sowie die entsprechenden Titel wie
Diplom, M.A., Dipl.-Ing. (institutionalisiertes Kulturkapital).

3. soziales Kapital. Darunter fällt die Gesamtheit an Beziehungen, die
ein Mensch mobilisieren kann.

Mensch könnte auch von Machtmitteln sprechen anstatt von
Kapitalsorten. Ja, für eine Analyse von Machtstrukturen ist das sicher
ganz nützlich.

Das gemeinsame aller dieser drei Kapitalsorten ist, das der Mensch Zeit
aufwenden muss, um sie zu erlangen. Das lässt sich m.E. ähnlich denken
wie bei Marx, nach dem eine gewisse Menge verausgabter abstrakter Arbeit
eine entsprechende Menge Wert schafft. So wie bei Marx wichtig ist, das
die Arbeit der durschnittlichen gesellschaftlichen Produktivkraft
entspricht, so zählt auch bei Marx erworbenes Bildungskapital nur
soviel, wie es in dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem es eingesetzt
werden soll, anerkannt ist. Ein Soziologe mit brillianten
Marx-Kenntnissen kann so unter Umständen im Kapitalismus schlechte
Karten haben. ;-)

Na, ich habe so ein paar Schwierigkeiten damit, hier einfach alles in
einen Topf zu werfen. Mein Gefühl ist hier, dass mensch halt versuchen
kann alles in dieses oder jenes Raster zu pressen. Auch bei Freier
Software wird ja gerne versucht, sie in ein kapitalistisches Raster zu
pressen. Ich finde es aber entscheidend, ob mensch damit der Sache
auch wirklich gerecht wird.

Insbesondere habe ich ein paar Probleme mit der Analogie zur abstrakten
Arbeit bzw. mit der Entfremdung die der werthaltigen Arbeit im
Kapitalismus ja nun ein wesentliches Element ist und m.E. eben auch
das unterscheidende Merkmal von allen möglichen anderen
Lebensäußerungen.

[Denk...denk...denk]

Ok, ich kann sehen, wie die oben genannten Kapitalien auch entfremdet
eingesetzt werden können. Beziehungen kann ich auch dazu einsetzen,
von der konkreten Beziehung entfremdete Ziele durchzusetzen. Wobei
hier schon ein bisschen der Beziehungsaspekt auch immer eine Rolle
spielt. Mein z.B. in einer Ausbildung erworbenes Wissen kann ich dazu
nutzen, Geld damit zu verdienen - wobei ich es da aber im Rahmen der
abstrakten Arbeit konkret anwende. Hmm... nicht so einfach.

Mein Punkt ist aber, dass alle diese Dinge diesseits der Entfremdung -
ein Diesseits, das es fürs Geld nicht gibt - auch ganz konkrete, nicht
von dem jeweiligen Gegenstand entfremdete Nutzungsmöglichkeiten gibt.
Was ja auch klar ist wenn es Machtmitteln sind. Machtmittel brauchen
Menschen zum Überleben.

Bis hierher würde ich also mal sagen, dass ich bei einer solchen
Analyse mitgehen kann. Im emanzipatorischen Sinne spannend wird es
aber m.E. erst, wenn der Faktor der Entfremdung hinzu kommt. Und das
ist genau der Punkt, den ich bei der Freien Software *vor allem in der
Praxis* nicht sehen kann. *Das* anhand konkreter Praxis der Freien
Software herauszuarbeiten, wäre also die Aufgabe, die ich für einen
Standpunkt sehen würde, der sich mit Bordieu auf die Machtstrukturen
bezieht. Und dass es in Spurenelementen vorkommt, finde ich hier nicht
relevant - gäbe es das nicht in Spurenelementen, so müsste Freie
Software als von der umgebenden Gesellschaft entbettet gedacht werden.
Es müsste sich also um ein massenhaftes Phänomen oder zumindest einen
deutlich wahrnehmbaren Trend handeln. Hierfür würde ich gerne
überzeugende Hinweise sehen. Die FLOSS-Studie gibt auf jeden Fall m.E.
deutliche Hinweise in die diametral entgegen gesetzte Richtung.

Den "gesellschaftlichen Rahmen", in dem Kapitale eingesetzt werden,
nennt Bourdieu "Felder". Es gibt dann beispielsweise ein Feld der
Software-Entwicklungsbranche, das von vielen Unterfeldern untergeben
ist. Dabei dürfte sowohl jedes einzelne Unternehmen ein eigenes
Unter-Feld bilden als auch unterschiedliche Betriebssystem-Varianten
(Linux vs. Microsoft). Die unterschiedlichen Akteure innerhalb dieser
Felder versuchen nun, das ihnen eigene Kapital so einzusetzen, das sie
möglichst weit nach oben kommen.
  ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^

Ja, hier handelt es sich um eine Analyse von Machtstrukturen. Da sind
solche Fragen und der ganze Voraussetzungsapparat, der da dran hängt,
dann wichtig. Ich würde aber schon den Voraussetzungsapparat in Frage
stellen. Menschen haben nicht nur das Ziel hierarchisch "möglichst
weit nach oben" zu kommen. Menschen wollen ein gutes Leben. "Möglichst
weit nach oben" zu kommen ist für gar nicht mal so viele ein
erstrebenswerter Weg dahin und ich glaube sogar, dass für die meisten
das auch kein erstrebenswertes Ziel ist.

Diese These für Freie Software zu Ende gedacht, würde dann wohl
bedeuten, dass die Freie-Software-Bewegung zum Ziel hat, die
Milliarden von Bill Gates in ihren Besitz zu bringen. Dann wären sie
nämlich "möglichst weit nach oben" gekommen. Sorry, aber das halte ich
einfach nur für absurd.

Einfach nur bessere Software in die Welt setzen zu wollen und dabei
auch noch Spaß zu haben ("Just for fun") hat dagegen m.E. vor allem
konkrete Aspekte. Hier geht es eben um konkreten Nutzen und nicht um
davon entfremdete Macht. Gutes Leben ist eben nicht nur "möglichst
weit nach oben" zu kommen. Das zeigt sich m.E. hier.

Sie nehmen Einfluss auf die
Kapitalstruktur des Feldes: wenn durch ein Gesetz Vorteile von
ökonomisch starken Akteuren (Microsoft) eingeschränkt würde, wäre dies
eine Veränderung der Kapitalstruktur des Feldes. Das Gleiche würde
gelten wenn durch massive Öffentlichkeitsarbeit das Image von Microsoft
zugunsten des Linux-Image verschlechtert würde.

Ebenso würde Bourdieu den Kampf der Studierendenbewegung anno 1968 als
Versuch interpretieren, die Kapitalstrukturen im wissenschaftlichen und
politischen Feld zu verändern.

Was mit den Erfolgen der Grünen ja sogar eine gewisse Plausibilität
hat. Wo wäre das analoge Beispiel für die Freie Software?

Oder den Kampf der Frauenbewegung als
Versuch, ebensolche Kapitalstrukturen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

"Möglichst weit nach oben" wäre dann eine Unterdrückung der Männer.
Das Ziel haben nach meiner Wahrnehmung die wenigsten frauenbewegten
Menschen. Glücklicherweise.

Der Versuch, freie Software zu stärken, könnte so auch als Versuch
angesehen werden, die Struktur des Feldes "Software-Entwicklung" so zu
verändern, das am Ende die Ökonuxis eine hierarchisch höhrere Position
einnehmen. Allerdings stellt sich hier ja nun die Frage wie das denn
wäre, wenn es das Ziel von Ökonux wäre, die Existenz hierarchischer
Felder überhaupt zu zerstören.

Ja.

Oder wenn die Freie-Software-Bewegung sich gar nicht groß um diese
Felder schert, sondern einfach ihr (neues) Ding macht.

Und - um auf den Punkt von Bennni noch einzugehen - die drei
Kapitalsorten können natürlich auch ineinander transferiert werden. Ich
kann ökonomisches Kapital (Geld) aufwenden um mir ein Buch zu kaufen
oder einen Kurs als html-Programmierer zu machen. Und ich muss mich
entscheiden ob ich lieber lese (ergo kulturelles Kapital ansammele) oder
schuften gehe (und ökonomisches Kapital ansammele). Das hängt dann nicht
zu letzt wieder davon ab, welche Kapitalia in den Feldern anerkannt
sind, in denen ich mich bewege.

Ja. Aber hier scheint es mir doch enge Grenzen zu geben. Zumindest
diesseits der Entfremdung. Kann ich mir eine nicht-entfremdete soziale
Beziehung kaufen? Wohl kaum. Kann ich eine nicht-entfremdete soziale
Beziehung nutzen um Geld zu verdienen? Kann ich nicht, weil ich damit
die soziale Beziehung von sich entfremde.

In durch und durch entfremdeten Strukturen stimmt das wohl eher.

Für die Gender-Debatte dürfte dabei vor allem interessant sein,
inwieweit Männer als Männer soziales Kapital mobilisieren können und
deshalb Vorteile gegenüber Nicht-Männern haben können.

Nun, da Freie-Software-Entwicklung ja größtenteils über das Internet
statt findet, ist die konkrete Leiblichkeit ja überhaupt nicht im
Spiel - z.B. die Hautfarbe. Und es ist auch im Internet überhaupt kein
Problem, sich formal in eine beliebige, auch neutrale Geschlechtsrolle
zu beamen - z.B. durch eine entsprechende eMail-Adresse. Ganz so
einfach kann es also zumindest mit dem Männerbund nicht sein.

Sprechen wir dagegen von männlich sozialisiert anstatt von Männern
würde ich dann lieber konkret werden und fragen, um welche konkreten
Eigenschaften es sich denn da handelt. Technische Fähigkeiten, die
wohl zwanglos zur (westlichen) männlichen Sozialisation gerechnet
werden können, verlangt das Gebiet Freie Software nun einmal ganz
konkret. Dass männliche Sozialisation nicht selten einen raueren
Umgang miteinander bedeutet ist allerdings nicht dem konkreten Gebiet
geschuldet.

Ebenfalls
interessant wird hier der Begriff des "Habitus", die vereinfacht gesagt
die Persönlichkeit eines Menschen beschreibt. Der Habitus entsteht aus
der jeweiligen Position des Menschen heraus: ein Arbeiter entwickelt
einen Arbeiterhabitus, eine Ärztin einen MedizinerInnen-Habitus. Hier
könnte diskutiert werden, inwieweit auch die Geschlechtszuordnung für
den Habitus (also die Art sich zu geben) wichtig ist.

Das ist ja in der ganzen Gender-Debatte einer der Knackpunkte, dass
die Geschlechtszuordnung eben den Habitus (m.E.: entscheidend)
beeinflusst.

Für die Freie-Software-Debatte im engeren Sinne (im weiteren gehört
Gender da ja sicherlich auch mit rein) stellt sich mir die Frage, welche
Kapitalsorten durch FS eigentlich in Frage gestellt werden und wie sich
das auf die Struktur der beteiligten Felder auswirkt.

Eben.

Übertragen auf die
Debatte um eine Freie Gesellschaft gilt ähnliches: wie kriegen wir
eigentlich die hierarchischen Felder weg, in denen Menschen sich
zueinander beziehen? Wollen wir die Überhaupt weghaben - oder geht es
nur darum sie so zu gestalten, das der Zugang für alle Menschen gleich
ist (ähnlich wie in der "freien Kooperation von C. Spehr)? Welche Rolle
spielt es wenn sich die Menschen innerhalb eines Feldes nicht direkt
aufeinander beziehen sondern vermittelt und damit indirekt durch
Fetischformen wie den Wert (und damit Geld) oder Geschlechtlichkeit?

Das finde ich *sehr* wichtige Fragen.

Hm, ich hoffe das war jetzt nicht allzu sehr durcheinander und ihr
konntet da was mit anfangen.

Ich auf jeden Fall :-) . Vielen Dank.

Ich muss übrgigens für die Uni demnäxt eine
Hausarbeit zu Bourdieu schreiben. Für Gedankenanregungen, in welche
Richtung zu denken hier schlau wäre, bin ich also immer dankbar.

Wenn du das Thema frei hast: Bordieu und Freie Software ist bestimmt
noch nicht belegt ;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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