Message 02976 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT02939 Message: 39/49 L1 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



In einer eMail vom 16.07.01 22:38:56 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt 
quasi utopix.net:

Ich will nur so viel sagen: ohne die Vorarbeiten dieser modernen 
 > KünstlerInnen gäbe es so etwas wie Oekonux überhaupt nicht, 
 
 Das halte ich schon für gewagt, oder genauer, für ziemlich wage:
 warum nicht?  (Und ohne wieviele andere Erscheinungen in der davor
 und dahinter liegenden Geschichte würde es so etwas wie Oekonux
 auch nicht geben?) Will sagen, mich interessiert (vielleicht etwas
 mehr als Stefan?) die besondere Relevanz dieser Parallelen. 
 

Nun das musst dir so vorstellen: in den ersten drei Jahrzehnten des 20. 
Jahrhunderts  (grob gesagt) entwarfen KünstlerInnen neue Verfahren und neue 
Techniken in der ästhetischen Darstellung. Z. B. künstliche Sprachen (s. 
Chlebnikow). Die damals noch jungen Wissenschaften Linguistik und Semiotik 
griffen das auf, formalisierten und mathematisierten die Verfahren. In der 
Musik war's eher umgekehrt, dort griffen Komponisten mathematische Verfahren 
auf (z. B. die Zwölftontechnik Schoenbergs, der vor ein paar Tagen seinen 50. 
Todestag "beging", oder die serielle Musik als Weiterentwicklung der 
Zwölftontechnik nach dem 2. Weltkrieg; Parallelen zur fordistischen 
Fließbandproduktion sind da mehr als augenfällig). Wie auch immer, aber 
Formalisierung und Mathematisierung waren die unabdingbare Voraussetzung für 
die späteren Programmiersprachen.
Zudem gab's damals auch alle Spielarten des Verhältnisses von Kunst und 
Politik: vom L'art pour l'art (auch Ästetizismus genannt, Kunst um der Kunst 
Willen) über das doch recht plumpe Agitprop bis hin zur Überzeugung, dass ein 
Künstler/Wissenschaftler auf seinem Spezialgebiet immer "an der Spitze der 
Bewegung" sein müsse, damals wurden politischer Avantgardismus und 
technischer Avantgardismus  noch als zwei Seiten derselben Medaille 
betrachtet, nur auf unterschiedlichen Terrains. Das glauben wir heute 
natürlich in dieser simplen Parallelisierung nicht mehr. Zudem war die bloße 
Existenz der Sowjetunion und die politisch prekäre Situation nach dem 1. 
Weltkrieg mit dem langsamen Aufstieg des Faschismus Grund genug, sich 
politisch zu engagieren oder sich zumindest zu "verhalten".

 > und es waren in 
 > erster Linie KünstlerInnen - bildende Künstler, Architekten, Literaten 
-, 
die 
 > sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gedanken über das 
Verhältnis 
 > von technologischer Entwicklung und der jeweiligen 
Gesellschaftsformation 
 > machten - wie verzerrt und defomiert auch immer, aber immerhin. 
 
 Und vor allem waren die damals noch richtig präsent, man könnte fast sagen
 main stream... (zumindest unter denen, die nicht einfach nur reproduktive
 "Kunst" (zw. Biedermeier und Seifenoper) hervorbrachten) 
 
Präsent ja, Mainstream nein. "Skandale" waren damals jedenfalls viel häufiger 
als heute, wo man die Leute mit anscheinend nichts mehr hinterm Ofen 
hervorlocken kann...

 > Und auch 
 > damals wurde sich an den jeweils avanciertesten Techniken und an den 
 > avanciertesten ästhetischen Prinzipien ausgerichtet. Ohne die Stilmittel 
der 
 > modernen Kunst und nicht zuletzt des Films (Collage, Montage, 
Überblendung,
 
 > "Schock"-Ästhetik etc.) wären die heutigen Video-Clips und die 
Computerspiele 
 > gar nicht denkbar. 
 
 Und hier erhebt sich für mich die Hauptfrage: haben die Künstler
 von heute überhaupt noch den Anspruch, eine ähnliche Perspektive
 auf die Realität, die gesellschaftliche Entwicklung, die Rolle
 der Technik in ihr usw. usf. einzunehmen?  In meinem
 (Klischee-)Bild von Video-Clips und Computerspielen kommt so
 etwas jedenfalls nicht vor. Und witzigerweise bei den meisten
 Programmierern auch nicht... -- um wieder auf die Parallele
 zurückzukommen: schließlich waren ja nicht nur die Künstler
 damals von der Schaffung einer neuen Welt inklusive neuem
 Menschen interessiert und haben tatkräftig Hand angelegt. Heute
 hingegen habe ich immer den Eindruck, wenn Naturwissenschaftler
 sich zu etwas anderem als ihrem Fachgebiet äußern, dann kommen
 sie über plumpe Übertragungen (mechanistische Analogien) nicht
 hinaus, halten sich aber dennoch für äußerst befugt, eine
 authoritative Meinung abzusondern... 
 
 Aber vielleicht liegt das ja viel eher an der inzwischen
 gewandelten Struktur der Kommunikationskanäle. Die
 Wissenschaftler, Künstler und Programmierer, die einen
 fortschrittlichen und umfassenden Anspruch haben, wie Du ihn mit
 der russischen Avantgarde illustriert hast, die kommen vielleicht
 einfach nicht mehr zu Gehör, weil das "Grundrauschen" ungemein
 zugenommen hat...
 
Da will ich nicht widersprechen.

Schöne Grüße
Kurt-Werner Pörtner
 
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT02939 Message: 39/49 L1 [In index]
Message 02976 [Homepage] [Navigation]