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[ox] Re: Computer als Männermaschine, oekonux Digest, Vol 5, Issue 20 und weitere



Hallo!


Vielen Dank für die mails der letzten Tage. Hier der Versuch einer
Reaktion.

@ Benni, eine Reaktion von Roswitha Scholz zu meiner Verwendung von
Bordieu in Zusammenhang mit ihrer Wertabspaltungsthese steht leider
noch aus. Leider scheint es bisher keine wertkritische
Auseinandersetzung mit seinen Thesen (was nicht heißt, dass es diese
nicht doch irgendwo gibt) zu geben. Mein Versuch steht somit vorerst
für sich und bedarf einer kritischen Hinterfragung. Mir schien
allerdings mit der Verknüpfung von Scholz und Bordieu eine Möglichkeit
gegeben, einigen Phänomenen, die ich im Bereich der Computerkultur
beobachten konnte, theoretisch beizukommen.

In diesem Zusammenhang habe ich nichts gegen die Zuschreibung der
"Schwarzen Brille". Es gab mehrere Gründe so vorzugehen, wie ich es
getan habe.

1.      Theorie und Praxis greifen für mich tief ineinander. Beides
        soll nicht voneinander losgelöst stattfinden. In der
        Reflektion einer Praxis Mithilfe theoretischer Erwägungen (die
        tendenziell Strukturen betrachten, und damit notwendigerweise
        generalisieren müssen) sehe ich eine Chance auf Veränderung
        der Praxis. Eine möglichst scharfe Analyse kann schmerzhaft
        sein und als "zu negativ" empfunden werden. Da Theorie sich
        niemals 100% in (selbst)kritische Praxis umsetzt, sollte sie
        möglichst scharf sein, damit wenigstens etwas hängen bleibt.
        Die Grautöne entstehen sozusagen in Prozess der
        Auseinandersetzung ohnehin.
        
2.      Die von Dir beispielhaft angesprochene Totalität der
        Warengesellschaft kann im Zusammenhang mit der "Schwarzen
        Brille" tatsächlich zu Ausweglosigkeiten führen. Positives
        Denken, wird oft im Zusammenhang mit politischer Praxis
        gefordert - man müsse doch etwas tun, damit sich die Dinge
        ändern - und das kann man nicht mit der Ausweglosigkeit des
        eigenen Tuns vor Augen. Ich nehme mich selbst davon nicht aus.
        
        Wenn man in die Geschichte der Linken, insbesondere in deren
        Praxis zurückschaut und den Blick kursorisch schärft für den
        "verkorksten" Marxismus-Leninismus, der ins Gulag führte, das
        "Überlaufen" des kommunistischen, deutschen Proletariats zu
        den Nationalsozialisten 1936, das Stillhalten "im real
        existierenden Sozialismus" der DDR, den Marsch der 68'er durch
        die Institutionen, dann kann man natürlich versuchen, diese
        als "Extreme" verstandenen Mutationen einer linken politischen
        Praxis, vom Tisch zu wischen und einfach weiter Praxis machen.

        Man kann sich aber auch sagen: "Praxis? Wozu das alles. Lehnen
        wir uns zurück. Beobachten wir den Lauf der Dinge. Nehmen wir
        uns mal die Zeit zu überlegen und zu spinnen. 100 Jahre hin
        und her, was macht das schon?". Meiner Meinung nach, kann eine
        Pause von der Praxis nicht schaden, auch wenn dies die
        "Schwarze Brille mit Teerpappe statt getönten Gläsern"
        bedeuten würde. 

Beim anstehenden Brillenwechsel sitzen mir die Modelle wie unter 1)
und 2) beschrieben, etwas besser. Nachdem ich es in meiner Kindheit
und Jugend in der DDR ausreichend getragen habe (u.a. als Agitator in
der Pionierorganisation), kann ich mich für das rosarote Modell nicht
mehr erwären. Das ist sozusagen eine biografische Notiz und nicht als
Vorwurf an Dich gerichtet.



@rehzi

Vielen Dank für Deine Unterstützung. Wenn Du den CCC erwähnst, dann
erinnert mich das auch an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen.
Nachdem ich die CCC-Kongresse in Hamburg und Berlin miterlebt hatte,
und mich dort auch wohlgefühlt und wahrscheinlich auch zugehörig
gefühlt hatte, wuchs nach und nach meine Distanz zum CCC und ich
begann zu fragen, was mich daran so fasziniert hatte. Daraus entsprang
später die Frage nach dem Zusammenhang von Computertechnologie und
Geschlechterverhältnissen.

Ich fand dazu einige Auseinandersetzungen,
die oft aus der Perspektive von Frauen auf Frauen ausgerichtet waren
und oft Defizite schilderten, und die Frage erörterten, wie Frauen
dies "aufarbeiten" könnten. Ich hatte das Gefühl mit dieser Sichtweise
nicht weiterzukommen und aus der Erkenntnis heraus, dass eine
antipatriarchale Praxis (und Theorie) von allen Geschlechtern
geleistet werden muss, versucht die Texte "spiegelverkehrt" zu lesen.
Das Problem ist, dass ich nach wie vor mit der Dichotomie
"männlich-weiblich" arbeiten musste, um die Fragestellung einigermaßen
handhaben zu können.



@Stefan

Und damit Stefan wird auch deutlich, woher die Vorgehensweise stammt,
die Du als "ideologisch" bezeichnet hast. Ich würde sie stattdessen
als "perspektivisch" bezeichnen wollen. In der Einleitung zum Text
stand dann auch Zitat: "Der Untersuchungsgegenstand ist also
keineswegs neutral, er ist von persönlichen Interessen und Kontexten
geformt. Der folgende Text ist so angelegt, dass er von Subjektivität
nicht als wissenschaftlichen Betriebsunfall ausgeht, sondern
anerkennt, dass Erkenntnis immer auch perspektivisch ist."

In der mir zur Verfügung stehenden Literatur habe ich nach einer
Argumentation zu meiner These "Computer als Männermaschine" gesucht.
Ich habe eine bestimmte Perspektive des "Gesamtproblems" beleuchtet
und fand es spannend, dabei den Computer als Produktionsmittel in den
Mittelpunkt zu stellen, dass die Produktionsprozesse grundlegend
verändert. Ich denke, dass hierzu grundsätzliche Forschungen und
Diskussionen notwendig sind, die die marxsche (und deren
Interpretationen) politische Ökonomie kritisch erweitern. Das kann ich
allerdings nicht leisten. Ich hatte aber das Gefühl, einen kleinen
Teil zur Kritik des verwildernden Patriarchats (Scholz) beitragen zu
können.

Soviel zum allgemeinen, nun noch einige Worte zum konkreten:

Anyway frage ich mich, wieso Leute wie sie sich nicht groß
angelegte
Gedanken über Dinge wie Briefmarkensammeln, die Pflege von
Schrebergärten oder Amateuer-Bands machen. Warum sind sie davon
nicht
genauso irritiert wie von Freier Software? Da gibt es schon ein
paar
strukturelle Ähnlichkeiten. Kommt auch explizit vor:
Wie soll ich das kommentieren? Es ist eine Beleidigung.

Schon wieder eine Beleidigung. Seltsame Brille.

Das ist offensichtlich ein Missverständnis. Im Rahmen der e-mail
sah es so aus, als sei mit "Leute wie sie" ich gemeint gewesen, da mir
bereits vorher die Kompetenz abgesprochen wurde und ich für eine "sie"
gehalten wurde. Das war also schlichtweg ein Missverständnis
meinerseits. Ich fühle mich an diesem Punkt also nicht mehr beleidigt.

[...]

Du fragst:
Was ich nicht verstehe: Was ist das Besondere an Freier Software,
dass
hier großartig nach Motivationen geforscht wird, während es bei
Amateuer-MusikerInnen, Hobby-GärtnerInnen und BriefmarkensammlerInnen
keinen zu interessieren scheint? Das ist keine rhetorische Frage.

Das besondere an Freier Software ist, dass sie im Gegensatz zu
Briefmarkensammeln oder Gartenpflege, im für den postfordistischen
Produktionsprozess paradigmatischen Bereich der Computertechnologie
angesiedelt ist. Es findet eine ständige Grenzüberschreitung zwischen
"Arbeit" und "Freizeit" statt, die eine neue Qualität der Verwertung
darstellt. Ich hatte das Gefühl, diesem Problem mit Bordieus Thesen
vom sozialen Kapital und räumlicher Segregation partiell beizukommen.
Der Frage nach dem Anteil von Arbeit in der "Freizeitaktivität" habe
ich versucht, mich mittels der wertkritischen, Scholzschen Lesweise
anzunähern. Ich bin mir nicht sicher, ob das gelungen ist und arbeite
im Moment an einer Präzisierung.

[...]

Eher kann man es in Ihrer Diktion "als trivial"
bezeichnen.

Gut. Das denke ich aber in der Tat auch. Freie Software ist in
vielerlei Hinischt ein (ziemlich unbeeinflusster) Spiegel
gesellschaftlicher Realität. Und in dieser gesellschaftlichen
Realität ist es halt so, dass männliche Rollen im Durchschnitt eher mit
Technik in Verbindung gebracht werden. Dann wundert es mich ehrlich gesagt
nicht, dass TrägerInnen nicht-männlicher Rollen da eher kein
Interesse daran haben, sondern das halte ich dann für das, was zu erwarten ist.


Bloß weil es keine Neuigkeit zu sein scheint, heißt das noch lange
nicht, dass es nicht notwenig ist, sich damit kritisch auseinander
zusetzen. (Feministische) Kritik muss immer wieder neu ansetzen, denn
die Diskussionen der 70er haben Veränderungen hervorgerufen. Siehe
mail von Rehzi. Der veränderten Situation argumentativ beizukommen,
wird durch eine Erweiterung des begrifflichen Instrumentariums
ermöglicht. Deshalb lohnt es sich immer wieder über angebliche
"Trivialitäten" kritisch zu reflektieren.


Also ich beschränke mich hier mal auf den Begriff HackerInnen in der
Computer-Variante. Ich verwende den Begriff HackerInnen aber für
weiter.
Nur noch kurz dazu ein sehr IMHO lesenswerter Text von Claus Pias "Der
Hacker", http://www.xcult.ch/texte/pias/hacker.html

[...]

Mir geht es um die Beschreibung von Strukturen. Und die existierten/
entwickelten sich sicher auch schon vor 1999.

Eben nicht. Wenn du das ernsthaft behauptest, dann müsstest du
beweisen, wie Linus Torvalds bei seinen ersten Postings an
`comp.os.minix'(?) eine Steigerung seiner Verwertbarkeit im Sinne
hatte - um mal ein prominentes Beispiel zu wählen. Jedenfalls
beschreibt er es in seinem Buch durchaus anders. Da war der Aspekt
Selbstentfaltung *eindeutig* dominant.
Das ist Schattenfechterei. Ich habe doch bereits geschrieben, dass ich
mich auf die Studie von Lerner und Tirole 2002 beziehe. Ich schätze
wir beide lesen sie in verschiedene Richtungen. Anders kann ich es mir
nicht erklären. Ich fange jetzt nicht an zu erklären, was Torvalds im
Sinn hatte oder nicht.

[...]

Ja, mit der Zeit merken die EntwicklerInnen, dass sie es vielleicht
auch mal verwerten könnten *und* dass es auch politische Aspekte gibt
- - was der eigenen Verwertung ja eher nicht zuträglich ist. Der
*Einstieg* beruht aber eben nicht auf dem Versprechen von Reichtum
und Macht.
Ich könnte darauf antworten: "Okay, der Antrieb von Open Sourcelern
ist der Wille zur Selbstentfaltung. Warum selbstentfalten sich so
viele Männer ausgerechnet in diesem Bereich und nicht zum Beispiel in
der abgespaltenen Sphäre (z.B. der Hausarbeit?)"

Daraufhin S.Merten: "Das ist doch trivial"

Daraufhin ich: "Nö. Die Selbstentfaltung in der Open Source Community
scheint attraktiver (für Männer) als im abgespaltene Bereich. Warum?"
Usw.

---


Auf den Komplex Wertabspaltung, Abstrakte und konkrete Arbeit, werde
ich später eingehen. Vielleicht in Form eines Extra-Textes oder als
Präzisierung des entsprechenden Kapitels von "Open Source - Open
Gender?". Das braucht allerdings noch einige Überlegungen und
entsprechende Zeit. Falls hierzu konstruktive Kritik an meiner
Lesweise besteht, würde ich diese gern diskutieren. Leider kann ich
mit der "Keimform"-These wenig anfangen, zumindest scheint sie im
Rahmen meines Ansatzes nicht wirklich hilfreich.

Sorry an diejenigen, denen 4 Seiten Text zuviel sind. Ich kann leider
nicht sehr zeitnah auf einzelne e-mails antworten und habe mich
gestern Nacht Nochmal hingesetzt, in dem Versuch präzise zu sein.

Beste Grüsse

Francis

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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