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[ox] Re: Niedergang des Kapitalismus?



Hi Holger et al!

Gar nicht uninteressant dieser Thread. Es gibt auch interessante
Anschlüsse zu den Debatten um den Herrschaftsbegriff.

3 weeks (21 days) ago Holger Weiss wrote:
* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2002-12-05 22:23]:
Aber andererseits wenn ich mir die aktuellen Abwehrschlachten der
Musikkonzerne und Co. gegen NutzerInnen und KünstlerInnen ansehe - da
geht's doch gegen das "fehlende Unrechtsbewusstsein" der Menschen -
oder? M.E. haben die Menschen schon ganz gut ihre Interessenlage
begriffen und in dieser Interessenlage steckt m.E. das Potential.

Naja, sie haben ganz gut begriffen, dass, insofern sie Konsumenten sind,
es in ihrem Interesse liegt, Software und Musik kostenlos zu bekommen.
Das ist schlicht warenfoermiges Bewusstsein. Der Verkauefer will den
Preis maximieren, der Kaeufer minimieren. Ohne dieses Bewusstsein waere
kein Kapitalismus zu machen.

Ja, aber das gilt auch für andere Waren. Klauen ist aber trotz
Supermärkten keine Massenerscheinung wie Raubkopieren. Die Frage ist,
warum es hier einen Unterschied gibt - immerhin handelt es sich in
beiden Fällen um Waren.

Ich würde als These in den Raum stellen, dass das Unrechtsbewusstsein,
dass der Musikindustrie bei ihren (Nicht-)KundInnen so sehr fehlt, bei
materiellen Waren sehr wohl gegeben ist. Dies liegt m.E. nicht daran,
dass es den Menschen bei materiellen Waren besser eingeprügelt wurde,
sondern daran, dass die Menschen bei Informationswaren leicht einsehen
können, dass zu deren *Re*produktion faktisch keine Arbeit notwendig
ist.

Bei materiellen Waren ist dies aber anders. Dort wird wirklich
jemensch etwas genommen, wofür ein Tausch als faire Kompensation
gesehen werden kann. Deswegen ist hier auch das Unrechtsbewusstsein
verbreitet größer.

Alternativer Erklärungsansatz wäre, dass einfach die real drohenden
Sanktionen beim Raubkopieren wesentlich unwahrscheinlicher sind als
beim materiellen Klauen. Das würde dann darauf hinaus laufen, dass die
Menschen genau dass tun, was aller Wahrscheinlichkeit nicht bestraft
wird. Diese Auffassung halte ich aber für nicht haltbar. Vielmehr
werden viele Regeln - auch kapitalistische - m.E. aufgrund von
Einsicht in irgendwas eingehalten.

Wenn genau das aber das nicht mehr funktioniert, wenn die von einem
Herrschaftssystem aufgestellten Regeln nicht mehr überwiegend quasi
von selbst eingehalten werden, dann gerät ein Herrschaftssystem ins
Wanken. Anders ausgedrückt: Wenn das Herrschaftssystem nicht mehr
flächig vermitteln kann, dass es im Interesse der Leute ist, dann muss
zu dessen Aufrechterhaltung ständig steigend mehr Gewalt eingesetzt
werden - wodurch sich das Herrschaftssystem wiederum weiter
diskreditiert. Ich würde ohne lange zu überlegen meinen, dass das bei
vielen Niedergängen zu beobachten ist und auch dort, wo der
Kapitalismus tatsächlich überwiegend gegen die Interessen der Menschen
verstößt.

TCPA/Palladium scheinen mir an genau dieser Stelle die aktuellen
Gewaltmaßnahmen zu sein, die das alte Herrschaftssystem in Stellung zu
bringen versucht. Wenn ich es so herum überlege, dann würde ich sagen:
Wenn es dem Herrschaftssystem Kapitalismus gelingt, den Leuten
Unrechtsbewusstsein beim Raubkopieren zu vermitteln, dann haben
TCPA/Palladium eine Chance. Gelingt das nicht, werden es Totgeburten
werden wie die immer mal wieder aufflammenden Versuche starke
Kryptographie zu verbieten. Jedenfalls wird es dann viel Gewalt
bedürfen, das durchzudrücken. Und das macht die Menschen jedenfalls
nicht glücklicher - wo sie gleichzeitig auch noch viele
Einschränkungen in Kauf nehmen müssen und nicht erkennen können, dass
sich irgendetwas für sie zum Positiven ändert.

Von ihrer gesellschaftlichen Interessenlage aber haben die wenigsten
einen `Begriff'.

Ich sprach nicht von gesellschaftlicher Interessenlage sondern von der
Interessenlage beim Raubkopieren. Ob daraus eine gesellschaftliche
Interessenlage wachsen kann ist vielleicht ein Gegenstand dieses
Projekts.

Das wuerde _Kritik_ des Bewusstseins, das einem durch
die bestehenden Gesellschaftsformen nahegelegt wird, erfordern. Die
Leute identifizieren weitgehend das Interesse des `Kapitals' und der
`Nation' mit ihrem eigenen.

Ja. Aber das hat Grenzen.

Letztlich scheint auch hier die Frage auf, wie totalitär das System
Kapitalismus nun ist. Nimmst du an, dass es totalitär und völlig
bezugslos quasi als Alien auf die Menschen hereinstürzt und sie
willenlos macht, dann hast du natürlich Recht. Aber wenn diese Analyse
stimmt, dann sollten wir vielleicht einfach warten bis das Alien
wieder abzieht und uns bis dahin das Leben so angenehm wir möglich
machen.

Ich denke aber, dass der Kapitalismus - wie letztlich jedes
Herrschaftssystem - nur entstehen und sich stabilisieren konnte, weil
es an die Interessen einer nennenswerten Anzahl von Menschen
angeschlossen hat, weil es für sie funktional war. Wenn dieses
Herrschaftssystem Kapitalismus aber aufhört funktional zu sein - und
das ist heute eben stellenweise sichtbar -, dann gerät das ganze
System in die Krise. Und wenn der Kapitalismus es nicht schafft,
wieder funktional zu werden - was ich nicht erkennen kann -, dann ist
diese Krise final.

Dafür brauche ich aber irgendwie kein besonderes Bewusstsein - am Ende
noch ein revolutionäres.

Der Kontext ist oben: Du meinst, es reicht aus, wenn die Leute ihr
eigenes Interesse erkennen, es bedarf keines von diesen Interessen
gesonderten "revolutionaeren" Bewusstseins. Ja und nein: "Revolutionaer"
_ist_ das Bewusstsein immer genau _dann_, wenn die Leute ihr Interesse
erkennen und dieses Interesse nicht in der bestehenden Gesellschaftsform
zu verwirklichen ist. Siehe Bourgoisie im Feudalismus.

Eben.

Warum allerdings muss "theoretische und praktische Opposition gegen
Kapitalismus und kapitalistischen Staat" sein?

Weil Kapitalismus auf (Privateigentum und) Aequivalenzprinzip beruht und
der kapitalistische Staat die Aufrechterhaltung desselben sicherstellt.

Das ist wieder sehr einfach gedacht. Die EU fördert Freie Software und
viele staatliche Verwaltungen gehen immer mehr zu Freier Software
über. Wenn die Dinge so einfach gestrickt wären wie du sagst - und die
dort nicht alle nur doof sind -, dann dürfte das nicht so richtig
sein.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich betrachte den Staat nicht
als Agenten seiner eigenen Aufhebung. Das muss schon irgendwie anders
laufen. Hoffen wir, dass es zu einer ähnlich unblutigen Implosion
kommt, wie in den ehemaligen sog. real-sozialistischen Staaten -
allerdings mit einem völlig anderen Ergebnis ;-) .

Wie gesagt, mir ging's nur um Deine Abschaffung des Aequivalenzprinzips.
Dass Du das offensichtlich nicht via aktiver Opposition machen willst,
hab ich inzwischen begriffen.

Auch mal per aktiver Opposition. Aber ich glaube es ist wichtig, eine
andere Stoßrichtung zu haben als "gegen den Staat". "Für die eigenen
(neuen) Interessen" scheint mir richtiger. Das kann mal "gegen den
Staat" sein aber vielleicht auch mal mit ihm.

Es ist, sagst Du, "nichtmal" ein
veraendertes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig. _Wie_ die
Aequivalenz dann abgeschafft wird, hab ich allerdings noch nicht
begriffen.

Vielleicht einfach weil sie sich überlebt hat?

Ich stelle mal fest, dass es das in der Form, von der ich vermute,
dass sie dir vorschwebt, es seit 150 Jahren oder länger gibt. Leider
mit wenig Erfolg

*sigh* Ja, meine Ideen sind wenig originell. Eine _gute_, originelle
Idee gibt es auch nur alle 151 Jahre. Sprich, dies Jahr wird das nix
mehr ;-)

Ok, dann lass uns morgen nochmal drüber reden ;-) .

Die Vorstellung, man braeuchte jetzt "voellig neue Ideen", ist
selbst auch nicht neu.

Ja.

Und die ach so neuen Ideen sind dann meist alter
Wein in neuen Schlaeuchen.

Ja. Und gerade ich bin da ja kritischer als viele anderen. Siehe z.B.
meine harsche Kritik an der Freien Kooperation, wo dieser Punkt u.a.
vorkommt. Andere saugen diesen alten Wein ja begierig auf.

Dein Punkt, der Kapitalismus stehe kurz vor seinem Ende, ist auch
mindestens 150 Jahre alt. Bisher hatten die Untergangstheorien auch
"wenig Erfolg", die Empirie wollte einfach nicht auf die Kurz'ens dieser
Welt hoeren.

Ja. Aber das heißt nicht umgekehrt, dass eine Untergangstheorie für
alle Zeiten falsch sein muss. Es kann auch Stimmende geben.

Auch die Idee, statt Opposition "ein wahres Leben im falschen" fuehren
zu muessen, ist aelter als 150 Jahre.

Definitiv.

Proudhon ist (ganz im Geist der
Tauschringe) fuer eine "gebrauchswertorientierte" Warenproduktion
eingetreten und hatte die phaenomenale Idee, eine "Tauschbank" zu
gruenden, die nicht diese boesen Zinsen nimmt. Das ist vor gut 150
Jahren gescheitert. Seine anarchistischen Nachfolger waren in den
vergangenen 150 Jahren nicht minder erfolglos.

Ja, es ist ganz erstaunlich wie oft z.B. Proudhon wiederholt worden
ist.

Mal im Ernst: Wo siehst du den strahlenden Aufstieg des Kapitalismus
momentan?

Mit gewissen Einschraenkungen in der ganzen Welt.

Das würde mich aber jetzt doch interessieren: Woran machst du das denn
fest? Insbesondere, bei deinen folgenden Antworten:

Wo werden die Versprechen, die in den 60er, 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts sogar mit gewissem Recht den
Entwicklungsökonomien gemacht wurden, eingelöst?

Mit gewissen Einschraenkungen nirgens.

Wo siehst du die ständige Wohlstandsmehrung breiter
Bevölkerungsschichten, die der Kapitalismus doch über mindestens mal
50 Jahre hingekriegt hat - zumindest im Nordwesten?

Mit gewissen Einschraenkungen nirgens.

Erklaer mir doch bitte endlich mal jemand, wieso es fuer den
Kapitalismus ein Problem darstellt, wenn er die Versprechungen, die er
im Nord-/Mitteleuropa der 60er/70er Jahre des 20. Jahrhunderts mal
leichtglaeubigen Leuten gemacht hat, nicht einhalten kann. Lohnkuerzung
ist kacke fuer den Lohnarbeiter, aber keine Krise fuer den Kapitalismus.

Ok, mal andersrum gefragt: Was *wäre* denn für dich eine Krise?

Offensichtlich reagiert der Lohnarbeiter nicht mit Opposition (wie sich
das einige Verelendungstheoretiker vorgestellt haetten), also kann's
doch dem Kapitalismus egal sein. Lohnkuerzung steigert erstmal nur die
Profite.

Nur kurzfristig. Die Konkurrenz gleicht das bald wieder aus.

Und nicht zuletzt die Entwicklung im Finanzüberbau mit ihren immer
häufiger und immer wahrscheinlicher werdenden Auswirkungen bis
hinunter in die produktive Sphäre macht das Bild nicht gerade rosiger.

Wieder so eine typisch Kurz'sche These: Dass steigende Aktivitaet auf
Seiten des `Finanzueberbaus' und auf Seiten des `produktiven Kapitals'
ein Widerspruch waeren.

Es geht nicht um Aktivität sondern um Wertverwertung. Wenn die
Profitrate im produktiven Bereich nicht mehr stimmt, dann geht die
Kohle in den Finanzüberbau, in Spekulationsblasen. Da stimmt die
"Profitrate" dann wieder - wie ersichtlich war.

Das langsame Platzen der Blase erleben wir seit mittlerweile ein paar
Jahren. Und die Auswirkungen in die Realökonomie werden immer
beträchtlicher. Aber das ist wirklich Krisis-Basis. Das haben sie
recht gut aufgeschrieben.

Normalerweise (ausser im Falle von _echten_
Krisen) ist das Gegenteil der Fall: Die "Auswirkungen bis hinunter in
die produktive Sphaere" sind erstmal Steigerung der Flexibilitaet, der
Akkumulation und der Produktivkraft.

Und Enron, WorldCom, etc.?

Dass der Kapitalismus aber nicht nur in einer Krise ist, sondern sich
tatsächlich im vermutlich finalen Niedergang befindet, liegt zentral
an der Produktivkraftentwicklung, mit der die Verwertung von
Arbeitskraft immer schlechter funktioniert.

Hier sind wir wohl tatsaechlich am Kern des Arguments. Wenn dem so
waere, stuende der Kapitalismus wirklich vor einer Krise.

Dann sind wir uns ja da immerhin einig.

Aber auch die
These halte ich fuer unbegruendet. Die Produktivkraftentwicklung an sich
kann natuerlich erstmal kein Problem sein,

Sie ist nicht an sich ein Problem, sondern nur in bestimmten
Konstellationen.

sie bedeutet ja nur, dass ich
mehr Gebrauchswert in derselben Zeit produzieren kann, was im
Kapitalismus die Mehrwertrate steigert, also das Gegenteil eines
Problems fuer den Kapitalismus darstellt.

Die Steigerung der Mehrwertrate ist ja nur kurzfristig. Du übersiehst
deren Ausregelung durch die Konkurrenz.

Aber Kurz meint ja, die
_produktive_, mehrwertschaffende Arbeit nehme tatsaechlich ab.

Das ist dann nämlich der Effekt, wenn die vorübergehend gesteigerte
Mehrwertrate sich wieder einpendelt.

Schon das
bezweifle ich, aber selbst _wenn_ es stimmen wuerde, sehe ich noch
nicht, warum dieser Effekt staerker sein sollte als die gegenteiligen
Effekte (Mehrwertsteigerung via Produktivkraftsteigerung etc.).

Das Problem ist, dass Arbeit weniger benötigt wird - mit
Arbeitslosigkeit als unmittelbare Folge. Kann diese Arbeit wieder
aufgesaugt werden - wie z.B. bei der flächendeckenden Ausbreitung des
Autos oder nach Kriegen - dann hat der Kapitalismus sich auf nächster
Stufenleiter erfolgreich reproduziert.

Aber
wenn auch _dem_ so waere, der Kapitalismus also tatsaechlich vor einer
Krise stuende (die BTW nur dann global waere, wenn es z.B. auch fuer
Laender wie China stimmt), dann muesste Kurz aufzeigen, warum die
kommende Krise nicht wie die bisherigen Krisen die Voraussetzungen fuer
einen neuen Aufschwung schaffen kann.

Dieses massenhafte Aufsaugen von Arbeit kann ich aber beim besten
Willen *nirgends* erkennen. Wieviele Menschen braucht es weltweit wohl
um Handys herzustellen - um mal ein aktuelles Massenprodukt zu nennen.

Aber in der Tat steht und fällt mit diesem Punkt die These: Taucht ein
solches Produkt auf, dann kann der Kapitalismus es nochmal reißen.

Soviel.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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