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Re: [ox] Re: Niedergang des Kapitalismus?



Hallo Liste,

At Dienstag, 31. Dezember 2002 you wrote:

* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2002-12-05 22:23]:
Aber andererseits wenn ich mir die aktuellen Abwehrschlachten der
Musikkonzerne und Co. gegen NutzerInnen und KünstlerInnen ansehe - da
geht's doch gegen das "fehlende Unrechtsbewusstsein" der Menschen -
oder? M.E. haben die Menschen schon ganz gut ihre Interessenlage
begriffen und in dieser Interessenlage steckt m.E. das Potential.

Naja, sie haben ganz gut begriffen, dass, insofern sie Konsumenten sind,
es in ihrem Interesse liegt, Software und Musik kostenlos zu bekommen.
Das ist schlicht warenfoermiges Bewusstsein. Der Verkauefer will den
Preis maximieren, der Kaeufer minimieren. Ohne dieses Bewusstsein waere
kein Kapitalismus zu machen.

Ich glaube nicht, daß die Zuhörer ein warenförmiges Bewußtsein zur
Musik haben, sie ist und war schon immer ein freies Gut.
Es wird allerdings versucht, dieses Bewußtsein zu wecken, was aber
fehlschlagen wird, hoffe ich doch.
Musik ist m. E. ein kulturelles Erbe und kann mit etwas Aufwand von
jedem erlernt werden. Der 'Barde' ist in gewisser Hinsicht der
Geschichtenerzähler von Zuständen in der Welt und hat mehr zu
berichten, als das ein Politiker etc. kann.
Ein Copyright auf Weltbilder in musikalischer Form weckt bei den
Menschen keinerlei Verständnis. Ich gehe mal davon aus, daß es
genügend Musiker auch weiterhin geben wird, die der Welt in nicht
kommerzieller Form etwas zu sagen haben.

SM> Ja, aber das gilt auch für andere Waren. Klauen ist aber trotz
SM> Supermärkten keine Massenerscheinung wie Raubkopieren. Die Frage ist,
SM> warum es hier einen Unterschied gibt - immerhin handelt es sich in
SM> beiden Fällen um Waren.

SM> Ich würde als These in den Raum stellen, dass das Unrechtsbewusstsein,
SM> dass der Musikindustrie bei ihren (Nicht-)KundInnen so sehr fehlt, bei
SM> materiellen Waren sehr wohl gegeben ist. Dies liegt m.E. nicht daran,
SM> dass es den Menschen bei materiellen Waren besser eingeprügelt wurde,
SM> sondern daran, dass die Menschen bei Informationswaren leicht einsehen
SM> können, dass zu deren *Re*produktion faktisch keine Arbeit notwendig
SM> ist.

Musik oder Information ist keine Ware, die einer speziellen oder
teuren Produktionsstätte unterliegen muß. Jeder kann musizieren oder
Informationen austauschen. Ich bin relativ sicher, daß ein Rembrandt
nichts dagegen hat, wenn ich ihn abmahle. Was anderes ist es, wenn ich
das Bild mit seinem Namen verkaufen will, dann erst wird es zur Ware,
weil die Leute bereit sind, für den Namen zu bezahlen.
Es ist schon eine lustige Sache, eine Idee unter Copyright zu stellen,
was Musik oder Kunst im Allgemeinen ist.
Das, was die Künstler machen, ist im Endeffekt auch nur eine
Interpretation anderer Musik und nichts völlig Neues.
Das ganze ist Schwachsinn im Quadrat und weckt deshalb m. E. auch kein
Unrechtsbewußtsein bei den Menschen.
Früher machten wir oft Musik, es gab auch viele Straßenmusiker
etc. Meistens wurden da Songs nachgespielt und niemand kam auf die
Idee, daß das eine Raubkopie sei, von Kasettentapes ganz zu schweigen.
Zu deiner These würde ich hinzufügen, daß Kunst im Prinzip wertlos
ist. Musikinstrumente sind genügend vorhanden, Singen kann der Mensch
von Hause aus und ein Bleistift ist auch schnell zur Hand.
Es geht hier wohl nicht um Kunst, sondern um einen Markennamen.
Es stellt sich die Frage, ob ein Markennamen mit der Musik
gleichzusetzen ist.

SM> Wenn genau das aber das nicht mehr funktioniert, wenn die von einem
SM> Herrschaftssystem aufgestellten Regeln nicht mehr überwiegend quasi
SM> von selbst eingehalten werden, dann gerät ein Herrschaftssystem ins
SM> Wanken. Anders ausgedrückt: Wenn das Herrschaftssystem nicht mehr
SM> flächig vermitteln kann, dass es im Interesse der Leute ist, dann muss
SM> zu dessen Aufrechterhaltung ständig steigend mehr Gewalt eingesetzt
SM> werden - wodurch sich das Herrschaftssystem wiederum weiter
SM> diskreditiert. Ich würde ohne lange zu überlegen meinen, dass das bei
SM> vielen Niedergängen zu beobachten ist und auch dort, wo der
SM> Kapitalismus tatsächlich überwiegend gegen die Interessen der Menschen
SM> verstößt.

Aber nicht nur, der Mensch beginnt sich relativ schnell zu langweilen.
Ab einem gewissen Punkt interessiert es ihn nicht mehr, er wird mit
Festen, Musik etc. geradezu überfüllt. Irgendwann lässt sich
das kaum noch steigern, siehe römisches Reich. Es altert und wird
dekadent. Hier sehnt sich nun der Mensch nach anderen
Betätigungsfeldern, er will selbst Musik machen, sein Betriebssystem
gestalten, andere Lebensweisen ausprobieren etc.
Die Beschäftigung des Geistes mit Konsum ist relativ kurz und muß mit
ständig neuen Sinneseindrücken bei Laune gehalten werden.
Das steht m. E. zur Zeit auf der Kippe.
GNU/Linux ist ein Sytem, mit dem ich mich ohne weiteres ein Leben lang
beschäftigen kann. Nehme ich dann noch diese Liste hinzu, wird Konsum
im Sinne von Beschäftigung des Geistes durch Bezahlung nahezu überflüssig.
Es gibt also mittlerweile einen Unterschied, Konsum dient nicht mehr
vorwiegend zum Überleben, sondern soll die Sinne befriedigen oder
Bedürfnisse stillen.

SM> TCPA/Palladium scheinen mir an genau dieser Stelle die aktuellen
SM> Gewaltmaßnahmen zu sein, die das alte Herrschaftssystem in Stellung zu
SM> bringen versucht. Wenn ich es so herum überlege, dann würde ich sagen:
SM> Wenn es dem Herrschaftssystem Kapitalismus gelingt, den Leuten
SM> Unrechtsbewusstsein beim Raubkopieren zu vermitteln, dann haben
SM> TCPA/Palladium eine Chance. Gelingt das nicht, werden es Totgeburten
SM> werden wie die immer mal wieder aufflammenden Versuche starke
SM> Kryptographie zu verbieten. Jedenfalls wird es dann viel Gewalt
SM> bedürfen, das durchzudrücken. Und das macht die Menschen jedenfalls
SM> nicht glücklicher - wo sie gleichzeitig auch noch viele
SM> Einschränkungen in Kauf nehmen müssen und nicht erkennen können, dass
SM> sich irgendetwas für sie zum Positiven ändert.

Global gesehen wird sich das nicht durchsetzen können.
Es wird immer von abendländischen Standpunkten ausgegangen und das
mittlerweile so extrem vereinfacht, daß alle Kulturen das gleiche
wollen. Hier wird es noch enorme Schwierigkeiten geben.
(BTW) Es gibt immerhin schon Ansätze zur interkulturellen Philosophie
und habe da eine Seite im Web entdeckt, die vielleicht für den einen
oder anderen interessant sein könnte
http://home.concepts-ict.nl/~kimmerle/Phil.Einf2.htm

Von ihrer gesellschaftlichen Interessenlage aber haben die wenigsten
einen `Begriff'.

SM> Ich sprach nicht von gesellschaftlicher Interessenlage sondern von der
SM> Interessenlage beim Raubkopieren. Ob daraus eine gesellschaftliche
SM> Interessenlage wachsen kann ist vielleicht ein Gegenstand dieses
SM> Projekts.

Das wuerde _Kritik_ des Bewusstseins, das einem durch
die bestehenden Gesellschaftsformen nahegelegt wird, erfordern. Die
Leute identifizieren weitgehend das Interesse des `Kapitals' und der
`Nation' mit ihrem eigenen. 

SM> Ja. Aber das hat Grenzen.

Weiß nicht so recht. Ich glaube schon, daß die Menschen über ihre
Interessenlage Bescheid wissen, wenn nicht sogar zu stark.
Die Interessenlage im Internet ist in soweit neu, weil sehr vieles
frei erhältlich ist und der kommerzielle Anteil eher gering liegt.
Die Leute laden sich eben vieles herunter und wenn da ein nichtfreies
Musikstück dabei ist, fällt das gar nicht weiter auf ;-)
Daß der Mensch konsumieren will, sollte vielleicht hingenommen werden, das
heißt aber nicht, daß Konsum durch Bezahlung gemacht werden muß.
Ich kann ein Auto kaufen oder es aber auf dem Schrottplatz selbst
zusammenbauen. Vielleicht tut sich allmählich eine große
Abfallverwertung auf, die sich neue Dinge auf Basis freien Abfalls
herstellt. Irgendwohin sollte der Abfall ja.

SM> Letztlich scheint auch hier die Frage auf, wie totalitär das System
SM> Kapitalismus nun ist. Nimmst du an, dass es totalitär und völlig
SM> bezugslos quasi als Alien auf die Menschen hereinstürzt und sie
SM> willenlos macht, dann hast du natürlich Recht. Aber wenn diese Analyse
SM> stimmt, dann sollten wir vielleicht einfach warten bis das Alien
SM> wieder abzieht und uns bis dahin das Leben so angenehm wir möglich
SM> machen.

Ohne einen Replikator ist das alles schwierig ;-)
Den Kapitalismus halte ich nicht für totalitär, er ist ja eher
Wirtschaftsform, weniger die Menschen an sich. Diese können sehr
wohl neue Wege beschreiten, zumindest in Gruppen.
Beispiel: Ich brauche keine kommerzielle Musik, ich mache meine Lieder
selbst.
Was anderes wäre es, wenn die Brotpreise steigen oder so.
Ein Problem ganz anderer Natur sind Gemeinschaftsabgaben für den
Bau von Straßen etc. Gesetzt den Fall, ich hätte mit Geld und Waren
nichts mehr zu tun, bezahle also nichts in die Gemeinschaftskasse,
könnte ich dann guten Gefühles noch Straßen benutzen ?
Das hängt wiederum mit der Toleranz der Gesellschaft zusammen und
ihrer evtll. Idee zur Vielfalt, was m. E. nicht so stark ausgeprägt
ist.
Es wäre vielleicht die Frage interessant, wie viele Lebensmodelle eine auf
Solidarität gegründete Gesellschaft verträgt.
Also, die Grundversorgung müsste gewährleistet sein und das kann ich
mir eigentlich nur in einer Art Landdienst vorstellen, die diese
gewährleistet.

SM> Ich denke aber, dass der Kapitalismus - wie letztlich jedes
SM> Herrschaftssystem - nur entstehen und sich stabilisieren konnte, weil
SM> es an die Interessen einer nennenswerten Anzahl von Menschen
SM> angeschlossen hat, weil es für sie funktional war. Wenn dieses
SM> Herrschaftssystem Kapitalismus aber aufhört funktional zu sein - und
SM> das ist heute eben stellenweise sichtbar -, dann gerät das ganze
SM> System in die Krise. Und wenn der Kapitalismus es nicht schafft,
SM> wieder funktional zu werden - was ich nicht erkennen kann -, dann ist
SM> diese Krise final.

Dafür brauche ich aber irgendwie kein besonderes Bewusstsein - am Ende
noch ein revolutionäres.

Der Kontext ist oben: Du meinst, es reicht aus, wenn die Leute ihr
eigenes Interesse erkennen, es bedarf keines von diesen Interessen
gesonderten "revolutionaeren" Bewusstseins. Ja und nein: "Revolutionaer"
_ist_ das Bewusstsein immer genau _dann_, wenn die Leute ihr Interesse
erkennen und dieses Interesse nicht in der bestehenden Gesellschaftsform
zu verwirklichen ist. Siehe Bourgoisie im Feudalismus.

SM> Eben.

Revolution gibt es m. E., wenn der Brotpreis steigt oder das Volk brutal
geknechtet wird, die Masse erreicht eben einen kritischen Punkt, an dem der
Topf dann überkocht. Gab aber meistens keine Verbesserung der niederen
Klasse, es ändert sich lediglich der Namen der Mächtigen.
Revolutionär ist m. E. die Technik, die neue Formen der Produktion
oder Erleichterungen mit sich bringt, es dampfmaschint eben und die
Menschen entwickeln andere Interessen.

Warum allerdings muss "theoretische und praktische Opposition gegen
Kapitalismus und kapitalistischen Staat" sein?

Weil Kapitalismus auf (Privateigentum und) Aequivalenzprinzip beruht und
der kapitalistische Staat die Aufrechterhaltung desselben sicherstellt.

SM> Das ist wieder sehr einfach gedacht. Die EU fördert Freie Software und
SM> viele staatliche Verwaltungen gehen immer mehr zu Freier Software
SM> über. Wenn die Dinge so einfach gestrickt wären wie du sagst - und die
SM> dort nicht alle nur doof sind -, dann dürfte das nicht so richtig
SM> sein.

SM> Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich betrachte den Staat nicht
SM> als Agenten seiner eigenen Aufhebung. Das muss schon irgendwie anders
SM> laufen. Hoffen wir, dass es zu einer ähnlich unblutigen Implosion
SM> kommt, wie in den ehemaligen sog. real-sozialistischen Staaten -
SM> allerdings mit einem völlig anderen Ergebnis ;-) .

Es gibt ja nicht nur die Regierung, sondern die Unternehmer,
Gewerkschaften oder Bank, diese sind m. E. relativ unabhängig
voneinander. Ich glaube nicht, daß diese Formen grundsätzlich Übles im
Schilde führen, die Leute werden ja nicht wirklich schlecht bedient.
Haben diese Formen allerdings kein regulierendes Prinzip, herrscht
Faustrecht.
Ich stimme Stefan in der Funktionalität einer Herrschaftsform zu, denn
das löst die derzeitige Flaute aus. Waschmaschinen etc. können
automatisiert hergestellt werden. Der Mensch will sich mit etwas
beschäftigen und das kann die Warenherstellung auf Dauer kaum
bewältigen (IMHO). Es gibt auch kein ewiges Wachstum und diese Krise
ist überall zu spüren. Aber ob der Mensch soweit ist, das ohne
Bürgerkrieg (Global) zu schaffen ? Hier ist eben nur Opposition
vielleicht nicht immer richtig. Ich habe manchmal eher das Gefühl,
daß der Staat (Gesellschaft) für jede Lösung dankbar ist ;-)

Wie gesagt, mir ging's nur um Deine Abschaffung des Aequivalenzprinzips.
Dass Du das offensichtlich nicht via aktiver Opposition machen willst,
hab ich inzwischen begriffen.

SM> Auch mal per aktiver Opposition. Aber ich glaube es ist wichtig, eine
SM> andere Stoßrichtung zu haben als "gegen den Staat". "Für die eigenen
SM> (neuen) Interessen" scheint mir richtiger. Das kann mal "gegen den
SM> Staat" sein aber vielleicht auch mal mit ihm.

Es ist, sagst Du, "nichtmal" ein
veraendertes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig. _Wie_ die
Aequivalenz dann abgeschafft wird, hab ich allerdings noch nicht
begriffen.

SM> Vielleicht einfach weil sie sich überlebt hat?

Oder Technik neue Möglichkeiten schafft.
Letztens sah ich eine Doku im TV, daß Star Trek gar nicht so abwegig
sein muß, Jules Verne oder den Traum vom Fliegen hat auch niemand für
voll genommen ;-)
Ein globales Projekt zur Raumfahrt wäre vielleicht nicht mal so
schlecht.
-- 
Grüße
Uli Holz                            

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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