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Re: Re [ox] "GPL-Gesellschaft" oder was?



Hallo,

Oh, es wird ja richtig spannend hier... 

Gesellschaft eigentlich? Dazu zitiere ich mangels
Verfügbarkeit besserer Quellen das Meyersche
Taschenlexikon:

  Gesellschaft [zu althochdt. giselliscaft,
  "Vereinigung mehrerer Gefährten, freundschaftl.

Das ist eine sehr schlechte Ausgangsdefinition...

Spricht man von Gesellschaft, so ist also
hautpsächlich das Beziehungsgeflecht zwischen den
Einzelnen gemeint. 

Zweimal Nein:

1. Wenn schon, dann müßte man unterscheiden: soziologisch wird bei einer
direkten, unmittelbaren Beziehung zwischen Menschen von Gemeinschaften
gesprochen und dieser Begriff wird explizit gegen die Gesellschaft, in
der immer alle Menschen eines Reproduktionsbereichs erfaßt sind,
verwendet. Dadurch kommt es auch oft zur Idyllisierung von
Gemeinschaften gegen die angeblich nur anonyme Gesellschaft. (spielt in
der vor allem in Amerika aktuellen Bewegung des Kommunitarismus, die
manchmal als progressiv, öfter aber als regressiv/reaktionär
eingeschätzt wird) eine Rolle. 

2. "Beziehungsgeflecht zwischen den Einzelnen". Das klingt so nach: 1.
waren die Einzelnen da und 2. machen die ein Beziehungsgeflecht zwischen
sich.
Das  stimmt aber nicht. Jede/r Einzelne MENSCH ist als Mensch dadurch
bestimmt, daß er gesellschaftlich und nie nicht gesellschaftlich lebt.
Jede/r Einzelne ist "von Natur aus gesellschaftlich bestimmt" - oder
noch verrückter ausgedrückt: Er ist "natürlich gesellschaftlich". Sonst
wäre er kein Mensch, sondern ein Tier. 
Gesellschaft in diesem Sinne ist dann die Einheit, in der sich die
Menschen in ihrer gesamten Lebensweise materiell und geistig
reproduzieren. Auch kleine Stämme, fast isolierte Menschengruppen sind
nur dadurch Menschen geworden/geblieben, daß sie sich nicht mehr wie
Tiergruppen durch die Beteiligung JEDES einzelnen an der materiellen
Reproduktion reproduzieren, sondern auf gesellschaftlichem Niveau, das
heißt so, daß arbeitsteilig und kooperativ über das direkte
Zusammenwirken der einzelnen Menschen hinaus ein größerer Zusammenhang
für die Reproduktion existiert. Konkreter: bei gesellschaftlichen
Reproduktionsprozessen ist es nicht mehr erforderlich, daß sich jeder
Einzelne immer und sofort an der Reproduktion beteiligt (was z. B. ein
gewisses Mehrprodukt erfordert, was es für Tiere trotz aller sozialer
Vorratswirtschaft dort noch nicht gibt). Dadurch gewinnt der Einzelne
gegenüber der Gesellschaft eine NEUARTIGE MOEGLICHKEITSBEZIEHUNG: zwar
müssen durchschnittlich die nötigen Reproduktionsleistungen erfolgen -
aber nicht notwendig durch jeden Einzelnen in jedem Moment. Dies gibt
den Menschen einen Freiraum, den Tiere niemals haben. Das unterscheidet
auch Gesellschaft vom "Sozialen", das auch schon Tiere haben können. 
Leider sind diese Denkweisen nur innerhalb der Kritischen Psychologie
entwickelt worden und zu selten auch nach außen gedrungen (Stefan Meretz
sei Dank konnte ich sie durch ihn kennenlernen, er macht auch die
Webseiten: http://www.kritische-psychologie.de). Bei allem, was
"Selbstentfaltung" inhaltlich betrifft, geraten wir ja auf das Feld des
individuell-gesellschaftlichen und die beste Theorie dazu ist die
KritPsych. 

Das mit dem Einzelnen und dem Beziehungsgeflecht ist ansonsten noch ein
ganz, ganz alter Streit. Gibts das Einzelne und das Allgemeine
eigentlich nicht - oder gibts eher das Allgemeine und alles Einzelne
sind nur Momente des Ganzen? (Universalienstreit)

Das wichtigste Charakteristikum einer Gesellschaft
scheinen mir die Verhältnisse der Individuen zur
Macht, d.h. die Herrschaftsverhältnisse zu sein.

"Charakteristikum einer Gesellschaft" - damit kann zweierlei gemeint
sein:
a) Macht gehört zu JEDER Gesellschaft, nur ihre Verhältnisse/Formen
ändern sich.
b) Charakteristik EINER Gesellschaft (von anderen möglichen) sind die
Herrschaftsverhältnisse. 

Ich bevorzuge b). Es gibt (gab, wird geben) auch gesellschaftliche
Verhältnisse ohne Herrschaft.
(Macht ist noch mal ein anderes Wort, da will ich mich jetzt nicht
festlegen).

War es nicht ein Hauptanliegen Marx die Beziehungen
zwischen Ökonomie und Herrschaft offenzulegen ?

Ja, um sie zu kritisieren! Das ist ein  häufiger Irrtum von Marxisten:
Da Marx die Ökonomie als grundlegend nachgewiesen habe, sei sie halt
immer und überall grundlegend. Daß Marx genau diese Dominanz/Herrschaft
der Ökonomie untersucht hat um sie zu kritisieren und Hinweise darauf zu
finden, wie sie zu beseitigen ist, wird oft vergessen. 

Dies scheint zu implizieren, daß eine Gesellschaft
nur oder hauptsächlich durch die Ökonomie
beschrieben wird. 

Meine Meinung:
Das Verhältnis der einzelnen Aspekte ändert sich historisch. Die
"Vorgeschichte der Menschheit" (diese Bezeichnung kommt von Marx) war
dadurch gekennzeichnet, dass LEIDER die Oekonomie viele
gesellschaftliche Formen beherrscht/e, weil sie noch in einer Welt des
Mangels stattfand. Erst DANACH, wenn nicht mehr die Oekonomie dominiert,
sondern im Untergrund einfach funktioniert, können sich die Menschen an
ihre wirkliche Geschichte machen. 
Beim einzelnen Menschen muß ja auch die Verdauung funktionieren - aber
die Verdauung beherrscht nicht sein ganzes Leben. Genauso für die
Wirtschaft und die Gesellschaft... 

Ahoi Annette


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*   Annette Schlemm			*
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