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Re: [ox] Re: Reproduktion, Arbeit, Leistungsprinzip?



Hi Ralf und alle!

Last month (42 days ago) RalfKrae wrote:
hier mal wieder ziemlich umfangreiche Antwort, ich hatte heute abend wohl zu
viel Zeit.

Und ich habe heute nicht so unbedingt den Kopf für so einen
schwierigen Brocken. Ich versuche mich trotzdem mal dran.

Die Krisis-Spezialdefinition von "Arbeit", deren Bedeutung nüchtern
betrachtet in etwa Erwrerbsarbeit ist, teile ich nicht.

Ich würde auch UnternehmerInnenarbeit darunter fassen.

Das ist doch auch Erwerbsarbeit.

Ja.

Eigentlich ist mir der Streit über das Wort auch irgendwie egal.

Entscheidend wäre mir die Unterscheidung - und da kommt die
Entfremdung dann sehr konkret doch wieder hinein -, daß wir einerseits
zwischen Arbeit/Tätigkeit unterscheiden, die um ihrer selbst willen
getan wird - mithin also Selbstentfaltung (hier jetzt incl.
(individueller?) Notwendigkeit, wie Annette ganz gut ausgeführt hat) -
und solcher, die aus äußeren Gründen geleistet wird - i.d.R.
Gelderwerb. Als Definition nehme ich für diese Mail mal konkrete bzw.
abstrakte Arbeit als Abkürzungen.

Ich denke doch, daß wir uns darüber einigen können, daß hier ein
entscheidender Unterschied liegt - in den Gewerkschaften tritt dann
i.d.R. das Paradox auf, daß Arbeitsplätze in Rüstungsbetrieben und
Atomanlagen mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Oder?

Ein wesentliches Problem im Kapitalismus besteht nun genau darin m.E.
Gleichzeitig besteht dieses Problem natürlich strukturell in jeder
Gesellschaftsformation, die diese Trennung hat.

Als kurzer Versuch einer Arbeitsdefinition für uns würde ich mal
sagen, daß das Zwang ist, was mit Gewalt durchgesetzt werden kann /
muß, alles durch Menschen Erzwungene also. Das andere - durch die
Natur Erzwungene? - würde ich dann mal als Notwendigkeit bezeichnen.
In diesem Sinne wäre Essen an sich eine Notwendigkeit, aber die Art
und Weise wie oder auch was gegessen wird, kann einem Zwang
unterliegen. Ebenso natürlich die Art und Weise der Produktion der
Nahrungsmittel.

Wieder einige Abstraktionsniveaus nach oben geturnt würde ich also
sagen, daß entfremdete Arbeit per Definition Zwang ist. Wäre sie nicht
entfremdet würde sie tendenziell ja auch freiwillig gemacht. Und das
ist ja genau das, was wir bei Freier Tätigkeit (d.h. Arbeit im
anthropologischen Sinn) diagnostizieren und damit würde eben -
weitergedacht - der notwendige Stoffwechselprozeß mit der Natur eben
nicht mehr unter Zwangsbedingungen erledigt sondern freiwillig.

1. muss m.E. unbedingt unterschieden werden zwischen sozialem oder
ökonomischem Zwang bzw. dem "stummen Zwang der Verhältnisse" einerseits und
persönlichem, unmittelbar auf Gewalt gestützten Zwang andererseits.

Klar.

Kapitalismus beruht im Unterschied zu vorkapitalistischen
Klassenverhältnissen primär auf ersterem, und das betrachte ich trotz aller
Probleme als großen ziviisatorischen Fortschritt.

Das finde ich nicht so klar. Daß der Zwang der Verhältnisse stumm ist,
macht sie ja nicht weniger zum Zwang. Nur ist ein solches
Gewaltverhältnis, daß den Menschen noch dazu als Äußeres, scheinbar
Unveränderliches gegenübertritt, ideologisch viel schwieriger zu
knacken, als die Brutalität eines sog. realsozialistischen Staates
z.B. Aber das ist ein taktisches Argument.

Anyway würde ich das nicht so ohne weiteres als großen Fortschritt
bezeichnen. Der Fortschritt besteht höchstens darin, daß individuelle
Freiräume gewachsen sind - aber das bedeutet erstmal nur, daß die
Zwänge egal welcher Art weniger geworden sind. Da ist der Kapitalismus
nach unserem Freiheitsbegriff schon emanzipatorisch gewesen.

Dabei ist klar, dass
zugrundeliegende Eigentums- und andere Rechtsverhältnisse von der
Staatsgewalt gewährleistet werden. Aber normalerweise werden die Leute nicht
zu bestimmter Arbeit gezwungen wie bei Zwangsarbeit im eigentlichen Sinne,
etwa in Arbeitslagern oder unter Sklaverei-Verhältnissen. Also entfremdete
Arbeit und Zwangsarbeit sind nicht das Gleiche. Und grundsätzlich gehört m.E.
Zwang in welcher Form auch immer keineswegs zur Definition von Arbeit.

Ok.

2. Ich behaupte nicht, dass immer "entfremdete Arbeit" nötig sein wird, schon
gar nicht Zwangsarbeit. Allerdings verwende ich den Begriff "Entfremdung" nur
äußerst zurückhaltend, also wie der späte Marx eigentlich fast nie, weil er
m.E. problematisch in seiner Definition ist. Im Sinne der Marxschen
Frühschriften, wo dem die Vorstellung eines irgendwie anthropologisch
bestimmten eigentlichen "Wesens" des Menschen zugrundeliegt, von dem er
entfremdet ist, halte ich für unhaltbar und unbrauchbar. Im eng ökonomischen
Sinne gibt es auch präzisere Begriffe. (Dazu kommt noch mehr unten.)

Oben habe ich erläutert, um was es mir geht.

Was ich
schon für notwendig halte ist, wesentliche Teile der gesellschaftlichen
notwendigen Arbeit (im anthrop. Sinne, also den Stoffwechsel mit der Natur
vermittelnd, aber auch Dienstleistungen einschließend) gesellschaftlich zu
organisieren, weil es keineswegs ausgemacht ist, dass Arbeit freiwillig
gemacht wird, wenn sie nicht in "entfremdeten" Formen geleistet werden muss.

Wenn ich das mal in meinen Worten ausdrücke: Du denkst, daß es eine
gesellschaftliche Organisation geben muß, die sich um die Regelung
gesellschaftlicher Bedürfnisse kümmert. Ja, warum nicht. Wie diese
aussieht ist eine andere Frage.

Das folgende würde ich gern detailliert aufdröseln, weil es mir
wichtig scheint:

Und diese gesellschaftliche Organisation über Tausch bzw. Geld zu vermitteln,

Zunächst mal leistet eine solche gesellschaftliche Organisation genau
das, was du willst, eben nur als Seiteneffekt und zumindest in
Teilbereichen mehr oder weniger zufällig und in vielen Fällen mehr
schlecht als recht. Ich muß jetzt nicht die vielen Defizite des
Kapitalismus aufzählen, wo er eben nicht allgemein gesellschaftliche
Bedürfnisse befriedigt, sondern nur die, die mit einer kaufkräftigen
Nachfrage ausgestattet sind.

Stattdessen muß eine solche gesellschaftliche Organisation immer
wieder in eine Situation führen, die wir heute haben.

finde ich in vielen Bereich weniger problematisch als viele andere Formen,

Ich denke, daß wir da noch viele Formen kennenlernen werden. Wie
würdest du z.B. die gesellschaftliche Organisation Freier Software
dagegen einschätzen? Funktioniert jedenfalls besser als die
kapitalgetriebene á la M$. In diese Richtung würde ich gerne
weiterdenken.

weil es gewisse Wahlmöglichkeiten lässt

Das liegt aber nicht an der Art und Weise der gesellschaftlichen
Organisation, sondern an der Entkoppelung von (individueller) Person
und (gesellschaftlicher) Funktion, die im Feudalismus ja bekanntlich
noch eng und (nahezu) untrennbar miteinander verbunden waren.

Die Wahlmöglichkeiten, die natürlich einen Gewinn an individueller
Freiheit bedeuten, können dann aber auch anders realisiert werden.
Auch hier fällt mir wieder die Freie Software ein, wo Leute wählen
können, welcher gesellschaftlichen notwendigen Aufgabe sie sich
zuwenden.

und monetäre Anreize weniger
Zwangscharakter haben als vieles andere.

Und nochmal Widerspruch. Das wirkt für dich so, weil du die monetären
Anreize mit der Muttermilch aufgesogen hast. Die Feudalherrn haben das
z.B. ganz anders gesehen.

Und ganz ehrlich: Ich strenge mich tausendmal lieber an, wenn ich
(möglichst konkret) weiß welchem Nutzen meine Anstrengung dient, als
wenn ich es wegen des Geldes tue, das ich dafür bekomme. Umgedreht:
Für mich einsehbare Notwendigkeiten haben für mich viel höhere
Dringlichkeit (Zwangscharakter?) als monetäre Anreize.

Das wäre unter sozialistischen
Bedingungen etwa durchaus mit relativ großzügiger Grundsicherung
kombinierbar, so dass Leute wirklich wählen könnten, ob sie das machen wollen
und im Gegenzug immaterielle und materielle Anerkennung dafür bekomen oder ob
sie darauf verzichten.

Wie eine großzügige Grundsicherung sich mit monetären Anreizen
verträgt mußt du mir mal erklären. Egal.

Hier kommt ja noch die Frage mit rein, wieviele Leute wir eigentlich
noch brauchen, um - auch unter kapitalistischen Bedingungen - die
gesellschaftlich notwendige Arbeit zu tun.

Also diese hier von mehreren Leuten vertretene
Fixierung darauf, möglichst überall Tausch und Wert beseitigen zu wollen,
finde ich falsch.

Aus den dargelegten Gründen finde ich das immer noch richtig. Tausch
und Wert waren historisch sinnvoll um eine durch die Unsichtbare Hand
gesteuerte gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Abschaffung der
Arbeit zu leisten. Das ist mittlerweile tendenziell erreicht: Der
Kapitalismus hat seinen Job getan, der Kapitalismus kann gehen.

Meine Frage neu formuliert würde also heißen: Warum denkst du, daß ab
einem bestimmten historischen Stand die Menschheit nicht (mehr) in der
Lage sein sollte, den Stoffwechselprozeß mit der Natur so zu
organisieren, daß ihn Leute freiwillig machen und aus Gründen der
Selbstentfaltung bzw. um der Notwendigkeit nachzukommen?

Das Problem ist, dass zwar viele Arbeiten (da Arbeit eine Tätigkeit ist, kann
man meinetwegen hier auch "Tätigkeiten" schreiben und es bleibt richtig, aber
"Arbeit" ist genauer) gesellschaftlich notwendig sind, aber bei
hochentwickelter Arbeitsteilung weder möglich noch sinnvoll ist, dass jedeR
jede notwendige Arbeit selber macht.

Es geht mir auch nicht um eine Zurücknahme von Arbeitsteilung. Nur
nicht.

Es sind ständig viele tausende
verschiedene Arten von Arbeit in bestimmten Quantitäten und Qualitäten und an
bestimmten Orten notwendig zu erledigen, um die Gesellschaft bzw. die
Menschen auf hohem Niveau am Leben und Laufen zu halten.

Richtig.

Das wird sich weder
zufällig mit den auf Selbstentfaltung gerichteten Arbeitsbedürfnissen der
Einzelnen decken noch aus individueller Einsicht in den gesamten Prozess noch
in unmittelbarer personaler Vergesellschaftung zwischen Millionen Beteiligten
so ergeben, dass sich dafür jeweils gerade im richtigen Zeitraum die
geeigneten Menschen daran machen, ihren Anteil an diesem gesellschaftlichen
(und letztlich sogar global verflochtenen) Gesamtarbeitsprozess zu leisten.
Das muss also in der einen oder anderen Weise organisiert werden.

Ja, es muß organisiert werden. Wie stark weiß ich noch nicht - ist von
heute aus schwer abzuschätzen. Ich denke, daß wir es da noch ziemliche
Leerstellen haben.

Nichtsdestotrotz wäre ich dafür, daß gesellschaftliche Entscheidungen
nicht mehr irgendwelchen blindwütigen Prozessen überlassen bleiben,
sondern zumindest von der Idee her in das bewußte Handeln der
Menschheit überführt wird. Wie das genau gehen kann, bliebe zu klären.

In der Freien Software gibt es jedenfalls ja auch mit der LSB (Linux
Standard Base) Bemühungen, "gesellschaftliche" Notwendigkeiten nach zu
regeln, die durchaus oberhalb individueller Interessen liegen.

Das muss grundsätzlich nicht unbedingt über Tauschprozesse erfolgen, sondern
ist auch über Kommunikation und abgestufte gemeinsame Planung von
gesellschaftlichen Einheiten auf verschiedenen Ebenen, von der Familie oder
Wohngemeinschaft bis zum interkontinentalen Austausch (Austausch meint hier
nicht unbedingt Tausch, sondern jede Form von Geben und/oder Nehmen, und das
wird immer nötig sein) möglich.

Ja genau. Keimformen heute gälte es zu identifizieren. Die NGOs
könnten da was sein.

Letztlich muss das Ergebnis aber immer sein
ein tragfähiges Gesamtsystem, in dessen Rahmen alle notwendigen Arbeiten von
geeigneten Personen erledigt werden.

Mal außen vor die Frage lassend, was notwendig ist und wer das
bestimmt, wäre das ein Fortschritt für die Menschheit, den der
Kapitalismus global nie einlösen konnte und heute auch gar nicht mehr
will.

Da Selbstentfaltung durch
Arbeit/produktive Tätigkeit und auch die allgemeine Einsicht in die
Notwendigkeit von Arbeiten und eigenen Anteils daran etwas anderes sind als
das Bedürfnis oder die Einsicht in die Notwendigkeit und die Akzepztanz der
entsprechenden gesellschaftlichen Vereinbarung (die wohl nie in 100%-igem
Konsens ausfallen dürfte), eine bestimmte Arbeit in bestimmter Weise und
Quantität und Zeitraum zu erledigen, dürfte es auf absehbare Zeit nötig sein,
der Freiwilligkeit etwas nachzuhelfen.

Das könnte sein - wobei die "absehbare Zeit" m.E. wahrscheinlich
kürzer ist ;-) .

Dies könnte durch moralischen oder
sonstigen Druck oder durch immaterielle oder materielle Anreize geschenen,
ich präferiere dabei entschieden für die Anreizvariante.

Da bin ich anderer Ansicht. Sowohl in früheren Gesellschaften als auch
in unseren heutigen gab und gibt es ideologische Konstrukte, die den
Menschen das Einfügen in gesellschaftliche Notwendigkeiten
erleichtern. Ich fasse das dann gewöhnlich als Kultur auf, die es in
unserem Fall zu entwickeln gilt, und die sich ja sogar schon
entwickelt.

Ich fände es jedenfalls gerade aus aufklärerischer Sicht dem Menschen
gemäßer, wenn du ihm sagen könntest: "Es gibt folgende gute Gründe,
daß dies und jenes getan werden muß: ..." als "Wenn du das tust, dann
darfst du auch morgen noch essen." Wie oben ausgeführt, muß die
Freiheit darunter ja nicht leiden.

Und auch der gesellschaftliche Kommunkations- und Planungsprozess ist nicht
so einfach, wie es sich anhören könnte, auch nicht mit Internet und anderen
modernen I+K-Techniken.

Na, die großen Konzerne machen uns jedenfalls schon ganz gut vor, wie
das auf einem globalen Level geht. Den gesellschaftlich notwendigen
Teil - also ohne Konkurrenz, Marketing, Wertbeziehungen; mithin den
stofflichen Teil der Arbeit der Konzerne - können wir ja (zunächst
mal) ähnlich machen - oder?

M.E. dürfte es auf absehbare Zeit am besten sein,
"nur" eine noch überschaubare Menge von für die gesellschaftliche Entwicklung
auf den jeweiligen Ebenen grundlegenden und strategisch wichtigen
Produktionen bzw. Arbeiten so zu planen, jedenfalls bei weitem nicht alles.

Ja, Übergangsphase wird sich ohnehin ergeben.

Und auf jeden Fall muss der Planungsprozess auf allen Ebenen wesentlich
demokratischer ablaufen als es im Staatssozialismus war.

Ja.

Es wäre aber auch die Frage, inwieweit es wirklich Planung sein muß.
Finde ich durchaus nicht ausgemacht.

Ein weiterer Teil
wird wie freie Software etwa tatsächlich aus eigenem Antrieb bzw. zur
Selbstentfaltung produziert werden, ein weiterer Teil wird von der
Gesellschaft selbst direkt organisiert oder in Auftrag gegeben (öffentliche
Dienste und Infrastrukturen, auch Wissenschaft). Der Rest kann bzw. sollte
m.E. weiter als Waren produziert werden.

Ja, Übergangsphase halt.

Auch zur Umsetzung der Planung
dürften monetäre Mechanismen zentral und wesentlich effizienter als nur
stoffliche Vorgaben sein.

Warum? Weil du dann das strukturelle Zwangsmittel gleich zur Hand
hast? Eine großzügige Grundsicherung macht das m.E. alles obsolet...

Den Rest schenke ich mir mal. Dazu noch:

Jetzt kann mich wer will ganz nach Laune als Reformisten oder verkappten
Staatssozialisten oder Staatskapitalisten oder sonstwas beschimpfen,

Darum geht's mir jedenfalls nicht. Klar, daß deine Position sicher so
bezeichnet werden kann, aber meine könntest du auch mit Schimpfworten
belegen ;-) . Ich finde es jedenfalls gut, daß wir so unterschiedliche
Positionen auf der Liste haben. So kriegen wir wenigstens eine
Reibung, die uns letztlich alle weiterbringt (hoffe ich).


						Mit Freien Grüßen

						Stefan


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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