Message 05252 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT05183 Message: 21/40 L6 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Boden(un)recht



Hartmut schreibt über Reichtum, Produktion und Arbeit:
Man kann da ziemlich vielfältige Schlüsse ziehen.

natürlich. Der vorherrschende Schluß ist natürlich, alle bitteren
Pillen zu schlucken und sich immer noch einzureden, eine Auseinandersetzung
mit strukturellen Ursachen sei unpraktisch und wir könnten da einfach
durch.

Das muss man sich wohl nicht einreden.  Ich wäre nicht auf dieser Liste,
wenn mich nicht strukturelle Ursachen interessieren würden.  Aber die paar
brauchbaren Erkenntnisse, die ich bisher gewinnen konnte, reichen nicht
für verantwortbare Rezepte zur Revolutionierung der Weltordnung. Letzteres
könnte wohl auch nur eine Weltregierung umsetzen.  Auf regionaler Ebene
entsteht wohl nur in dem Maße ein gewisser Handlungsspielraum, wie man zu
einer Abschottung der Region bereit ist.

Es gibt auch exotischere Schlußfolgerungen, die die Moral einfach
umdrehen und den "Arbeitswahn" der alle befallen hat bekämpfen.
Auch nicht besonders praktisch.

Von "Arbeitswahn" würde ich insoweit sprechen, als damit die Forderung
gemeint ist, alle müssten in eine zunehmend sinnarme Maschinerie der
privaten Güterproduktion eingebunden werden.

Man könnte z.B. in einer Region Arbeit steuerfrei stellen und Rohstoffe
sehr hoch besteuern und dadurch anderen Regionen entstehende Vorteile
durch Zölle ausgleichen.  Dann ließe sich wiederum eine gewisse
Infrastrukturpolitik (einschließlich Wissenserzeugung, Landschaftspflege)
finanzieren, die so ausgelegt sein könnte, dass sie genügend Gelegenheiten
zu Lohnarbeit schafft.  Das klappt auf regionaler Ebene wiegesagt nur mit
einigen Möglichkeiten zur Abschottung, die natürlich auch
missbrauchsanfällig sind.

Es ändert alles nichts daran, dass bis auf weiteres entweder die
Lohnkosten sinken oder die Arbeitslosigkeit weiter ansteigt oder beides.

Wahrscheinlich beides, das sagst Du noch selbst. Es ist schon pervers,
wie die Wirtschaft aus immer weniger Leuten für immer weniger Lohn
immer mehr Leistung herausquetscht
- und der Rest wird praktisch für unnötig erklärt.

Pervers ist hier vieles und sehr effektiv ist das ganze nicht.
Allerdings ist all das kein Grund zu der Annahme, alte Vorstellungen vom
Paradies, die vielleicht durch freie Software neue Nahrung bekommen haben,
stünden nun kurz vor dem Durchbruch.


Dort, wo sich Industrie noch in DE hält, beobachten die Unternehmer den
Zulieferermarkt in aller Welt und stellen fest, dass die Teile, die
anderswo 1/5 kosten, allmählich auch die strengsten Qualitätsanforderungen
erfüllen.  Anderswo werden deutsche Firmen wegen des Wertes der
etablierten Marke vom Ausland (u.a. chinesischem Kapital) aufgekauft.
Ein solcher Aufkäufer erzählte mir frustriert von einem Streit mit der
örtlichen Gewerkschaft, den er natürlich beendete, indem er das Werk
schloss und eines in Tschechien aufbaute.

Fragt sich wofür das ein Argument ist. Wenn die Arbeiter billig und willig
sind, erhöht das nicht gerade die Freiheit des Kapitals, jeden Vorteil
auszunutzen und sich noch gleichgültiger gegenüber ihren
Lebensnotwendigkeiten immer dort niederzulassen, wo es gerade
paßt? Und wenn deutsches Kapital exportiert wird, ist das nicht
ein leibhaftiger Beweis dafür, daß diese Freiheit auch gerne umgekehrt
in Anspruch genommen wird?

Das Beispiel dürfte zeigen, dass in DE ein weiteres Sinken von
Lohnansprüchen und Steigen von Arbeitslosigkeit vorprogrammiert ist, und
dass es sich hierbei um eine Krise gewachsener und schwer
änderbarer Strukturen in Ländern wie DE handelt (ähnlich auch JP), aber
nicht um eine Krise des Wirtschaftssystems.  Deshalb lässt sich damit
wahrscheinlich auch nicht so argumentieren, wie Rorbert Kurz es tut.

Von solchem Denken mögen die immer wieder
heraufbeschworenen Greuelbilder von Massenerschießungen oder "Great
Chinese Firewall" etc geprägt sein.  Zumindest in den Zentren des
Wirtschaftsaufschwungs in China ist das zivile Leben nicht wesentlich
anders als hier, es konvergiert, egal ob die Partei das will oder nicht.

Das ist natürlich ein gewisser Zynismus: dort, wo das Volk pariert
und sich an seine Zurichtung zum Arbeitermaterial gewohnt hat,
dort ist offene Gewalt nicht notwendig. Ich hab den Verdacht daß das
der Partei genau so recht ist. "Egal ob die Katze rot oder weiß ist,
hauptsache sie frißt Mäuse".

"schwarz oder weiß" hieß das übrigens bei Deng Xiaoping.
Eine Zurichtung ist da nicht erforderlich.
Das chinesische Volk ist seit langem extrem duldsam gegenüber
bürokratischen Zwängen aller Art.
Industrielle Organisationen stellen da kein besonders neues Niveau der
Unterdrückung da, eher im Gegenteil.
Sie bringen auch ein bescheidenes Auskommen und bei einem beachtlichen
Teil des Volkes sogar Reichtum, der Weltmarktnachfrage erzeugt.

So einfach geht Nationalismus. Die Frage ob die Massen in China jemals
eine Chance auf Wohlstand haben und was sie von der Hegemonie ihrer
politischen Gewalt hätten, für die sie sich unter dem eher
zeremoniellen Aufputz ihrer roten Fahnen (die könnten auch schwarz
oder golden sein) durch zivilisiertes Verhalten als Produzenten und
Konsumenten, als Sparer, Arbeiter, Steuerzahler, Soldaten, Polizisten
etc. nützlich machen, stellt sich gar nicht mehr: *wegen* ihrer
Abhängigkeit von Wirtschaft und Staat sind sie auch schon *dafür*,
sodaß sie erst gar nicht gewaltsam davon überzeugt werden müssen.
Immerhin gibt es das Ausland und die sind nicht "wir". Dort sieht man
es umgekehrt, also genauso. Die Frage die man sich trotzdem stellen
*kann* lautet: Ist das vernünftig?

Der Ausgangspunkt war ja Elend und Terror in den Jahren 1950-1976.  Gut,
auf der Plusseite war zumindest Anfang der 50er Jahre Ordnung und auch
später noch weitgehende Sicherung eines Existenzminimums (ausgenommen in
der Hungerkatastrophe 1958-60 im Gefolge des "Großen Sprungs") zu
verbuchen.  Deng redete vom drohenden "Ausschluss Chinas aus der
Weltangehörigkeit" (parallel zu Staatsangehörigkeit) und im Zusammenhang
mit dem Jugoslawienkrieg titelte die Parteizeitung:  "Wer rückständig
ist, bekommt Schläge".  Demnach stellt sich die Frage, was vernünftig ist,
erst dann, wenn eine gewisse Existenzfähigkeit gesichert ist.

Immerhin hat vor 20 Jahren Alvin Toffler ein Buch geschrieben, das
die Dritte Welle hieß und wo er darauf hinwies, daß es völlig wider-
sinnig ist, verstopfte Märkte noch weiter aufzufüllen. Der Industrialismus
sei am Ende, weil es zuviel Industrie gäbe.

Dieses Buch war in China ein großer Renner.  Viel mehr als in US und
hier.

Immerhin hat der Club of Rome den ISEW publiziert, wo nachgewiesen
wird, daß das monetäre Wachsen unseres Wirtschsftsystems mittlerweile
eine stetige Abnahme an Lebensqualität bringt.

Es gab in den 90er Jahren ein Projekt des MITI, bei dem 100e von
beteiligten japanischen Wissenschaftlern zu noch düsteren Aussagen als der
Club of Rome kamen und den Wettlauf mit dem Untergang für kaum gewinnbar
erklärten.  Die Beschleunigung der Kommunikation durch das Internet ist
der einzige darin nicht vorgesehene Faktor, der mehr Optimismus erlaubt.

Immerhin ist das Industriesystem mittlerweile vom Bazillus des
geistigen Eigentums befallen, weil Qualität und Menge von Gütern
als Konkurrenzmitttel nicht mehr taugen. (und daher die Bezollung
fremder Arbeit ein tauglicheres Konkurrenzmittel zu sein scheint).

Ich würde wiederum nicht pauschal von "geistigem Eigentum" sprechen und
auch obige Erklärung nicht unbedingt teilen.  S. meine Erklärungen zur
Patentinflation

	http://swpat.ffii.org/analysis/inflation/

Darin habe ich obigen Mechanismus "Qualität und Menge taugen nicht mehr
als Konkurrenzmittel" nicht einmal erwähnt.  Vielleicht sollte ich mehr
drüber nachdenken.  Entscheidend dürfte er aber nicht sein.

Immerhin fällt auch Dir auf, daß wir - dadurch? - immer ärmer werden,
unsere Infrastruktur vor die Hunde geht und nur eines prosperiert:
die Gewalt.

Es gibt ja auch einige Lichtblicke, wobei ich an erster Stelle an die vor
10 Jahren von mir auch nicht erwartete Entwicklung in China denke.  Der
Kreis der in völlige Hoffnungslosigkeit versunkenen (von der
Weltangehörigkeit ausgeschlossenen) Gebiete hat sich nicht vergrößert
sondern verkleinert, auch wenn das Elend einiger Länder noch größer
geworden ist -- was wiederum angesichts der unglaublich schlechten und
durchaus wesentlich von Einheimischen zu verantwortenden politischen
Zustände kein Wunder ist.  Es hat sich gezeigt, dass die Entwicklung nicht
immer polarisierend in reich und arm verläuft, und darüber seufzen wir ja
gerade in dieser Diskussion.

-- 
Hartmut Pilch, FFII e.V. und Eurolinux-Allianz            +49-89-12789608
Innovation vs Patentinflation                       http://swpat.ffii.org/
120000 Stimmen 400 Firmen gegen Logikpatente    http://www.noepatents.org/

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT05183 Message: 21/40 L6 [In index]
Message 05252 [Homepage] [Navigation]