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Re: [ox] Re: Moral und anderer Schrott



Hi Hans-Gert und alle, die noch diesem Halbzweig der Moraldiskussion
folgen können oder wollen,

Hans-Gert Graebe schrieb:
Jein. Ich habe ja versucht darzustellen, dass ich den Moralbegegriff
bestensfalls deskriptiv verwenden würde, also für etwas, was "da" ist.
Was Robert z.B. tradiertes kulturelles Gedächtnis genannt hat. Ich habe
das verkürzt "Resultate" von Verhalten genannt.

Ich habe noch mal in meinem alten "Philosophischen Wörterbuch" (DDR,
1974) [PWB] geblättert. Moral und Ethik sind dort ziemlich eins.
Sprachlich, wird ausgeführt, kommt beides von derselben Wurzel, das
eine aus dem Lateinischen, das andere aus dem Griechischen, und
entspricht dem deutschen Wort 'Sitte'. Und wurde, nach den dortigen
Ausführungen, auch lange nur in einem deskriptiven Verständnis
gebraucht.  Wir können uns also ruhig auf diesen deskriptiven Aspekt
zurückziehen, das ist mir sogar sehr lieb, denn es bringt meine Frage
klarer heraus: Was steht hinter den Werten, die den 'Alltag'
bestimmen, was kommt also zum Vorschein, wenn diese 'Alltagswerte'
wegbrechen? Das ist eine rein deskriptive Frage,

Hinter den - *überwind* - "Werten" stehen die Denkformen, oder besser:
"Werte" sind die Arten und Weisen, über (Alltags-) Realität nachzudenken
und sie zu _bewerten_ (hier passts). Wenn ich das nun wörtlich nehme,
was du schriebst, dann kann ich nur feststellen: Alltagsdenken bricht
nicht weg - es verändert sich. Auch die Frage nach dem
"zum-Vorschein-kommen" legt nahe, hinter dem Denken gäbe es da noch was
Urtümliches, Instinkte oder was. Das halte ich für Kappes: Spezifisch
menschliches Handeln muss immer durch das Denken hindurch - wenn ich das
mal so formulieren darf (damit meine ich gerade nicht Reflexe oder so
was).

Vermutlich muss ich jetzt gleich dazu schreiben, dass dieses Denken
nicht "losgelöst" ist, sondern der ganze Mensch, der da denkt,
gleichzeitig fühlt und damit sein Denken und Handeln am Massstab seiner
Lebenssituation wertet. Über die je individuelle Lebenssituation, zu
denen sich die Menschen individuell denkend, fühlend und handelnd
verhalten, kommst du über Verallgemeinerungen zur den realen
gesellschaftlichen Prozessen, die sich je individuell widerspiegeln.

Damit habe ich kurz angedeutet, wie es aus meiner Sicht viel mehr Sinn
macht, über Realität(en) nachzudenken, als über den Wertebegriff.
"Irgendwie" kann man das sicher auch übersetzen - aber wie ich an den
Beispielen "wegbrechen" und "zum-Vorschein-kommen" versucht habe zu
zeigen, wird das komplett schief.

<Einschub>
sofern man das überhaupt so abtrennen kann.  Deskription -> Reflexion
-> Beeinflussung von Handlung; auch deskriptive Moral impliziert
Moralphilosophie und dann Moralpraxis - allerdings ist nach [PWB]
Moral(praxis) klassengebunden und die herrschende Moral(praxis) die
der herrschenden Klasse. Diese Weisheit halte ich auch heute noch in
groben Zügen für gültig - und ihr Wirken verursacht vielleicht einen
Teil Deiner Pickel (habe allerdings Deine prinzipielle Ablehnung
normativen Moralins, auch von 'Freunden', durchaus zur Kenntnis
genommen)
</Einschub>

Das mit der "Klassengebundenheit" sehe ich heute anders. Ich würde von
"Lebenslagen" sprechen, denn auch faktisch überlappen sich die realen
Lebenslagen der - altverständig gedacht - verschiedenen Klassen. Siehe
der "Arbeitskraftunternehmer". Dazu quer liegt der "herrschende
Diskurs". Den kannst du nicht mehr "klassenspezifisch" personal
zuweisen: Da die Herrschen/Doofen, hier die
Beherrschten/Wachzuküssenden-Guten. Die automatische Wertverwerung sieht
ganz dem bürgerlichen Gleichheitsideal entsprechend von der Person ab.
Und die widerum reproduzieren grossenteils (je individuell) die
herrschenden Denkformen ("Werte") - aus "guten Gründen".

Oekonux ist also ein Projekt zur Durchbrechung herrschender Denkformen.
Das nur btw.

Nennen wir es also nicht 'Moral', sondern 'Tradition', 'kulturelles
Gedächtnis' oder wie auch immer.

Robert schrieb

   Wo die Tradition es nicht mehr schafft, auf neue Entwicklungen
   Rücksicht zu nehmen, wird sie zum Hindernis und ruft Affekte der
   Ablehnung hervor.

Das ist doch sicher sehr ambivalent zu werten, solche Mechanismen, die
der heutigen zunehmenden Gedächtnislosigkeit (Ahistorizität)
Widerstand entgegensetzen, oder?

Robert würde ich frei so übersetzen: Wenn tradierte Denkformen
individuell dysfunktional werden, werden sie zunehmend durch andere
Denkformen ersetzt (und alte fallen weg). - Ja, das ist ambivalent. Was
ist heute nicht ambivalent? Es ist nicht sinnvoll, unreflektiert und
unhistorisch altes Denken wegzuschmeissen (meinetwegen das
"Sozialstaatsdenken") und auf den fahrenden neuen Denkzug aufzuspringen
(meinetwegen das "Arbeitskraftunternehmerdenken"). Unrefelektiert und
affirmativ ist immer Mist. Aber wer hat schon die Kraft zur permanenten
Reflexion?

Individuell würde ich den Begriff der "Gründe" vorziehen.
Menschliches Handeln ist begründet. Dazu kann eine Übernahme von
moralischen Zumutungen oder eine Abweisung dessen gehören.  Ich
würde hier nach dem "warum" fragen. Damit käme man weiter, der
verselbstständigte Charakter von "innerer Moral" (innerem Zwang)
wird so potenziell transparent.

Womit Du, ich unterstelle Dir da sicher nichts Falsches, nicht nur
'(sach)logische Gründe' meinst, sondern auch emotionale,
psychologische usw. (die sich allerdings oft nur sehr bedingt in ein
'warum' auflösen lassen).

Ich meine gerade nicht die scheinbar "sachlogischen Gründe"
(Bedingungen), deren Diskursform der des Aussenstandpunkts ist. Ich
meine die je individuellen Gründe, die der je individuelle Ausdruck der
kognitiv-emotionalen (denkend-fühlenden) Weltbegegnung sind. Deren
Diskursform ist der Standpunkt des Individuums - den eben nur das
jeweilige Individuums inne hat. Also platter: "Bedingungsdiskurs" vs.
"Gründediskurs". Der Bedingungs- oder Ursachendiskurs ist in der Physik
angemessen, der Gründediskurs, wenn es um je mich, also allgemein
Individuen, geht.

Gibt es in dem Sinne 'moralische Gründe' im
Ensemble der Gründe? Wenn ja, wann sind sie von besonderer Bedeutung?
Das ist meine Frage, die Du mit Deinem Rückzug auf "Gründe" - und dann
Enden ins Wasser - ausblendest.

Ich blende da nichts aus. Wenn ich Moral wieder mit kognitiv-emotionaler
Weltbegegnung übersetze, dann sind gerade diese Aspekte mit drin. Nur
(potenziell) viel diffenrenzierter als mit dem Wertebegriff. Der
Wertebegriff und Moralbegriff kommt mir wie ein Fetisch vor: Irgendwie
kann bürgerliche Gesellschaft anscheinend nur in dieser
dinglich-fetischistischen Form gedacht werden.

Mein Vorschlag (weniger philosophisch als psychologisch): mit dem
Begriff der (Handlungs-)Gründe. Den Moralbegriff brauchst du da
letztlich nicht mehr.

Wenn dich der "Wertewandel" interessiert, na gut, untersuch ihn. Aber
wende ihn nicht normativ, mach nicht an den "Werten" rum. Es bringt
letztlich sowieso nichts.

Nein, "Wertewandel" interessiert mich nicht normativ, sondern
deskriptiv.  Ich suche immer noch nach dem Substrat, in dem Gründe
ihre Wurzeln haben. Und ein Ensemble von Gründen hat sicher ein
Ensemble von Wurzeln - schreibe ich mal zur Sicherheit gleich dazu.
Wenn es (für Dich) so was wie Wurzeln gibt (gehe ich aber von aus).

Das "Substrat" lässt sich klar benennen: Es ist das Individuum (eben das
"Unteilbare"). Wonach du fragst, ist vermutlich der
Vermittlungszusammenhang von (Aussen-) Bedingungen und je individuellen
Gründen. Bingo, das ist IMHO genau die richtige Frage. Und die
Schwierigkeit besteht darin, dass dieser Zusammenhang - wie ich oft
betone - nicht deterministisch ist. Eben nicht wie in der Physik:
Ursache -> Wirkung (nix Bedingung -> Handlung).

Ich ahne, dass wir etwas ähnliches meinen könnten: du versuchst da mit
dem Moral/Wertebegriff ranzukommen und ich mit den Begriffen
Gründe/Handlung/Emotion/Denken. Gleichwohl sind wir beide damit auf
einer antinormativen Linie, und das gefällt mir:-)

Resonanzboden wofür? Die Leute der gehabten DDR ... hatten woanders
keine Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten, das war der
wichtigste Grund. Und sobald der Grund weg war, blieben sie auch
wieder fern. Aber jetzt läufts ins Off...

Off? Glaube nicht, denn wir sind m.E. mitten in der Keimformdebatte.
Allerdings sehe ich nicht die "Artikulations- und
Handlungsmöglichkeiten" (Artikulieren konnte man auch in seinen 4
Wänden und Handeln auch in der Kirche nicht), sondern die
Kommunikationsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur gemeinsamen
Reflexion als zentral an. Und das sind deutlich nichtlineare Effekte,
also Resonanz, denn das Ganze ist mehr als die Summe der Teile (wie
übrigens auch hier auf der Liste, meine ich).

Ack.

Die Frage nach Kohärenz in dieser "individuellen Art der
Weltbegegnung" als Grundlage für Gesellschaftlichkeit, siehe
anderenthreads, blendest Du damit aber vollkommen aus.

Nein, ich denke nur anders drüber nach. Den Weg über Werte und Moral
und so finde ich inadäquat.

Das erstere finde ich ja auch besonders spannend dabei. Allerdings
sollten sich Brücken zu einem (deskriptiven) Werte- und Moraldiskurs
finden, den offensichtlich nicht nur ich für diese "Kohärenz" als
wesentlich erachte, denn es geht ja um dieselbe Realität. Oder sehe
ich da was falsch?

Auf jeden Fall diesselbe Realität:-)

Ciao,
Stefan

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