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Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft



Hi ThomasB, StefanS, StefanMz, andere, Liste!

2 weeks (17 days) ago Thomas Berker wrote:
Hallo Stefan (mn) und alle anderen die vor grauen Urzeiten (im September
wars) sich hier mal mit dem Herrschaftsbegriff in Freier Software
Produktion herumgeplagt haben!

Danke zunächst mal, dass du, ThomasB, und all die anderen die Debatte
wieder aufgreifen. So langsam habe ich das Gefühl, dass es auch
richtig fruchtbar werden könnte :-) .

Da viel Interessantes in dem Thread ist, mache ich mich mal nach und
nach an die Antworten.

Ums ganz kurz und knapp zusammenfassen gings zuerst darum,

Ich versuche nochmal meine leicht andere Sicht einzuflechten und auch
ein paar Pointer zu setzen. Ich bleibe erst mal bei dem Begriffssystem
des systematischen Soziologen
[http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04726.html]. Immer noch weil
ich es interessant und gut analysiert finde - was nicht heißt, dass es
für unsere Zwecke nicht verbessert werden kann oder - wahrscheinlich -
sogar muss um nützlich zu sein. Nützlich um die Welt besser zu
verstehen und nützlich zu überlegen, wie Handeln im Interesse von
Emanzipation - d.h. zur Maximierung von globaler Bedürfnisbefriedigung
- aussehen kann.

Wichtig darin: Macht und insbesondere Herrschaft sind nicht eindeutig
negativ besetzt, sondern werden als Phänomene in einem größeren
Zusammenhang betrachtet. Die negativen Aspekte von Macht und
insbesondere Herrschaft werden in diesem Begriffssystem nicht
geleugnet - im Gegenteil. Allerdings würde ich heute diese negativen
Aspekte unter entfremdeter Herrschaft begreifen. Entfremdet vom
eigentlichen Zweck der Herrschaft zum Wirken *für* und *im Interesse*
eines Sozialsystems, was logisch dessen Mitglieder zunächst mal
einschließt - ein Sozialsystem ohne Mitglieder ist keins. Transzendenz
- um den aktuellen Hype-Begriff auch noch einzuflechten - tritt für
mich vor allem dann auf, wenn die Herrschaft sich vom Sozialsystem
entfremdet. Dann werden die Regeln / Machtmittel, die dem Sozialsystem
gedient haben, zu Äußerem und treten dem Sozialsystem als solches
gegenüber. *Genau da* fängt für mich (heute) das Problem mit
Herrschaft und Macht an.

ob es Macht und
Herrschaft in FS-Projekten gibt. Da wurden wir uns einigermassen einig: ja
die gibts, v.a. die Person der/s MaintainerIn (benevolent dictator) oder
die eines kluengelnden 'core teams' sind heisse Kandidaten fuer
MachthaberInnen.

Ja. Genauer für die Herrschaftspersonen (im Sinne des systematischen
Soziologen).

MachthaberInnen im Sinne, dass sie (exklusive) Macht haben sind ja
viele in einem Freie-Software-Projekt - und wenn es nur die negative
Form von Macht ist, die in der Verweigerung der weiteren
Zusammenarbeit liegt. Im positiven Sinne haben aber viele Leute in
einem Freie-Software-Projekt - oder anderen "guten" Sozialsystemen -
Macht zumindest im Sinne von Einfluss - s.u.

Das ist wegen der Ausstiegsoption (fork) allerdings nicht
ganz so klar wie es scheinen mag. Danach stellte sich die Frage, ob es
sowas wie eine 'gute Macht' geben kann. Da meinten einige "niemals und nur
ueber meine Leiche!" und einige "unter bestimmten Bedingungen schon".

Um's nochmal deutlich zu machen: Dieser platte Macht- bzw.
Herrschaftsbegriff "niemals und nur über meine Leiche" ist mir
(mittlerweile) zu eng. Der erklärt wichtige Phänomene einfach nicht
hinreichend und ist damit für eine tragfähige Theoriebildung m.E. zu
dürftig. Ein wichtiges Phänomen, das nicht mit diesem verkürzten
Begriff erfasst werden kann, ist z.B. das Auftreten von Macht und
Herrschaft in der Freien Software, wo die Beherrschten ja durchaus
auch die Herrschaft wünschen (jetzt alles im Sinne des systematischen
Soziologen).

Das "niemals und nur über meine Leiche" setzt damit aus meiner Sicht
den Teilaspekt der Domination, der in Herrschaft enthalten ist, mit
der Herrschaft gleich
[http://www.oekonux.de/liste/archive/msg05029.html]. Inwieweit
Domination bei Freier Software überhaupt eine Rolle spielt - aufgrund
der Entmachtung aller durch das Internet, das wenig bis keine direkten
Machtmittel kennt - war auch schon mal Gegenstand der Debatte.
Inzwischen denke ich, dass diese strukturelle Ohnmacht ein ganz
wesentlicher, aber noch weitgehend unverstandener Aspekt der ganzen
Geschichte ist. Diese strukturelle Ohnmacht erfordert nämlich, dass
die Menschen mit "positiver" Machtausübung gehalten werden müssen, da
"negative" gar nicht erst zur Verfügung steht.

Anbei nur kurz eine Lesefrucht hierzu. Ausser dass es mir bei dem Wort
'postmodernism' die Zehennaegel hochstellt, scheint mir das eine
interessante Erweiterung unseres Herrschaftsbegriffs: MaintainerInnen als
'ErmaechtigerInnen'. Das deckt sich doch weitgehend mit dem Begriff, den
du, Stefan (mn), stark machen wolltest?

Das hängt stark damit zusammen, ja. Das kommt anderweitig in der
Potestas-vs.-Potentia-Debatte hoch, die ich kürzlich andernthreads
schon angesprochen habe. Die Ermächtigungsmacht wäre nach diesem
Raster wohl die Potentia, nach meinem Raster wäre sie die
nicht-entfremdete, (und dewswegen) innerhalb eines Sozialsystems
legitime Machtausübung - da sie offensichtlich im Interesse des
Sozialsystems und damit seiner Mitglieder ist.

Die Potestas-vs.-Potentia-Debatte hat für mich vor allem den
Webfehler, dass sie die Entscheidung für "gute Macht" und "schlechte
Macht" an den handelnden Personen festmacht. Ähnliches gilt nach dem,
was ich davon mitbekommen habe, für die Mulitude.

Das haut für mich aber nicht hin, da m.E. kein Mensch qua Geburt,
Geschlecht, Rasse, sozialer Stellung, sonstwas ein Monopol auf das
eine oder andere hat. Das Bezugssystem muss also von wo anders kommen.
Woher ist die spannende Frage. Der systematische Soziologe beantwortet
sie mit dem Begriff der Gruppe und deren Standpunkt
[http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04988.html]. Dies wird ja
gerade in einem anderen Thread verhandelt.

So weit mal der Schweinsgalopp durch das, was für mich bis hierher
geschah :-) .

Mit dem philosophischen Hinterbau
versehen, der hier skizziert wird, koennte ich damit gut leben.

"Collaboration, an open, inclusive, and conflicted process,

Zusammenarbeit finde ich einen schönen Begriff. Wichtig auch an diesem
Halbsatz: konfliktbehafteter Prozess. Für mich ist das Konzept des
Konflikts immer noch zentral um die Dynamik in einem Sozialsystem ganz
zu verstehen. Deswegen auch wichtig, damit umzugehen. Will ich hier
nicht nochmal auswalzen.

also resides
within the discourse of power, but insists that power is shared.

Ok. Wenn hier `power' auch als Einfluss verstanden wird, ist das ganz
klar. Für mich ist das Gefühl (bei Bedarf) Einfluss zu haben,
tendenziell ein Gradmesser dafür, wie entfremdet Herrschaft ist - oder
eben nicht.

Within the
oppositional discourse of modernism, sharing is a scary proposition because
the dualism proposes that either 'I' have power or 'you' do.

Und das ist ein exklusives Oder hier! Ja, das bringt was gut auf den
Punkt. Eine Folge dieser Denke ist, dass es in einem Konflikt immer
klare Täter und Opfer gibt. Das ist aber m.E. eher selten der Fall.
Das mischt sich vielmehr sehr oft.

But if we move
into a postmodern discussion, the concept of power quickly fractures into
multiple modes: power over, power to control, power with, power for, power
to act, and power to share, that is, to empower:

Diese Fraktionierung kann sicher vorgenommen werden. Was sie hilft zu
zeigen, ist, dass es nicht nur "negative Machtausübung" gibt.

'Power is not only
understood as something groups or individuals have; rather, it is a social
relationship between groups that determines access to, use of, and control
over the basic material and ideological resources in society.

Die Gesellschaft würde ich hier erstmal rauslassen. Aber für eine
Gruppe kann ich dem zustimmen. Macht als soziales Verhältnis.
Interessanter Gedanke.

Fundamentally, then, empowerment is a process aimed at consolidating,
maintaining, or changing the nature
and distribution of power in a particular cultural context.'"

Ja, das kann gut so verstanden werden. Allerdings würde ich
Empowerment nicht übersetzen - oder wenn dann mit Ermöglichung.
Ermächtigung hat im Deutschen halt einen ziemlich braunen Beigeschmack
:-( .

So weit erstmal zum Ursprung des Threads. Ich verspreche, in folgenden
Mails nicht so auszuufern. Jedenfalls versuche ich es ;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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