[ox] Re: Die Schlauch-Seil-Inkontingenz
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Sat, 5 Oct 2002 11:09:36 +0200
Hi Stefan et al.,
On Friday 04 October 2002 16:08, Stefan Seefeld wrote:
Stefan Meretz wrote:
Die Überlegung geht so: Nehmen wir die Begriffe "kontinuierlich" vs.
"diskret" aus der Mathematik und wenden sie in einem Analogieschluss
auf die ganze Welt an. Dann sagt StefanSf, dass die Welt
kontinuierlich ist, die Begriffe aber diskret (Sie "diskretisieren
eine Welt, die kontinuierlich ist"). Ich schliesse, eigentlich auch
nur formal, dass dann die Begriffe nicht zur Welt gehören. Sie
diskretisieren die Welt irgendwie, und wenn sie das getan haben, dann
sind sie in einem anderen Reich (weil nun diskret und nicht mehr
kontinuierlich). Ich will das absolut nicht lächerlich machen, denn
es ist eine relativ bekannte Annahme, die ich nur schlicht für falsch
halte. Das ist die Aussage.
Ok, vielleicht kann man dieses Schein-Paradoxon dadurch entsch"arfen,
dass man es als eine Prozess betrachtet, d.h. nicht im Rahmen formaler
Logik, sondern dialektisch:
Wenn du es dialektisch betrachtest, dann gibt es kein Paradoxon mehr.
Ausgangspunkt waren ja dualistische Begriffe. Die bekommst du
"definitorisch" nicht in den (Be-)Griff.
(ich benutze hier 'Begriff' wie in meinen anderen mails als mentales
Abbild der Realit"at)
Begriffe sind nicht "Abbilder" der Realität. Der Mensch wird nicht von
seiner Umwelt in einer Weise determiniert, dass sich Realitäten quasi
mental "einprägen" wie mit einem Prägestempel. Sondern der Mensch verhält
sich aktiv zur Welt und eben auch zu den Begriffen. Bevor du einen
Begriff im Kopf "sitzen" hast, ist in deiner Lebenspraxis schon eine
Menge passiert. Eventuell meinst du aber genau das...
Begriffe kommen auf die Welt. Wir nehmen die Umwelt war, ver"andern
sie, und schaffen uns dabei 'ein Bild' von ihr. Das ist diskret in dem
Sinne dass es "uber Abgrenzung (zu all dem was der Begriff *nicht*
bezeichnet) operiert. Nun ist bis hier der Begriff noch nicht selbst
Teil der Welt.
Wieso denn das nicht? Bist du kein Teil der Welt?
Du meinst wahrscheinlich: Der Begriff wurde noch nicht gesellschaftlich
verallgemeinert. Vorsicht! Meinst du "Begriff" oder "Wort"? Es ist
nämlich - gerade heute - so, dass das Denkmögliche auch an vielen Stellen
fast zeitgleich gedacht wird. Mehr oder weniger "klar" und in
unterschiedlichen Worten und Zusammenhängen. Siehe Freie Software.
Er wird es sobald mensch ihn objektiviert, sei es durch
Kommunikation (d.h. mehrere Personen einigen sich auf die Benutzung
eines Modells zwecks Verst"andigung), oder durch direkte Ver"anderung
der Umwelt als Folge der Begriffsbildung. Und sobald er nun
objektiviert ist, nimmt er nat"urlich an dem Kontinuum das die
Realit"at ist, teil. Ich sehe da allerdings keinen Widerspruch zu
seinem diskreten Wesen als Abgrenzung einer Sache vom Rest.
Da will ich nicht um das Wort "diskret" streiten. Wenn du diskret im Sinne
von Abgrenzen meinst - ok. Mir ist nur wichtig: Es ist Teil dieser Welt,
es ist immanent.
Ich sage alternativ dazu: Begriffe sind genauso kontinuierlich wie
die Praxen, in denen sie verwendet werden - exakte Definitionen hin-
oder her - weil diese eine Welt mit ihren Begriffen und allem Drum
und Dran kontinuierlich ist.
nat"urlich, ist aber als Aussage nicht besonders hilfreich.
('na und ?' :-)
Ok, die Begriffe haben also kein eigenes (diskretes) Reich, sondern
gehören in diese (kontinuierliche) Welt - mehr oder weniger scharf
"definiert" (abgegrenzt von anderen). Prima!
Nein, aber wenn du beschreibst, dass dir was nicht klar ist, dann ist
dir schon viel klar: Jede Unklarheit ist Klarheit über das Unklare.
Die Aufklärung verschaffst du dir nun nicht dadurch, dass du anfängst
zu definieren, sondern indem du dir erstmal Klarheit über das zu
Definierende verschaffst.
die Unterscheidung verstehe *ich* nicht :-)
das 'zu definierende' zu verstehen (und damit abzugrenzen) *ist* doch
quasi schon die Definition ! Sicher nicht wenn es um die Frage des
'wie' geht, wohl aber beim 'was'.
Quasi - aber nicht wirklich;-)
Also: ja, kann sein, dass es in einen Prozess fällt. Es kann zum Beispiel
zu einer Art Wechselwirkung kommen: Du machst auf Basis deines
Vorverständnisses eine versuchsweise Definition und stellst fest, dass
sie an bestimmten Rändern "ausfranzt", weil dort der Rand unscharf ist,
weil dir nicht richtig klar, was genau dort inhaltlich vorliegt. Also
klärst du das auf, um deine Definition zu vervollständigen. Dann stellst
du Widersprüche zu anderen Begriffen fest etc. - eine Art iterativer
Prozess.
Zwei Dinge sind mir dabei wichtig:
(1) Die inhaltliche Klärung ist primär, ohne sie gibt es keine Definition
(2) Sehr oft wird der oben beschriebene Prozess als nicht zu eigentlichen
Wissenschaft gehörig betrachtet. Oft "beginnt" eine Wissenschaft mit
Definitionen, die dann so tut, als ob damit die Begriffe "auf die Welt"
kommen. In Wirklichkeit sind sie längst da, z.B. in dem o.g. Prozess
entstanden. Da der Prozess der "Definitionsfindung", also
Begriffsbildung, meist nicht offengelegt wird - insbesondere die Methode
nicht! - ist eine solche Definition theorieimmanent nicht kritisierbar
(das gilt in der Regel für den "Westen").
Es ist unmöglich, etwas nicht schon mindestens
"irgendwie" Klares zu definieren. Versuch es: Setz dich hin und
definiere etwas Unklares. Sobald du anfängst Abgrenzungen zu treffen,
musst du über das Abzugrenzende und Abgegrenzte nachdenken: Du
verschaffst dir (mehr) Klarheit (das ist ja kein Absolutum). Die
Klärung der Bedeutung ist _immer_ vorgängig.
Wenn ich Dich also richtig verstehe, dann f"angst Du mit '"irgendwie"
Klarem' an, und verschaffst Dir '(mehr) Klarheit' dar"uber. Das finde
ich nicht besonders befriedigend. Woher kommt denn das '"irgendwie"
Klare' bei Dir ???
Ich behaupte: Jede/r macht das so. Jede/r geht von einem "gewissen"
Vorverständnis aus. Das ist das "irgendwie" (Un)Klare. Es kommt IMHO
darauf an, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, um damit dann gezielt
umzugehen.
Beispiel aus meiner eigenen Überlegerei: Ich stoße auf die Freie Software.
Whow, interessant! Mein Vorverständnis sagt mir sofort: Das hat was mit
Produktivkraftentwicklung zu tun. Aber was? Wie kläre ich das auf? Sollte
ich anfangen zu definieren? Nein, das brächte nichts, denn ich kapiere ja
noch gar nicht, was da los. Also erstmal nachforschen. Wie? Na, wie
immer, ausgehend von meinem methodischen Vorverständnis, durch Aufklärung
der Werdenslogik: Ich verstehe, wie etwas ist, wenn ich verstehe, wie es
geworden ist. ... ... ... Einige Zeit später: Ich kann nun die These
formulieren: FS ist eine Keimform einer neuen Qualität der
Produktivkraftentwicklung. Als "Subsysteme" stecken darin eine Reihe von
Begriffsbildungen oder -klärungen, die ich jetzt hier nicht wiederkäue.
Nun könnte ich Definitionen formulieren. Da ich davon nichts halte bzw.
da meine historisch-logische Rekonstruktion IMHO eine viel bessere Form
sind, lasse ich das.
Ich behaupte: So läuft das eigentlich immer (nur methodisch
unterschiedlich). Und viele lassen inzwischen auch das Definieren sein,
weil es einfach nicht viel bringt (ausser einer Scheinklarheit). Fies
gewendet, könnte ich formulieren: Wer definiert, hat was zu verbergen;-)
Stufe 1: Zwei Leute tauschen sich über ihre unmittelbaren sinnlichen
Eindrücke aus, die ihnen nur tastend zugänglich sind. Der eine
schreibt sein Getastetes als "schlauchartiges Ding mit Rillen". Der
Andere nennt sein Getastetes "seilartiges Ding mit einer Quaste
dran". Sie kommen zu dem Schluss, das sie es nicht mit der gleichen
Sache zu tun haben. -- Interessant hier: auch die Seinsebene ist nur
über die Praxis zugänglich (die die Wahrnehmung einschliesst).
na klar, Wahrnehmung ist (nach dem Sein selbst) priorit"ar, i.e. liegt
der Begriffsbildung zugrunde. Aber nachhaken m"ochte ich hier doch:
Ich m"ochte behaupten, Du kannst Dich gar nicht "uber 'unmittelbar
sinnliche Eindr"ucke' austauschen, da die Austauschbarkeit ja schon
Begriffe und Symbole von dem zu vermittelnden voraussetzt.
Zustimmung - das ist so.
Ob die
Partner dabei dieselben Begiffe und Symbole benutzen, ist ja dabei
erstmal egal. Eco beschreibt, wie Marco Polo einem Einhorn begegnet:
er sieht ein Nashorn und versucht es in Seinen 'Begriffsapparat'
einzubauen. Dort findet er als besten 'fit' ein Einhorn, von dem er
zumindest als Mythos geh"ort hat. Nun stellt er fest dass Sein Bild
vom Einhorn mit dem des Nashorns nur sehr unzul"anglich zusammenpasst
(das Nashorn ist nicht weiss, und auch nicht gerade grazi"os, etc.).
So stellt sich die Frage ob der ihm bekannte Begriff ('Einhorn') zu
erweitern oder zu ver"andern ist, oder ob da ein neuer Begriff her
muss.
Will sagen: wenn Du 'schlauchartiges Ding mit Rillen' sagst, dann weil
Du gerade dabei bist, Deine sinnlichen Eindr"ucke auf etwas abzubilden,
von dem Du schon einen Begriff hast. Nun weisst Du aber dass das nur
eine Analogie ist, und deshalb h"angst Du Deiner Beschreibung noch ein
'-artig' an.
Ja, genau - du hast mich durchschaut;-)
Stufe 2: Unsere beiden Leuten erklimmen die nächste Stufe der
Erkenntnis. Sie stellen doch fest, dass es eine Beziehung zwischen
dem "gerillten Schlauch" und dem "gequasteten Seil" gibt: beides
taucht stets in einer bestimmten räumlichen Enfernung voneinander
auf. Wenn ein "gerillter Schlauch" auftaucht, dann gibt es in einer
Entfernung von 2 bis 3 Metern auch ein "gequastetes Seil" - und
umgekehrt. Sie definieren das Schlauch-Rillo-Seil-Quasto-Gesetz und
geben diesem Zusammenhang den Namen Schlauch-Seil-Inkontingenz. --
Interessant hier: Erst durch schrittweises Aufklären von
Zusammenhängen von Erfahrungen, etwa durch Messungen, ist eine
Definition möglich. Das ist die Ebene traditioneller (bürgerlicher)
Wissenschaft. Hier gehören etwa die Selbstorganisationstheorien rein
oder auch die Systematische Soziologie oder Luhmanns Systemtheorie.
Es ist die Ebene des Abstrakt-Allgemeinen. Hier gibt es auch schon
"Begriffe", aber es ist noch nicht die Ebene des Begriffs im
Hegelschen Sinne erreicht.
ok, hier haben wir 'Begriffsbildung' erlebt. Die beiden haben
festgestellt, dass sich ein Ding losgel"ost vom Rest betrachten l"asst,
und haben dieser Betrachtung (d.h. dem Bild das sie sich von dem
Ding machen) einen Namen gegeben.
Ja, für viele ist der Fall hier abgeschlossen.
Diese Ebene ist die des Konkret-Allgemeinen.
Stufe 3: Unsere beiden Leute werden immer Schlauer. Sie erkennen
nicht nur abstrakt-allgemeine Zusammenhänge, sondern erschliessen
sich das "Ding" in ihrer vollen Bedeutung innerhalb der
menschlich-gesellschaftlichen Praxis. Und da fällt es ihnen wie
Schuppen von den Augen: Das "Ding" ist ein Elefant! Nun können sich
die beiden in völlig neuer Qualität über das "Ding" unterhalten und
zu neuen Erkenntnissen kommen, weil das konkret-allgemeine Ding klar
geworden ist. Leider haben die beiden nun erhebliche Schwierigkeiten
mit der Masse der Wissenschaftler, die immer noch von der
Schlauch-Seil-Inkontingenz faseln. -- Interessant hier: Der
Ich kann Dir in dieser dichotomen Betrachtung nicht folgen. Wie kann
man sich ein '"Ding" in ihrer vollen Bedeutung' erschliessen ? Ist das
nicht ein andauernder (und niemals endender) Prozess ?
Ja! Ich schrieb aber: "in ihrer vollen Bedeutung innerhalb der
menschlich-gesellschaftlichen Praxis". Ich hatte gleich das Kriterium
mitgegeben: die Praxis. Und wahrscheinlich wirst du mir zustimmen, dass
der Begriff "Elefant" dem gigantisch mehr entspricht als
"Schlauch-Seil-Inkontingenz (c) Stefan Meretz 2002";-)
Aber wichtig: Auch die Praxis ist nichts Absolutes. Es gibt keinen
transzendenten Standpunkt, von dem aus ein Begriff oder eine Praxis als
"richtig" oder so beurteilt werden könnte. Die Beurteilung erfolgt
"innerhalb", eben "immanent". Wenn unsere Lebens-Praxis uns nicht mehr
befriedigt, dann ändern wir sie. Und wir merken hier bei Oekonux wie sehr
das mit Begriffen zu tun hat: Mit neuen Begriffen eine mögliche andere,
uns zufrieden-machendere Praxis sich vorstellen können - darum geht's.
Nicht gerade ein simples Vorhaben, denn es lauern viele Gefahren:-)
Will sagen: klar
k"onnen verschiedene Betrachter auf mehr oder weniger 'symptomischer'
oder 'wesentlicher' Ebene "uber das Ding diskutieren. Aber es wird nie
um das 'Ganze' gehen, es sei denn als abstraktes Konzept.
Wenn unsere, deine, meine Praxis das "Ganze" ist, dann geht's ums Ganze.
Wenn das Ganze irgendwo "da draussen" spielt, dann geht's darum genau
nicht, denn das würde einen transzendenten Standpunkt voraussetzen, den
es nicht gibt: Wir sind "drin" - von dort aus müssen wir gucken.
Oder: Was meinst *Du* wenn Du "uber Elefanten sprichst ? Inwiefern
unterscheidet es sich von 'dem Ding mit dem gequaseten Seil' ?
Ich meine die Frage ernst. Dein Gebrauch des Wortes "Elefant" ist
doch an Deine direkte (und der durch die Gesellschaft vermittelte)
Erfahrung mit Representanten dieser Kategorie gekn"upft. Siehe Marco
Polo und das Einhorn...
Ja, genau. Wenn ich von "Elefant" spreche, wissen alle sofort, um was es
geht. Weil der "Elefant" an eine allgemeine, bewährte gesellschaftliche
Praxis geknüpft ist. Und Praxis heisst dabei nicht, dass ich so ein Tier
mal angefasst haben muss (hab ich nie), sondern allein schon, dass das
gesellschaftliche Netzwerk (von Kinderbüchern über Zoos, Fernsehen,
Internet etc.) ein sehr konsistentes Bild eines "Elefanten" bildet. Ich
kann z.B. mit diesem Begriff sehr erfolgreich kommunizieren, z.B. in
dieser Liste.
Ich hoffe, das, was ich als "Definitionsparadoxon" bezeichne (das,
was durch Definition geklärt werden soll, muss vorher schon klar
sein) ist damit klarer geworden.
ich bin mir nicht sicher, ob ich Dich einfach missverstehe, oder
schlicht nicht mit Dir "ubereinstimme.
Ich glaube, wir sind nicht weit auseinander. Wir sind gerade in einer
Klärungsphase, die - so meine Behauptung - immer vorgängig ist:-)
Ciao,
Stefan
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