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Re: [ox] Aus der systematischen Soziologie: Das Herrschaftsphaenomen



Hi ThomasB und Liste!

Ich komme leider erst jetzt mal wieder dazu, mir genügend Muße für
diesen Thread zu nehmen.

Last week (13 days ago) Thomas Berker wrote:
Holloways Anti-Macht-Text und der aus der systematischen Soziologie, den
Stefan Ende Maerz mal zitiert hat, sind m.E. v.a. in einem Aspekt voellig
inkompatibel: Darin wie sie sich zu den grundlegenden Konzepten, wie
staatlich-oekonomische Macht in 'liberalen Gesellschaften' legitimiert
wird, stellen.

Danke für diese Mail. Ich fand sie sehr erhellend und sie deutet auf
wichtige Punkte hin.

Der systematische Soziologe (Siebel
heisst er) verdoppelt v.a. zentrale Stuetzpfeiler dessen, was als das Wesen
der FDGO gepredigt wird. Holloway versucht das Andere des Bestehenden zu
verkuenden.

Als Soziolog lese ich Siebels Einfuehrungstext, den Stefan ausfuehrlich
zitiert hat, als Polemik gegen die Feinde der in 'liberalen Gesellschaften'
als legitim geltenden Herrschaftsausuebung.

Klingt plausibel. Er ist Mitte der 70er entstanden - da war das wohl
auch "nötig" (d.h. im Sinne des Herrschaftserhalts) .

Das ist bei Einfuehrungen und
grundlegenden Definitionen immer so: Sie stellen auch Kriterienkataloge dar
dafuer, was eigentlich zu diskutieren ist und was nicht und legen damit
schonmal fest, in welchem Rahmen die Loesung des Konflikts liegen wird.

Ja. Muß wohl so sein - machen "wir" in gewisser Weise ja auch.
Einführungen können halt per definitionem nicht die ganze Breite
bringen, die an dieser Stelle der Befassung mit einem Thema ja auch
nur verwirrend wäre.

Wichtig wäre mir nochmal worum es mir ging. Ausgegangen waren wir ja
von der Frage einer Definition des Begriffs "Macht". Was mir bei
Siebel (bzw. der Soziologie? Ich bin da echt totaler Laie :-( )
gefallen hat, war die Einbettung des Begriffs in einen größeren Rahmen -
was m.E. auch Sinn macht, da Begriffe ja nicht im luftleeren Raum
schweben, sondern Bezüge zu anderen Begriffen haben.

Allerdings - und das scheint mir kein Zufall - begreift Siebel die
ganze Frage im größeren Kontext "Herrschaft". Womit wir bei diesem
Begriff wären, der mir noch ungleich schwieriger erscheint als
"Macht" - ganz entgegen dem, was Benni andernthreads meint...

Ich zitiere hier mal Siebel (wie immer selektiv aber hoffentlich nicht
allzu unfair) und stelle meine Lesart in Paraphrasen dazwischen. Dann kommt
meine Lesart von Holloway. Und dann versuche ich den Dissens ueber Macht
damit ein bisschen zu erhellen.

At 17:05 27.03.02 +0100, you quoted:
Die Herrschaft ist sozusagen das Herz
der Gesellschaft, die Herrschaftsspannung der Motor der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, die als solche nicht interpretiert
und verstanden werden kann, ohne Konstatierung und Fixierung der Art
und Form der jeweiligen Herrschaftsausübung.

Herrschaft ist natuerlich, wir koennen nicht ihre Abschaffung diskutieren,
sondern nur noch, wie wir legitime Herrschaft hinbekommen,

Hier haben wir es dummerweise halt schon wieder mit einer
Definitionsfrage zu tun - die Siebel hier auch nicht endgültig klärt:
Was ist "Herrschaft"?

Wenn wir hergehen und die Aspekte der Herrschaft, die Siebel aufzählt,
als maßgebliche Konstituenten von Herrschaft begreifen, dann könnten
wir uns immerhin ein soziales System anschauen, zu klären versuchen,
ob und ggf. wie die Aspekte vorkommen und dann ggf. entscheiden, ob
wir es mit Herrschaft zu tun haben - eben im Rahmen dieser Definition.
Das wäre z.B. mal eine Fingerübung, das für die Freie Software
durchzuziehen.

Damit zusammen hängt auch die - vielleicht entscheidende - Frage nach
der Begründung der Herrschaft. Wie gesagt folgt da noch einiges in dem
Buch, was ich gerne auch noch präsentieren möchte. Diese - m.E.
angenehm differenzierte - Sichtweise finde ich nämlich wichtig um
etwas von der Welt zu verstehen. Ein plattes "Herrschaft ist böse und
gehört abgeschafft" scheint mir mittlerweile auch nicht mehr als die
einzige (emanzipatorische) Denkalternative. Aber wie gesagt: Das hängt
stark mit der Definition des Begriffs "Herrschaft" zusammen.

denn:

Eine `anarchische' Gesellschaft wäre demnach eine contradictio in adjecto."

In modernen Gesellschaften, die besonders grosse Gruppen darstellen, ist
Herrschaft sogar besonders unumgaenglich:

Natürlich ist das Herrschaftsverhältnis in kleinen Gruppen weniger
ausgeprägt als in Großgruppen, aber die Ansätze zu allen
Grundfunktionen der Herrschaft lassen sich auch in Kleingruppen
finden. Zur vollen Entfaltung kommt Herrschaft aber erst in den
Großgruppen, den Verbänden und Institutionen, in Unternehmungen,
Gewerkschaften, Kirchen und besonders im Staat.

Ja, das hast du gut herausgearbeitet. In der Tat ist die Möglichkeit
des ganz anderen in Siebels Text ziemlich weggedrückt.

Immerhin wäre es aber interessant, wo genau das ganz andere
weggedrückt wird und was "wir" an dessen Stelle setzen könnten.

Damit kommen wir zur Frage der Legitimitaet von Herrschaft. Wie gesagt, es
ist nicht das ob, sondern die Ausgestaltung der Herrschaft, die diskutiert
werden soll.

S.o.

Finde ich aber auch einen wichtigen Punkt. Es ist ja ziemlich doof,
abstrakt gegen Herrschaft zu sein. Es müßte m.E. unter
emanzipatorischen Gesichtspunkten vielmehr darum gehen das Leiden
aller Menschen zu minimieren, und darunter kann natürlich auch Leiden
unter Herrschaft gehören.

Aber vielleicht gibt es ja auch Herrschaftsformen, die leidensfrei
sind? Diese Denkmöglichkeit scheint mir momentan die attraktivste.
Allerdings ist die natürlich inkompatibel mit "Herrschaft ist
Scheiße".

Ein Vorschlag fuer legitime Herrschaft sieht so aus:

Von hier aus zeigt sich deutlich, daß ein legitimes
Herrschaftsverhältnis in gegenseitiger Verpflichtung zwischen
Mitgliedern und Herrschaftspersonen begründet ist. Der Gehorsam auf
der einen Seite setzt die Befolgung der fundamentalen Normen der
Sozialeinheit durch die Herrschaft voraus.

Es geht also um Kontrolle der Herrschaft durch die Beherrschten, dafuer
muessen sich die Beherrschten aber dann auch beherrschen lassen. Ein Deal:
"Ich geb meine Freiheit (beherrsch mich!), dafuer gibst du aber auch ein
bisschen Freiheit."

Auch hier wäre wieder eine Begründung von Herrschaft wichtig. Wenn
Herrschaft auf freiwilliger Grundlage - also echt freiwillig und nicht
strukturell erzwungen - eingegangen wird, dann wäre das ja nur noch so
etwas wie eine Arbeitsteilung. Die ständige Möglichkeit der
Aufkündigung des Herrschaftsverhältnisses durch alle Beteiligten
gehörte dabei natürlich als äußere Bedingung zur Freiwilligkeit dazu.
Macht das Sinn?

Das Medium der Kontrolle ueber den Herrscher ist Oeffentlichkeit:

Öffentlichkeit ist jene Sphäre, in der ein Sozialsystem sich in seiner
Herrschaft und seiner Mitgliedschaft selbst darstellt und in der
zwischen beiden Bereichen eine intensive Kommunikation stattfindet.

Zwar gibt es da ein Problem:

Öffentlichkeit wird reduziert oder zerstört,

die Medien bekommen zu viel Macht und vertreten partikulare Interessen, aber

Das besagt aber nicht, daß in vielen Gruppen und
Institutionen nicht auch heute noch Öffentlichkeit im eindeutigen Sinn
gegeben ist.

Und schliesslich: Weil es Herrschaft ueberall gibt, gibt es auch Eliten immer:

Eliten gibt es in allen Sozialsystemen.

So, das ist so ungefaehr meine Lesart.

Ok. In der Tat würde ich der auch nicht richtig widersprechen. Aber
vielleicht gibt es Ansatzpunkte, über das mancherorts vielleicht zu
enge Gerüst hinauszuwachsen?

Holloway hingegen verneint alles Bestehende:

Wir wol-len
die Welt nicht verstehen, ohne sie zu ne-gieren.
Das Ziel der Theorie besteht darin, die
Welt negativ zu begreifen

Seine Unterscheidung von Macht und Machen:

Um die Welt zu verändern, ohne die Macht zu
übernehmen, muss eine Unterscheidung zwi-schen
kreativer Macht (potencia) und instru-menteller
Macht (potestas) getroffen werden.

verstehe ich als Versuch, (kollektives) Handeln von Herrschaft zu loesen.

Ja, das kann ich auch so verstehen. Wir können uns auch drauf einigen,
daß das der für uns wichtigste Punkt ist am Holloway-Text, was ja auch
in anderen Texten schon erwähnt wurde.

Aber ich habe das Gefühl, daß hier etwas auf der falschen Ebene
verhandelt wird. Es gibt nämlich m.E. keine objektive Definition von
Potentia bzw. Potestas (ich verwende mal die originalen lateinischen
Worte). Jede kreative Macht kann m.E. auch in instrumentelle Macht
gewandelt werden. D.h. einer bestimmten "Fähigkeit, etwas gegen
Widerstände durchzusetzen" - die BTW m.E. sowohl Potentia als auch
Potestas umfaßt - ist nicht anzusehen, ob sie kreativ oder
instrumentell eingesetzt wird. Dies entscheidet sich erst durch deren
gesellschaftliche Einbettung.

Daraus erklärt sich auch die eigentümliche Widersprüchlichkeit, daß
Gewaltanwendung von Freiheitskämpfern i.d.R. quer durch alle
ideologischen Gruppen anders gewertet wird als von deren Gegnern -
obwohl das Leiden in beiden Fällen ja durchaus tendenziell identisch
ist. In beiden Fällen wird die Potentia zur Gewaltanwendung zur
Potestas, die etwas Drittes durchzusetzen versucht. Irgendwie lugt
hier auch wieder die Entfremdung um die Ecke - nur wie?

Damit ist Siebels Ausgangspunkt, es gebe keine Gesellschaft (= u.a. auch
kollektives Handeln) ohne Herrschaft, widersprochen. Waehrend Siebel z.B.
in der Tat davon ausgehen muesste, dass Widerstand gegen Eliten immer darin
enden muss, dass neue Eliten geschaffen werden (weil Eliten gibts ja
immer), ist Holloway dafuer, Eliten im Prinzip abzuschaffen.

Ja. Und es wäre in der Tat die Frage, ob komplexe, u.a. arbeitsteilige
Sozialsysteme ohne Elitenbildung überhaupt denkbar sind. Ich versuche
mir immer vorzustellen, was eine elitenfreie Gesellschaft wäre. Vor
allem unter dem Gesichtspunkt der Leistungselite - die ich als
Fähigkeitselite bezeichnen würde - kann ich mir darunter nur eine
Gesellschaft vorstellen, in der alle mehr oder weniger die gleichen
Fähigkeiten haben. Das wäre aber grauselig und nicht zuletzt
stinklangweilig, wenn alle das Gleiche könnten wie ich :-( ...

Der Dissens in der Machtfrage in Freier Software ist (hoffentlich) nicht so
grundlegend wie der zwischen Siebel und Holloway. Ausgehend von deren
Dissens scheinen mir aber in der Tat die Fragen wichtig,
a) ob es Vermachtung und Herrschaft innerhalb real existierender freier
Softwareprojekte gibt und

Definitiv. Das von Siebel gelieferte Gerüst fände ich dafür einen
geeigneten Rahmen um sich das mal genauer anzuschauen - cum dem
entsprechenden grano salis dann eben.

b) ob das unter allen Umstaenden ein Problem ist.

Womit wir wieder bei der Frage der Begründung von Herrschaft wären und
der Freiwilligkeit.

Bei (a) waeren sich Siebel und Holloway einig, allerdings aus
unterschiedlichen Gruenden: Ja, es gibt sie, laut Siebel, weil es sie ja
immer gibt,

Aber gerade das wäre im Siebel'schen Kontext ja nochmal ziemlich
wichtig. Gerade weil er sagt, daß Herrschaftsaspekte in kleineren
Sozialsystemen nachweisbar sind, aber erst in größeren richtig
ausgeprägt auftreten. *Das* wäre für die Frage einer Ausweitung der
Keimform ja von zentraler Bedeutung!

bei Holloway, weil die Projekte nicht genuegend Negativitaet
gegenueber dem Bestehenden ausweisen (oder so). Bei (b) wuerde Siebel
bestimmte Formen von Herrschaft, in denen genuegend gegenseitige Kontrolle
existiert, als legitim ansehen. Holloway stimmt damit natuerlich nicht
ueberein.

Ich persoenlich finde beide Texte uebrigens nicht besonders ansprechend.
Weder habe ich viel mit Chiapas zu tun, noch bin ich ein Fan liberaler
Demokratien.

Aber vielleicht können wir sie als These und Antithese nehmen und im
Lichte unserer Diskussionen eine Synthese daraus brauen. Daran läge
mir jedenfalls und ich denke, daß deine Mail einen guten Ansatz dazu
liefert :-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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