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Gorz (was: [ox] Literaturtip)



Hi Benni und alle!

Yesterday Benni Baermann wrote:
Ich lese gerade "Arbeit zwischen Misere und Utopie" von Andre Gorz
(Edition zweite Moderne, Hg: Ulrich Beck, Suhrkamp, ISBN:
3-518-41017-2). Ich habs noch nicht ganz durch, aber soviel weiss
ich schon:

Vieles was ich dort lese, habe ich auch schon in den Diskussionen
hier angetroffen, nur ohne den engen technischen Bezug. Die
"GPL-Gesellschaft" nennt er "Multiaktivitaetsgesellschaft". Wobei
natuerlich nicht das selbe gemeint ist, aber es geht in eine
aehnliche Richtung. Ich denke also, dass das auch fuer die
Diskussion hier interessant sein koennte.

Ganz meiner Meinung.

Seit ein paar Wochen liegt bei mir die CONTRASTE-Ausgabe 04/00 rum, in
der Heinz Weinhausen unter der Überschrift

			    Sphärenklänge
		Zum Teilzeitsozialismus des André Gorz

einiges Interessantes geschrieben hat. Zitiert hat er die Bücher "Wege
ins Paradies" (1983), "Und jetzt wohin?" (1991) und "Abschied vom
Proletariat" (1980). Von wann ist das Buch, das du gerade liest?

Unter

	http://www.nadir.org/nadir/periodika/contraste/april-au.htm

ist der erste Teil des Artikels dokumentiert, den ich auch anhänge.

Ich frage Heinz Weinhausen mal, ob er uns die anderen beiden Teile
auch überläßt. Der eine beschäftigt sich in kritischer Weise mit dem
Arbeitsbegriff bei Gorz. Da dieser Teil sich mit meiner Kritik
weitgehend deckt, erspare ich mir vorerst mal meinen eigenen Senf.

Vielleicht hat ja auch sonst schon jemand von euch das Buch gelesen
und sagt mal seine Meinung dazu...

Das fände ich auch interessant. Wenn dazu jemensch einen brauchbaren
Link weiß, wäre ich sehr daran interessiert, ihn auf unsere Link-Seite
zu bringen (auf die ich übrigens immer mal wieder was dazu nehme -
auch gerne aus euren Mails).


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

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ZUM TEILZEITSOZIALISMUS DES ANDRÉ GORZ:

Sphärenklänge

Du spulst deine Arbeit runter,
und fragst nicht, warum und wieso.
Hauptsache, du kriegst deine Kohle
und ist es sauber auf dem Klo.
Ist es nicht so,
du Krone der Schöpfung ? (1)

                         [Image]

"Den Kapitalismus überwinden   [april00.jpg (74064 Byte)]
heißt hauptsächlich und
notwendig, die Vorherrschaft der Warenbeziehungen -
einschließlich des Verkaufs der Arbeit - zugunsten
freiwilliger Tätigkeiten und Tauschbeziehungen zu
beseitigen, die ihren Zweck in sich selbst tragen." (2)

                         [Image]

Von Heinz Weinhausen, Redaktion Köln - Warenbeziehungen
und Lohnarbeit zurückdrängen, ist die Kernforderung von
Andr, Gorz. Was der Mainstream der SozialistInnen
ignoriert oder auf eine ferne "Übergangsgesellschaft"
verschiebt, setzt er punktum auf die Tagesordnung: "Wer,
wie, wann, wo damit anfangen könnte, wird von den
radikal "man muss einfach" Denkenden als eine unwürdige
Frage abgetan." (3) Wo andere noch mit der Frage ringen,
ob überhaupt eine Gesellschaft ohne Lohnarbeit je
funktionieren könnte, oder allenfalls abstrakte
Forderungen in diese Richtung erheben, geht es Gorz
bereits um konkrete Vermittlungen; nämlich darum, hier
und heute zu beginnen, das Joch der Lohnarbeit im
realexistierenden Industriessystem zu brechen. Das
Gorzsche Denken steht also nicht für die Verherrlichung
der Arbeit. Es verwirft den Glauben an die Metamorphose
der Arbeiterklasse, sobald sie nur die politische Macht
erringt. (4) Gorz hält vielmehr die Arbeit selbst für
das eigentliche Problem. Er beschreibt sie als Mühsal,
als Langeweile, als ermüdenden quälenden Zwang, der die
Menschen verkrüppelt, deformiert oder verblödet, wenn
sie ganztags und auf Dauer erbracht werden muss. Hierin
sieht Gorz auch die Problematik der sowjetischen
Diktatur des Proletariats. Wird ein Großteil der
Arbeiterklasse in einen lebenslangen Monotonie-Beruf
eingesperrt, in dem das Individuum schlicht zu
funktionieren hat, während seine schöpferischen Potenzen
brach liegen, dann hat diese Arbeitsgesellschaft -
unabhängig davon, wie sie sich selbst definieren mag -
herzlich wenig mit dem erstrebten kommunistischen Ziel
zu tun. (5)

In der Tat, einer vollen Entwicklung des Individuums,
die Marx als ein Charakteristikum des Kommunismus sah,
steht diese Vereinseitigung diametral entgegen. Wird
dies nicht gesehen, "läuft man Gefahr, von Angestellten
und ArbeiterInnen die "Selbstverwirklichung" innerhalb
von Arbeitsaufgaben zu fordern, die keine
Selbstverwirklichung erlauben." (6)

Explizit wendet sich Gorz gegen die Vision des
sozialistischen Arbeiterstaates. Er tritt vielmehr ein
für die Befreiung von der Arbeit als politischem
Programm. "Es geht nicht mehr darum, Macht als Arbeiter
zu erobern, sondern darum, Macht zu erobern, um nicht
länger als Arbeiter funktionieren zu müssen." (7)

Befreiung von der Arbeit bedeutet für Gorz zunächst ganz
einfach eine drastische Reduktion der
Erwerbsarbeitszeit. Ausgehend von der heutigen
Produktivität taxiert er die notwendige
Lebensarbeitszeit: "Es sieht kaum aus, als würde dieses
Quantum gegen Ende des Jahrhunderts 20.000 Stunden
überschreiten. Nun bedeuten aber 20.000 Stunden pro
Leben zehn Jahre Vollzeitarbeit oder zwanzig Jahre
Teilzeitarbeit oder - weit plausibler - vierzig Jahre
unregelmäßige Arbeit, wobei Halbzeitperioden,
Urlaubsperioden oder Perioden unbezahlter autonomer
Tätigkeit in einer Arbeitsgemeinschaft usw. einander
abwechseln." (8) Diese Lebensarbeitszeit sieht er als
Pflicht, von der niemand freigestellt sein soll. In der
radikalen Einschränkung der Lohnarbeit - in der
Terminologie von Gorz der heteronomen Arbeit - erkennt
er aber die Chance zu einer neuen Lebensqualität. "Sinn
und Ziel der Forderung, "weniger zu arbeiten" ist nicht
"mehr auszuruhen", sondern "mehr zu leben"" (9)

In der Umsetzung dieses Ansatzes sieht Gorz die
Möglichkeit, die vom Kapitalismus eingeimpfte
"produktivistische Arbeits-Ethik auszumerzen und durch
eine Ethik zu ersetzen, in der die freiwillige
Kooperation, die Selbstbestimmung, die Kreativität, die
Qualität der Beziehungen zu anderen und zur Natur die
dominierenden Werte sind. Wir müssen wieder lernen, uns
in das, was wir tun, einzubringen, nicht weil wir dafür
bezahlt werden, sondern aus Freude, etwas zu schaffen,
zu schenken, zu lernen, mit anderen nicht-kommerzielle
und nicht-hierarchische, praktische und affektive
Beziehungen zu knüpfen." (10)

Und umgekehrt verhindert ein Beharren auf den
Vollzeitarbeitsplatz einen Durchbruch der neuen Ethik.
"Solange das Arbeitsleben den Hauptteil der Zeit eines
jeden beansprucht und der Despotismus der Stoppuhr die
Arbeitszeit von der Lebensarbeitszeit abschneidet,
werden die Entdeckung, die Neuerfindung der
nicht-ökonomischen Werte auch außerhalb der Arbeit
unwahrscheinlich bleiben" (11) In dieser neuen Sphäre
der autonomen Tätigkeiten - hat die ökonomische Logik
keine Geltung mehr. Hier ist kein Sich-zurichten-müssen
angesagt, auch nicht, wenn die frei verfügbare Zeit für
die Herstellung von Notwendigem genutzt wird.
"Handgenähte Kleider und Schuhe haben nicht denselben
Status wie industriell gefertigte. Sie um des Vergnügens
willen herstellen heißt, dass die Zeit, die man damit
zubringt, nicht gezählt wird: es ist die Zeit des Lebens
selbst." (12)

Autonomes Tun braucht folgerichtig eine angemessene
Infrastruktur, um sich entfalten zu können. Gorz fordert
daher eine Politik kollektiver Einrichtungen. Als
Beispiel nennt er "die städtischen Zentren in
Großbritannien , die unter einem Dach Schwimmbad,
Bibliothek, Lesesaal, Spiel- und Musikräume, Restaurant,
Reparatur- und Bastelwerkstatt vereinen." (13) Weiterhin
sieht er den Staat gefordert, für Selbsthilfegruppen,
welche Altenhilfe, Kinderbetreuung u.a. organisieren,
eine geeignete Infrastruktur aufzubauen und ständige
finanzielle Unterstützung zu gewährleisten.

Gorz selbst bezeichnet seinen Ansatz als dualistische
Konzeption, und nur eine solche hält er für realistisch
und realisierbar. "Die heteronome Sphäre gewährleistet
die programmierte, geplante Produktion all dessen, was
für das Leben der Individuen und für das Funktionieren
der Gesellschaft notwendig ist, so wirksam wie möglich,
folglich mit dem geringsten Aufwand und minimalen
Ressourcen. In der anderen Sphäre produzieren die
Individuen auf autonome Weise, außerhalb des Marktes,
allein oder frei assoziiert, materielle und
immaterielle, nicht notwendige, aber den Wünschen, dem
Geschmack und der Phantasie des Einzelnen entsprechende
Güter und Dienste." (14) Die eine Sphäre gilt es
abzubauen, die andere zu erweitern. In dem Maß wie das
gelingt und endlich das Selbstbestimmte überwiegt, wird
die Gesellschaft sozialistisch. Hier käme dann den von
ökonomischer Rationalität der Kapitalverwertung
geprägten Beziehungen nur noch eine untergeordnete Rolle
zu und somit wäre die "ökonomisch rationale Arbeit
sowohl gesamtgesellschaftlich als im Leben der einzelnen
nur noch eine Tätigkeit unter mehreren anderen, ebenso
wichtigen". (15) Die restlose Beseitigung von Geld- und
Warenbeziehungen hält Gorz allerdings für utopisch. (16)

Soweit die Vorstellung der Gorz'schen Position. Kann nun
die dualistische Konzeption ein Ausweg aus der Krise des
marktwirschaftlichen Systems sein? Um diese Fragen
befriedigend beantworten zu können, sind die Grundlagen
und Ausgangspositionen zu erörtern.

Teil 2 und 3 sowie Anmerkungen in der Papierausgabe


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http://www.oekonux.de/



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