Message 04726 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT04726 Message: 1/13 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox] Aus der systematischen Soziologie: Das Herrschaftsphaenomen



Liebe Liste,

wie ihr wißt, gibt es in der Debatte um Macht in der Freien Software
einen etwas unbefriedigenden toten Punkt. In einer off-line-Diskussion
wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß es in der Soziologie hierzu
eine Menge Überlegungen gibt. Aus einem Lehrbuch `Einführung in die
systematische Soziologie' zitiere ich den folgenden Abschnitt, der das
Kapitel `Herrschaft' einleitet. (Wieso hat das eigentlich keineR der
mitlesenden SoziologInnen erledigt :-( ?)

Der Abschnitt enthält einige Definitionen zu Begriffen, die wir hier
in den letzten Monaten auch ziemlich ventiliert haben. Ich poste das
hier aus mehreren Gründen:

* Ich finde es hilfreich, daß hier gleich ein ganzes Feld von
  Begriffen definiert wird, die eng miteinander verwoben sind. Das
  scheint mir sinnvoller als das mit einem einzelnen, losgelösten
  Begriff zu versuchen.

* Die meisten der unten definierten Begriffe sind in unseren Debatten
  gefallen. Das deutet m.E. immerhin darauf hin, daß wir schon mal ein
  paar wichtige Kategorien entdeckt haben :-) . Mit den untigen
  Definitionen können wir das vielleicht noch besser unterfüttern und
  es gibt sicher auch noch ein paar Denkanstöße.

* Ich würde es für sehr spannend halten, die Freie Software auf die
  unten dargestellten Begriffe hin abzuklopfen.

* Nicht zuletzt bringt die untenstehende Darstellung auch nochmal eine
  Sichtweise von Herrschaft ein, die nicht moralingesättigt ist.

Im Anschluß an diesen Abschnitt folgt in dem Buch noch ein Abschnitt
"Begründung der Herrschaft", der auch nicht uninteressant ist. Werde
ich demnächst nochmal auszugsweise abtippen.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Beim mittlerweile herrschenden Klima auf der Liste fühle ich mich
    genötigt, dies hier noch dran zu hängen:

  <DISCLAIMER>
    Es geht mir dem Folgenden *NICHT* darum, mich hier auf irgendeine
    Seite von irgendwas zu schlagen oder irgendetwas als allein oder
    auch nur annhähernd glückseligmachend zu behaupten. Schon gar
    nicht formuliere ich eine Position für irgendein "wir", das es
    sowieso nicht gibt. Dies ist lediglich ein Versuch, eine etwas
    festgefahrene Diskussion mit einem (teilweise) neuen Ansatz wieder
    ins Rollen zu bringen und ein paar interessante Fragen an ein
    Grundthema zu stellen, das mich interessiert und was mich
    irgendwann mal bewogen hat, eine Mailing-Liste einrichten zu
    lassen.
  </DISCLAIMER>

--- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< ---

7.1.1. Bedeutung der Herrschaft

Es gibt wenige soziale Phänomene, die in der soziologischen Theorie
eine derart unterschiedliche Berücksichtigung und Beurteilung gefunden
haben wie das der Herrschaft. Jedenfalls ist die Kategorie der
Herrschaft eine grundlegende Kategorie der Gesellschaft. Dessen sind
sich in der Geschichte der Soziologie genügend Soziologen bewußt
gewesen. So ist bei Dahrendorf zu lesen: "Gesellschaft heißt, daß
Normen das Verhalten der Menschen regeln; diese Regelung wird durch
den Anreiz oder die Drohung von Sanktionen garantiert; die Möglichkeit
Sanktionen zu verhängen, ist der abstrakte Kern aller Herrschaft. Aus
dem - zwar ungleichen, aber zusammengehörigen - Dreigespann Norm -
Sanktion - Herrschaft lassen sich ... alle übrigen Kategorien der
soziologischen Analyse ableiten." [Dahrendorf * Pfade aus Utopia
(1968), S. 374f.]. Oder bei Papalekas heißt es: "Herrschaft und
Gesellschaft sind voneinander getrennt nicht denkbar; sie verweisen
vielmehr einen engen Zusammenhang auf, der sich bis zur Identität
beider Sachverhalte steigert. Die Herrschaft ist sozusagen das Herz
der Gesellschaft, die Herrschaftsspannung der Motor der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, die als solche nicht interpretiert
und verstanden werden kann, ohne Konstatierung und Fixierung der Art
und Form der jeweiligen Herrschaftsausübung. Das menschliche
Zusammenleben, die Gesellschaft, ist auf Herrschaft angelegt; die
Gesellschaftsformen sind wesentlich Herrschaftsformen, die ihre
Legitimität von der Bewährung der Herrschenden und der Anerkennung der
Beherrschten erhalten. Eine `anarchische' Gesellschaft wäre demnach
eine contradictio in adjecto." [Papalekas * Herrschaftsstruktur und
Elitenbildung, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 14 (1963), S.
59f.].

Wenn Herrschaft ein derart fundamentaler sozialer Tatbestand ist, dann
muß er eine entsprechende Berücksichtigung in der systematischen
soziologischen Theorie finden. Das gilt erst recht, wenn das
Herrschaftsphänomen im Zeitbewußtsein großenteils entweder übergangen
oder als zu bekämpfender Gegenstand angesehen wird. Dabei spielt es
keine Rolle, ob für diese Einstellungen ideologische Befangenheit,
politisches Interesse oder einfach Furcht vor dem moralischen
Anspruch, der - wie sich zeigen wird - mit Herrschaft notwendig
verbunden ist, die Gründe liefern. Es läßt sich heute feststellen:
"Eine radikale Abwertung der Herrschaft, sowohl des guten Gewissens
bei ihrer Ausübung wie der Bereitschaft, sie zu ertragen, ist seit
etwas zwei Jahrhunderten im Gange. Sie setzt sich bis in die
soziologischen Begriffe und Staatstheorien hinein fort, die das Wort
`Herrschaft' zum Teil schamvoll vermeiden, sehr im Unterschied zu den
alten Definitionen und Typologien des Staates, die die Tatsache, das
Menschen über Menschen herrschen, zum Wesen des Staates und die Zahl
der Herrschenden - ob einer, ob mehrere, ob alle - zum
Einteilungsprinzip der Verfassungen machen." [Freyer * Theorie des
gegenwärtigen Zeitalters (1965), S. 100]. Die Ausstattung von Personen
mit Herrschaftsmacht schafft eine Überordnung über andere und damit
die Zweiseitigkeit von Herrschenden und Beherrschten oder von Herr und
Knecht. Dies ist ein fundamentaler Bestandteil jedes Sozialsystems.
Herrschaftsausübung bedeutet Lenkung der Beherrschten mit Hilfe der
Macht, auch in der Form des moralischen und physischen Zwangs. Dabei
muß die Herrschaft von der Gruppe anerkannt und auf die Erhaltung der
Gruppe ausgerichtet sein.

Natürlich ist das Herrschaftsverhältnis in kleinen Gruppen weniger
ausgeprägt als in Großgruppen, aber die Ansätze zu allen
Grundfunktionen der Herrschaft lassen sich auch in Kleingruppen
finden. Zur vollen Entfaltung kommt Herrschaft aber erst in den
Großgruppen, den Verbänden und Institutionen, in Unternehmungen,
Gewerkschaften, Kirchen und besonders im Staat.

7.1.2. Aspekte der Herrschaft

7.1.2.1. Autorität

Autorität bedeutet zunächst Vorrang, Ansehen, Einfluß, die eine
Person, eine Institution, ein Sozialsystem, aber auch eine Sache
aufgrund bestimmter Eigenschaften oder eines amtlichen Charakters
haben kann. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen her.
`auctoritas' kommt von `auctor' (Urheber, Beförderer, Gewährsmann,
Bürge); `augere' bedeutet vermehren, bereichern, wachsen lassen.
Zunächst hauptsächlich als Rechtsbegriff gebraucht (Bürgschaft,
Verantwortung für ein Mündel) wird das Wort `auctoritas' zur
dauerhaften Eigenschaft des `auctor', durch welche er bestimmenden
Einfluß auf die Entscheidungen anderer auszuüben vermag. Es bedeutet
dann Ansehen, Würde, Gewichtigkeit. Die Autorität äußert sich darin,
daß sie um Rat angegangen wird. Ja, sie kann wesentlicher Bestandteil
einer Institution werden. Schließlich ist es möglich, nicht nur
Personen und Kollegien (Senat) Autorität zuzubilligen, sondern auch
Staaten, Schriftstücken und Gegenständen (Symbole).

Das Wort `Autorität' wird danach vielfach in einem so weiten Sinn
gebraucht, daß alle Herrschaftsphänomene darunter fallen. Dieser
Wortgebrauch wird dadurch gestützt, daß das Wort `Herrschaft' in
vielen Ohren einen rein negativen Klang bekommen hat. In der
soziologischen und staatstheoretischen Tradition hat jedoch der
Herrschaftsbegriff meist den wichtigsten Platz eingenommen. Sowohl das
Moment des Führungsvorgangs als auch das Moment der Institution und
der Zwangsgewalt kommt im Wort `Herrschaft' besser zum Ausdruck als in
dem Wort `Autorität'. Außerdem würde mit einer Ausschaltung von
`Herrschaft' zugunsten von `Autorität' für das Spezifische der
Autorität der Ausdruck fehlen. Das Spezifische der Autorität liegt
darin, daß in ihr die Würde der Herrschaftspersonen zum Ausdruck
kommt. Gegenüber der Mitgliedschaftswürde, die allen Mitgliedern -
auch den Herrschaftspersonen - zusteht, ist die Autorität als
Herrschaftswürde von höherem Rang. Die Autorität bezeichnet die
Tatsache der Symbolqualität der Herrschaftsperson. Symbolisiert wird
in der Autorität die Sozialeinheit in ihren legitimen Repräsentanten,
der an ihrer Statt zu handeln berechtigt ist. Dies ist der zentrale
und wesentliche Bedeutungskern von `Autorität', gegenüber dem alle
anderen Bedeutungen sekundär sind.

7.1.2.2. Führung

Das Wort `Führung' wird ähnlich dem der `Autorität' in einem weiten
Bedeutungsbereich gebraucht. Auch das Wort `Führung' hat bisweilen
dazu gedient `Herrschaft' zu ersetzen. Mit `Führung' ist jedoch in
besonderer Weise das aktive Handeln der Herrschaftsperson
angesprochen. Der Aspekt der Führung betrifft das `Wie' der
Herrschaft, Führen ist also Herrschen. Allerdings wird mit `Führung'
nicht der Gesamtbereich des Herrschens erfaßt. `Führung' meint weniger
die repräsentative Seite der Herrschaft und weniger das
institutionelle Gewicht als die aus gegebenen Situationen zu
entwickelnde Herrschaftstechnik (die Führung einer Streikaktion, die
Führung einer Militäreinheit, die Führung einer Bauarbeitergruppe)
oder die Herrschaft durch charismatisch begabte Persönlichkeiten,
besonders wenn sie als Gründer einer Sozialeinheit auftreten
(Religionsstifter, Parteiführer).

7.1.2.3. Macht

Macht ist ein soziales Phänomen, das über die Herrschaft hinausgeht.
Macht kann sich in allen Sozialbeziehungen und in allen sozialen
Situationen zeigen, sie bedeutet Verfügungsmöglichkeit. Ein Mittel,
das jemand benutzen kann, um seine Ziele durchzusetzen gewährt Macht.
Max Weber definiert folgendermaßen: Macht bedeutet "jede Chance,
innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht"
[Weber * Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei Bände (1973, zuerst 1922),
S. 28]. Wenn es auch nicht angängig ist, Macht als Häufigkeit (Chance)
und damit als Regelmäßigkeit des Handelns zu definieren, so gibt diese
Definition den Sachverhalt doch klar wider. Macht ergibt sich also
nicht nur durch die der Herrschaft zur Verfügung stehenden Mittel
(Potenzen), sich durchzusetzen, Macht ergibt sich auch durch
individuelle Vorzüge, physische oder psychische Überlegenheit, durch
soziales Prestige, Wissen, Fähigkeiten, Eigentum und Besitz. Alle
diese Machtmittel können auch der Herrschaft zur Verfügung stehen.
Darüber hinaus ergibt sich Herrschaftsmacht aus traditionellen
Verhaltensweisen, aus organisatorischen und vertragsmäßigen Bindungen,
aus Verfügungsberechtigungen über die Dienstleistungen anderer und
über materielle Güter. Zur Macht im weitesten Sinne zählt schließlich
jede realisierbare Möglichkeit der Einflußgewinnung auf andere.

Träger der Macht können nicht nur einzelne Personen sein, sondern auch
Gremien, Kollektive, Kleingruppen und Verbände. Die Machtdurchsetzung
kann durch Überredung, Überzeugung, Drohung und physischen Zwang
erfolgen, wobei heutzutage die Massenkommunikationsmittel eine
besondere Rolle spielen.

7.1.2.4. Zwang und Gewalt

Zwang ist die Anwendung von Machtmitteln gegen Personen, die sich
vermeintlich oder tatsächlich den Absichten und Zielsetzungen dessen,
der die Zwangsmittel zur Verfügung hat, widersetzen. Die Anwendung von
Zwang ist also eine der Möglichkeiten des Gebrauchs der Macht. Zwang
kann sich in unmittelbarer körperlicher Gewaltanwendung und
körperlicher Schädigung, in Entzug von Besitz und Eigentum, in
Einschränkung oder Aufhebung der Freiheit zeigen.

Das Wort `Gewalt' hat im deutschen Sprachgebrauch einen Doppelsinn.
Einerseits wird `Gewalt' mit `Zwang' vollkommen gleichgesetzt.
Andererseits bedeutet Gewalt die spezifische Herrschaftsmacht. Diese
letztere Bedeutung liegt dem lateinischen `potestas' zu Grunde. Gewalt
wäre danach die legitime Herrschaftsmacht der Herrschaftsperson, so
des Inhabers eines Amtes oder einer Mehrheit von Herrschaftspersonen,
z.B. einer Behörde. Dieser Sprachgebrauch findet sich z.B. noch in dem
Ausdruck `Gewaltenteilung'.

7.1.2.5. Legitimität und Vertrauen

Legitimität ist zu unterscheiden von Legalität. Während Legalität die
Übereinstimmung des Handelns mit einem geltenden (formal korrekt
zustandegekommenen) Gesetz ist, bedeutet Legitimität Rechtmäßigkeit
einer Herrschaft, speziell der Staatsgewalt.

Das zugrundeliegende Problem ist, auf Grund wessen die Herrschaft die
Mitglieder eines Sozialsystems überhaupt zum Gehorsam verpflichten
kann. Maßgebend ist jeweils die Übereinstimmung einer
Herrschaftsperson mit dem Inbegriff der Normen des Sozialsystems, also
mit dem Gruppengeist. Dieser kann als Gott verstanden werden oder als
ein die Versammelten (Vertreter der) Mitglieder beflügelnder Geist. Im
ersten Fall ist eine Begründung der Herrschaft aus dem Gottesgnadentum
denkbar, im anderen aus der Volkssouveränität. Beide
Verständnismöglichkeiten des Gruppengeistes lassen sich vereinen, so
z.B. wenn die Meinung der Versammelten als Gottes Stimme interpretiert
wird (`vox populi vox Dei') die Übereinstimmung mit dem Inbegriff der
Normen wird zu Beginn einer Herrschaft dadurch hergestellt, daß die
notwendige Vollmacht zur Herrschaftsausübung wirksam übertragen wird.
Da die Vollmachtszuteilung nicht durch eine übergeordnete
Herrschaftsperson erfolgen kann wie bei der Delegation, müssen die
dazu Befugten und die vorgesehenen Vorgehensweisen vom Volk, von den
Beherrschten anerkannt sein. Die Anerkennung besteht in einem Akt, der
nicht mehr im vollen Sinn rational zu erklären ist. Es ist eine Art
Glaubensakt. Man spricht daher von einem `Legitimitätsglauben'. Dem
Gruppengeist als vorgelagerter Instanz der Herrschaft muß Rechnung
getragen werden. Dies geschieht in drei möglichen Formen:

1. Durch Einhaltung traditionell vorgegebener Riten und Wahlmodi,

2. durch Erfassen der Begnadung einer Führungsperson als Zeichen ihrer
   Erwählung und

3. durch gesatzte Festlegung der Versammlung der Mitglieder (oder
   ihrer Vertreter), wie die Herrschaftspersonen zu wählen sind.

Deshalb unterscheidet Max Weber zu Recht die drei Formen der
Legitimierung von Herrschaft, nämlich die Legitimierung durch
Tradition, persönliches Charisma und durch legale Satzung.

Die Legitimitätsfrage stellt sich aber nicht nur im Hinblick auf die
Übertragung der Berechtigung zur Herrschaftausübung, sondern auch
während der Zeit der Herrschaftausübung. Daher besteht das
Widerstandsrecht im Grundsatz nicht nur gegen einen illegitimen
Ursupator der Herrschaftsmacht, sondern auch gegen einen legitim zur
Macht gekommenen Herrscher wenn dieser die vom Herrscheramt
geforderten Aufgaben nicht erfüllt (Tyrann). Die Illegitimität ergibt
sich in diesem Fall durch die fehlende Ausrichtung an der
Gesamt-Normorientierung bei systemabweichendem Verhalten der
Herrschaftsperson.

Von hier aus zeigt sich deutlich, daß ein legitimes
Herrschaftsverhältnis in gegenseitiger Verpflichtung zwischen
Mitgliedern und Herrschaftspersonen begründet ist. Der Gehorsam auf
der einen Seite setzt die Befolgung der fundamentalen Normen der
Sozialeinheit durch die Herrschaft voraus. Im Einsetzungsakt wird
diese Verpflichtung der Herrschaft meist ausdrücklich angesprochen
(z.B. Anerkennung der Treue zur Verfassung). Die legitim eingesetzte
oberste Herrschaftsperson und ebenso die von dieser durch eindeutige
Delegation mit (reduzierter) Herrschaftsmacht ausgestattete
rangniedere Herrschaftsperson verdient folglich stets einen
Vertrauensvorschuß von Seiten der Beherrschten. Ohne diese
Vertrauensgrundlage wäre der Bestand jedes Sozialsystems in Frage
gestellt. Ein bloß und ausschließlich kritisches Verhalten zur
Herrschaft ist daher Anzeichen für die Nichtanerkennung der Herrschaft
und damit zugleich für die Nichtanerkennung der eigenen Mitgliedschaft
durch den die Kritik Äußernden. Das soll nicht heißen, daß Kritik an
der Herrschaft ausgeschlossen sei. Im Gegenteil, gerade aus der
Anerkennung der Mitgliedschaft und Herrschaft im Grundsatz ergibt sich
das Recht und die Pflicht zu kritischer Einstellung und Handlung.

Natürlich geht das Vertrauen nicht nur in das Herrschaftsverhältnis
ein, sondern in grundlegender Weise auch in die
Mitgliedschaftsbeziehung. Ohne Vertrauen ist keine Gemeinsamkeit
aufrechtzuerhalten. Die Haltung des Vertrauens kommt in jedem
Identifikationsakt zum Ausdruck und wird durch ihn wiederum gestärkt.
Gebrochenes Vertrauen bewirkt nicht nur Enttäuschung (Frustration),
sondern auch Reduzierung der Identifikationsbereitschaft.

7.1.2.6. Öffentlichkeit

Öffentlichkeit ist jene Sphäre, in der ein Sozialsystem sich in seiner
Herrschaft und seiner Mitgliedschaft selbst darstellt und in der
zwischen beiden Bereichen eine intensive Kommunikation stattfindet.
Gegenstand der Kommunikation ist hauptsächlich der Normfindungs- und
Normanerkennungsprozeß. Die Repräsentation der Herrschaft ist dabei
konstitutiv. Vorzügliche Orte der Öffentlichkeit sind z.B. der
Festraum und das Parlament.

Öffentlichkeit wird reduziert oder zerstört, wenn die (absolutistische
oder totalitäre) Herrschaft ohne Kommunikation mit den Mitgliedern
einseitig die Normen festsetzt. Das gilt besonders dann, wenn es sich
um wesentliche Normen für die Zukunft der Sozialeinheit handelt.
Öffentlichkeit wird aber ebenso in Frage gestellt, wenn anstelle der
Normorientierung nur oder überwiegend die Interessenorientierung der
Mitglieder in der Darstellung zum Zuge kommt. Dies ist kennzeichnend
für die frühe bürgerliche Gesellschaft, in der das Individuum nicht
als Mitglied, sondern als Privatperson erscheint, das sich von seinem
eigenen Interesse her definiert (vgl. Hegels Beschreibung der
bürgerlichen Gesellschaft). Die `bürgerliche Öffentlichkeit' wird
bestimmt durch die Interessen, die gegenüber der Obrigkeit
durchzusetzen sind. Der Staat erscheint dabei als `öffentliche
Gewalt', als ausführendes Organ für die bürgerlichen Interessen.
Medium der sich artikulierenden Interessen wird die Presse, die seit
dem 18. Jahrhundert ganz erheblich an Bedeutung zunimmt. Die auf den
Staat bezogene Öffentlichkeit ist seitdem reduziert worden. Auf dem
Hintergrund eines immer umfangreicher und undurchsichtiger werdenden
bürokratischen Apparates wird es möglich, die verschiedenartigen
Interessen durch Kompromisse auszuhandeln, ohne daß die staatliche
Seite das Moment des Allgemeinen genügend zur Wirkung bringen kann.
Der Auftrag an die Presse und die Massenkommunikationsmittel, Licht in
diese Zusammenhänge zu bringen, bedeutet zugleich die Übernahme von
Herrschaftsfunktionen durch diese, so daß es schwierig wird, Norm und
Interesse in diesem Raum noch voneinander zu unterscheiden. Mit der
Zersplitterung des Öffentlichkeitsraumes entsteht ein Bedürfnis,
`öffentliche Meinung' als die Meinung der Mehrheit zu erfassen.
Politik ist daher in den westlichen Staaten ohne die Meinungsforschung
kaum mehr zu denken. Das besagt aber nicht, daß in vielen Gruppen und
Institutionen nicht auch heute noch Öffentlichkeit im eindeutigen Sinn
gegeben ist.

7.1.2.7. Elite

Personengruppen, die an hervorragender Stelle in einer bestimmten
Sozialeinheit oder in der Gesellschaft stehen, werden als Elite
bezeichnet. Bisweilen versteht man unter Elite die `Besten' , sei es
im Sinne ihrer Leistung (`Leistungselite') oder im Sinne ihrer
Symbol-Funktion (`Wertelite'). Tatsächlich hängt sowohl die
Definierung der Leistung als auch die rituelle Demonstration von
Gruppen-Normen entschieden von der gegebenen Herrschaft ab. Es ist
folglich nicht sinnvoll, `Elite' ohne Bezug zur Herrschaft zu
verstehen. Zur Elite gehören daher sowohl alle Personen, die
Herrschaft ausüben - auch dann, wenn sie dazu weniger geeignet sind -
(Machtelite), als auch diejenigen Personen, die für die Ausübung der
Herrschaft in der Zukunft in Frage kommen.

Eliten gibt es in allen Sozialsystemen. Die Probleme der Elitetheorie
bestehen darin, die verschiedenen Eliten (Politik, Verwaltung,
Militär, Kirchen, Gewerkschaften, Kunst, Wissenschaft usw.)
voneinander zu sondern und die gegenseitigen Einflüsse festzustellen.
Das ist besonders deshalb schwer, weil eine Person oft Zugehörigkeiten
zu einer Mehrzahl von Elitegruppen besitzt.

aus: Wigand Siebel: Einführung in die systematische Soziologie. Beck
Verlag, München. 1974; S 207 - 214.

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT04726 Message: 1/13 L0 [In index]
Message 04726 [Homepage] [Navigation]