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[ox] Selbstentfaltung ohne Vereinnahmung - Beispiel



Barbara Grün schrieb in Re: Computer als Männersache

Es scheint doch schon schwierig zu sein, "einfachen" Erwerbstätigen(Innen natürlich auch), der/die nicht als SpitzenprogrammiererIn eine privilegierte Stellung besitzt, eine Lösung des Problems anzubieten, wie mensch einerseits den Lebensunterhalt verdient ohne andererseits von der Verwertungsmaschinerie völlig vereinnahmt zu werden.

Eine Folge dieser aufgezwungenen Deformationen ist ja auch diese Trennung zwischen Berufs- und Privatleben, wobei frau mit der Entscheidung für einen persönlichen Beitrag zur Überbevölkerung i.d.R. den eigenen Schwerpunkt auf das Privatleben legen wird. Aber deshalb kann es nicht darum gehen, Modelle zu entwickeln, die eine Förderung der beruflichen Karriere "trotzalledem" (mehr Programmiererinnen braucht das Land) oder die Förderung einer Privatidylle (Hausfrauen-, Erzeihungs"arbeit") erlauben, sondern darum, diese Schizophrenie Arbeit/Freizeit aufzuheben.

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Die Fragestellung und Sichtweise teile ich. Ich gebe mal in die Liste, wie Nicht-Programmierer, sogar Leute, die teils am Rande der Gesellschaft standen, für sich eine handhabbare Lösung aus dem Dilemma der Sphärentrennung gefunden haben. (Dies muss nicht heissen, dass der Alltag einfacher geworden wäre.)

Hier mein Artikel zur Selbsthilfegruppe SSM, wo ich seit knapp 3 Jahren Mitglied bin.


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Die „Sozialistische Selbsthilfe Mülheim“

Selbstbestimmt leben und lernen


Heinz Weinhausen


Gunnar ist neu bei der Kölner „Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim“ (SSM). Vor einiger Zeit lebte er noch in seinem alten Fiat, weil er es in seinem Elternhaus nicht mehr ausgehalten hatte. Als es draußen zu kalt wurde, kam er in eine der täglichen Morgensitzungen unserer Selbsthilfegruppe. Er hatte im „Querkopf“, einer Zeitung von Obdachlosen, gelesen, dass man bei uns wohnen und mitarbeiten könne. Ranne erklärte ihm die SSM. „Wir sind hier 20 Leute auf dem alten Fabrikgelände, und jeder hat hier sein Zimmer oder seine Wohnung. Wir haben keinen Chef. Alles, was die Gruppe angeht, wird auf unseren täglichen Sitzungen besprochen und entschieden. Mit unserem LKW verdienen wir Geld durch Umzüge und Wohnungsauflösungen. Wenn die entsorgten Möbel und der Hausrat noch gut erhalten sind, verkaufen wir sie im Laden. Bei uns wird aber auch die Selbstversorgung groß geschrieben.“ „Selbstversorgung, was heißt das denn?“, will Gunnar wissen. „Die Wohnungen haben wir uns selber ausgebaut und halten sie instand. Das Holz zum Heizen sägen wir selbst, und meistens finden wir unsere Kleidung, Möbel und Küchengeräte bei den gespendeten oder entrümpelten Sachen. Montags bis freitags gibt es ein gemeinsames Mittagessen. Bei uns gilt alles, was der Gruppe wichtig ist, als Arbeit, nicht nur das Geldverdienen. Also nicht nur die Umzüge, die Haushaltsauflösungen oder der Ladendienst, auch das Betreuen der Kinder ist Arbeit oder wenn jemand den Hof kehrt, Blumen pflanzt oder sich in einer Stadtteilinitiative engagiert. Wir nennen unser Konzept „Neue Arbeit“: jede und jeder soll nicht nur Geld verdienen, sondern auch Eigenarbeit machen und sich im Stadtteil oder für neue Projekte engagieren. Wir wollen unabhängig sein, daher nehmen wir keine Sozialhilfe und ABM-Mittel. Jedes Mitglied bekommt ein gleiches Taschengeld. Bei uns kann jeder mitmachen, egal ob Ausbildung oder keine. Auch Behinderte können mitmachen. Zur Zeit sind hier Freddy und Pit, die beide geistig behindert sind. Wir erwarten also keine olympiareifen Leistungen, wohl aber, dass sich jeder seinen Möglichkeiten entsprechend einbringt. Du hast Glück. Zur Zeit haben wir ein Zimmer frei. Du kannst direkt mitmachen und sehen, ob das hier für Dich passend ist.“

Ein paar Tage später ist die große Dienstagssitzung. Gunnar berichtet, wie der Tag gestern beim Umzug mit den anderen vier gelaufen ist. Es war alles okay. Beim nächsten Punkt „Arbeitsverteilung“ ist nichts mehr okay. Wer hat für den Nachmittag eine Möbelauslieferung mit dem LKW ausgemacht, obwohl doch klar ist, dass Detlef dienstags immer das Fahrzeug inspiziert? Seit mehr als einem Jahr gibt es immer wieder eine Behinderung seiner Arbeit dadurch, dass der LKW während der Wartungszeit raus soll. Wenn aber nicht regelmäßig Öl, Luft und Bremsen kontrolliert werden, die Achsen nicht abgeschmiert werden, nicht kleinere Reparaturen durchgeführt werden, wird er bald hinüber sein. Und regelmäßig eine Werkstatt dafür zu beauftragen, würde unsere Kasse sprengen. Detlef hat diesmal endgültig die Faxen dicke. Er habe schon vor einem Jahr gesagt, dass jetzt mal andere mit dieser Arbeit dran seien. Er brauche die Zeit dringend für andere Aufgaben. Und ab sofort mache er die Wartung nicht mehr. Er sei allenfalls bereit, jemand anders einzuarbeiten.

Aber wer macht es? Niemand meldet sich. Die Stimmung sinkt. Von den Neuen traut sich keiner diese so wichtige Aufgabe zu. Und diejenigen, die länger dabei sind, haben sich in bestimmte für die Gruppe wichtige Bereiche eingearbeitet und wollen nicht wechseln. Reinhard hat beispielsweise angefangen, in einem der Gebäude Doppelfenster zu schreinern und einzubauen. Rainer schreibt an seiner Doktorarbeit zu „Neuer Arbeit“. Gisela und Michael engagieren sich in der neuen Stadtteilgenossenschaft „WiWAt“. Heinz betreut die Computer und macht beim „Institut für Neue Arbeit“ mit.

Rainer erzählt, wie er den ersten LKW der SSM gewartet und vieles repariert hat. Die Voraussetzungen dazu waren bescheiden, als Student damals verfügte er über wenig handwerkliches Wissen. Aber er biss sich rein, las Bücher dazu und konnte Bekannte finden, die weiterhalfen. Damals versuchten wir noch, so gut wie alles selbst zu reparieren. Aber heute findet er, dass der Mittelweg der beste und auch der ökonomisch effektivste ist. Wichtig ist, den ersten Schritt zu tun. Alles andere findet sich dann. Und die Gruppe zeigt ja viel Verständnis, wenn es mal hakt. Auch wenn Sachen richtig schief gehen.

An diesem Tag findet sich keine Lösung. Aber das Problem rührt an unsere Existenz. Ohne funktionierenden LKW können wir keine Aufträge fahren, und es fehlt uns das Geld zum Leben. Eine Woche später ist das Thema wieder auf der Tagesordnung. Und tatsächlich wollen zwei der Neuen die Wartung zusammen anpacken. Peter ist nach Jahren der Arbeitslosigkeit zur SSM gekommen. Er hat früher in einer Spedition einen Transporter gefahren. Aber um den Wagen brauchte er sich nie zu kümmern. Obwohl er sich die LKW-Wartung nicht richtig zutraut, hat er erkannt, dass es auf ihn ankommt. Er ist bereit ins unbekannte Wasser zu springen. Sascha geht mit seinen noch jungen Jahren unbefangener an Neues heran. Er hat auch schon vor Wochen begonnen zu lernen, wie ein Computer bedient wird.

Lernen, sich entfalten, sich weiterbilden geschieht bei der SSM aus vielerlei Motiven und auf vielerlei Wegen. Wenn jemand einen Garten anlegt und pflegt oder einen Proberaum zum Musizieren einrichtet, stecken dahinter Lust und Interesse. Zum anderen sind es die Erfordernisse und die selbstgesetzten Ziele der Gruppe, die eine Weiterentwicklung der Fähigkeiten mit sich bringen. Da gilt es einfach anzufangen und die Hürden nach und nach zu nehmen. Wie dies bewältigt wird, ist jedoch verschieden, und jeder bestimmt für sich selbst, ob er Bücher wälzt, Freunde um Rat fragt oder sich Wissen in einem Kurs aneignet. Einige haben auch eine Ausbildung gemacht oder studiert, bevor sie zur Gruppe kamen, und bringen ihre Fähigkeiten mit ein. Aber es gibt auch das herkömmliche Lernen. Asia schließt gerade ihr Linguistik-Studium ab. Und Clemens machte bei der SSM seinen Praxisteil für eine Ausbildung.

Die SSM zeigt in den vielen Jahren seit ihrer Gründung im Jahre 1979, dass auch ein Arbeiten ohne Chef möglich ist und dass im selbstbestimmten Miteinander für jeden Chancen zur Selbstentfaltung entstehen. So muss niemand die ganze Woche dasselbe machen. Jeder kann und soll zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern wechseln. Jeder kann ein Stück weit machen, was er wirklich will. Und das gilt für Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, jeden Alters, auch und gerade für Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Andererseits schließt diese Form des Arbeitens auch mit ein, eine ganze Menge Reibungen auf sich zu nehmen, die zum Beispiel entstehen, wenn Absprachen und Zusagen untereinander nicht eingehalten werden. So muss etliches an Problemen in den täglichen Sitzungen besprochen werden. Vieles kann dann wieder ins Lot gebracht werden. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass nicht nur die einzelnen dazulernen, sondern auch die Gruppe als ganze, insbesondere bei der Bewältigung von Konflikten.

Selbstbestimmtes, selbstorganisiertes Arbeiten und Leben sind auch an anderen Orten möglich. Dazu braucht es allerdings besondere Voraussetzungen. Neben einem Anteil von Selbstversorgung sind es erschwingliches Wohnen und preiswerte betriebliche Bedingungen, so dass eine Gruppe auch mit weniger Umsatz über die Runden kommen kann. Bei der SSM ist es so, dass die Stadt Köln ihr ein ehemaliges Fabrikgelände mit vier Gebäuden sehr günstig vermietet hat, sowohl zum Wohnen als auch für die gewerbliche Nutzung.. Andererseits hat die öffentliche Hand auch viel davon, weil wir nicht wenige aus der Sozialhilfe und der Arbeitslosigkeit rausgeholt haben. Wer hätte das gedacht? Menschenwürdiges Arbeiten „rechnet“ sich für die Gesellschaft.

Die SSM ist ein offenes Projekt. Wir laden dazu ein, eine Woche bei uns einzutauchen und mitzumachen.

aus "Durchblick" 2/2003

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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