Re: Gorz (was: [ox] Literaturtip)/Such-Tip
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Thu, 1 Jun 2000 15:05:53 +0200
Stefan Merten schrieb:
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Hi Benni und alle!
Yesterday Benni Baermann wrote:
Ich lese gerade "Arbeit zwischen Misere und Utopie" von Andre Gorz
(Edition zweite Moderne, Hg: Ulrich Beck, Suhrkamp, ISBN:
3-518-41017-2). Ich habs noch nicht ganz durch, aber soviel weiss
ich schon:
Vieles was ich dort lese, habe ich auch schon in den Diskussionen
hier angetroffen, nur ohne den engen technischen Bezug. Die
"GPL-Gesellschaft" nennt er "Multiaktivitaetsgesellschaft". Wobei
natuerlich nicht das selbe gemeint ist, aber es geht in eine
aehnliche Richtung. Ich denke also, dass das auch fuer die
Diskussion hier interessant sein koennte.
Ganz meiner Meinung.
Seit ein paar Wochen liegt bei mir die CONTRASTE-Ausgabe 04/00 rum, in
der Heinz Weinhausen unter der Überschrift
Sphärenklänge
Zum Teilzeitsozialismus des André Gorz
einiges Interessantes geschrieben hat. Zitiert hat er die Bücher "Wege
ins Paradies" (1983), "Und jetzt wohin?" (1991) und "Abschied vom
Proletariat" (1980). Von wann ist das Buch, das du gerade liest?
Unter
http://www.nadir.org/nadir/periodika/contraste/april-au.htm
ist der erste Teil des Artikels dokumentiert, den ich auch anhänge.
Ich frage Heinz Weinhausen mal, ob er uns die anderen beiden Teile
auch überläßt. Der eine beschäftigt sich in kritischer Weise mit dem
Arbeitsbegriff bei Gorz. Da dieser Teil sich mit meiner Kritik
weitgehend deckt, erspare ich mir vorerst mal meinen eigenen Senf.
Vielleicht hat ja auch sonst schon jemand von euch das Buch gelesen
und sagt mal seine Meinung dazu...
Das fände ich auch interessant. Wenn dazu jemensch einen brauchbaren
Link weiß, wäre ich sehr daran interessiert, ihn auf unsere Link-Seite
zu bringen (auf die ich übrigens immer mal wieder was dazu nehme -
auch gerne aus euren Mails).
Mit li(e)bertären Grüßen
Stefan
Der Artikel ist auf der krisis-homepage - http://www.magnet.at/krisis/ unter
Texte, Weinhausen zu finden.
Ich lese auch gerade den neuen Gorz (bei suhrkamp erschienen,edition Moderne von
Ulrich Beck, frz. 1997, dt. 2000, 32 DM) soweit ich beim ersten Querlesen sehe,
ziemlich der alte, dennoch interessant. Nach dem Urlaub schreibe ich vielleicht
etwas dazu, wenn es bis dahin nicht schon andere getan haben. Der Artikel von
Heinz W. ist in Krisis 18 erschienen. Im übrigen lohnt es sich wirklich zu allen
Diskussionen bei ot und ox auch andere Materialien aus den Heften 15
"Postmarxismus und Arbeitsfetisch", 16/17 "Die Himmelfahrt des Geldes" (das
beste, was es zu Krisenkapitalismus/Kasinokapitalismus gibt), 18 und 19 alle
Artikel zu Aufhebungsbewegung/Antiökonomie,Antipolitik/ Dritter Sektor/Zeit ist
Geld, usw.. Ich bin gerade dabei, Inhaltsverzeichnis zu erstellen, wichtiges ins
Netz zu posten und reader zusammenzustellen. Das Editorial des vergriffenen
Heftes 12, das gewissermaßen eine Zäsur der Entwicklung der Gruppe KRISIS
darstellt, habe ich fertig und schicke ich anbei in 2 Teilen mit.
Ciao Uli
Ulrichleicht t-online.de
Im folgenden der 1. Teil (6 von 11 S.) des Editorials
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Krisis 12 (1992)
Editorial
Ein Bändchen yon Rossana Rossanda aus den siebziger Jahren trägt (zumindest in
der deutschen Übersetzung) den schönen Titel "Dialektik von Kontinuität und
Bruch". Damit ließe sich auch die Entwicklung der KRISIS ganz gut überschreiben.
Mit der Ausarbeitung, dem Weitertreiben und Präzisieren des theoretischen
Ansatzes hat sich dieser auch gründlich verändert. Da die KRISIS von 1992 an vom
Horlemann-Verlag betreut wird und neue Leser zu erwarten sind, nehmen wir dies
zum An1aß, ein wenig auf die Irrungen und Wirrungen der letzten sieben Jahre in
unserer theoretischen Sub-Existenz zurückzublicken. Natürlich nicht mit der
Illusion, eine auf Anhieb verständliche Darstellung geben zu können. Aber doch
in der stillen Hoffnung, dass alte und junge Neuankömmlinge neugierig gemacht
werden auf jene seltsamen Vögel von "Marxisten, die schon keine mehr sind".
Als in der vormaligen "Marxistischen Kritik" Nr.1 anno 1986 der Aufsatz "Die
Krise des Tauschwerts" erschien, war uns durchaus klar; daß dieser Beitrag eine
grundsätzliche Wendung gegen den Hauptstrom aller bisherigen marxistischen
Theoriebildung implizierte. Allerdings ahnten wir nicht einmal annähernd, was
das in der Folge alles zu bedeuten hatte. Die manchen Oberen vielleicht etwas
anmaßend klingende "fundamentale Wertkritik" war geboren, die werte Elternschaft
lernte aber erst nach der Geburt, was für ein Gör sie da in die Welt gesetzt
hatte.
Der in vielerlei Hinsicht für unsere Entwicklung bahnbrechende Aufsatz "Die
Krise des Tauschwerts" etwa operierte - vollkommen naiv von unserem heutigen
Standpunkt aus gesehen - mit einem positiven Bezug auf den guten alten
Klassenkampf und unterstellte noch ganz brav-traditionell die Arbeiterklasse als
revolutionäres Subjekt. Kritik der Warengesellschaft ("Wertkritik") und
Klassenkampfdenken koexistierten hier noch friedlich. Wo aber die Keimzelle der
bürgerlichen Gesellschaft, die Ware, zum zentralen Kritikgegenstand wird, kann
der stolze Besitzer der Ware Arbeitskraft auf Dauer seinen Heiligenschein nicht
behalten. Drei Jahre später wurde in dem für unseren damaligen Stand zentralen
Beitrag "Der Klassenkampffetisch" (MK 7) die Konsequenz gezogen und jener
sogenannte "Klassenstandpunkt", der zuvor noch als stille Voraussetzung gegolten
hatte, zum expliziten Kritikgegenstand gemacht. Damit sahen wir uns plötzlich
genauso weit vom nur noch folkloristisch strammen Arbeiterbewegungs-Marxismus
entfernt wie die neuen "Realisten" - bloß in der genau entgegengesetzten
Richtung.
5
Die Hinwendung zur Fetischismuskritik erzwang aber nicht nur den Bruch mit der
Affirmation der "Arbeiterklasse", sie warf weitergehend das soziologistische
Denken überhaupt über den Haufen. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhang der
Menschen sich paradoxerweise zu etwas Dinglichem verkehrt und objektiviert, das
den Individuen und ihrem Tun immer schon vorausgesetzt ist, dann läßt sich
Wirklichkeit nicht länger in letzter Instanz aus dem bloßen Wechselspiel
sozialer (Groß)subjekte erklären (vgl. "Brüderchen und Schwesterchen", KRISIS
11). Der Blick richtet sich vielmehr auf die Konstitutionsbedingungen von
Subjektivität, während die vertraute Dichotomie von blind hingenommener
gesellschaftlicher Objektivität (Warenform) und handelnden Subjekten obsolet
wird (vgl. "Das Ende des Pro1etariats als Anfang der Revolution" und "Die
vergebliche Suche nach dem Unverdinglichten Rest", KRISIS 10).
Freilich konnte eine ernstgenommene Kritik der Warengesellschaft, die nicht bei
der vagen Überschrift stehenbleibt, sich keineswegs auf die Kritik des kruden
"Soziologismus" beschränken. Das Lieblings-Tummelfeld der linken Aktivisten,
"die Politik", und ihr Lieblingsziel, "die (wahre) Demokratie", mussten ebenso
in ihrer fetischistischen Konstitution beleuchtet werden. Schon die Aufsätze von
Peter Klein über "Demokratie und alte Arbeiterbewegung" (MK 3-6) beginnen, in
der Auseinandersetzung mit Lenin, mit einer energischen Absetzbewegung vom
linken Politizismus (1). Einige Jahre später haben sich die dort erstmals
publizierten Gedanken zu einer Kritik der politischen Form überhaupt und ihrer
Grundkategorien (,,Freier Wille" und ,,Gleichheit) ausgewachsen
("Demokratendämmerung", KRISIS 11). Wo die Ebene des Abstrakt-Allgemeinen
(Staat, Politik) ins Blickfeld gerät, zieht die "Wertkritik" die Kritik der
Demokratie nach sich.
Gleichzeitig musste die Auseinandersetzung mit den scheinbar geläufigen und
glatten, in Wahrheit aber positivistisch-definitorisch affirmierten und
versteinerten Grundkategorien der ,,Politischen Ökonomie" wieder aufgenommen
werden. Die Kritik der "abstrakten Arbeit" (vgl. "Abstrakte Arbeit und
Sozialismus", MK 4), der "Substanz des Werts", setzte die Kritik des Tauschwerts
fort, bildete aber keineswegs den Schlusspunkt. Wurde in jenem Text von Ende
1987 noch die ,,Arbeit" als überhistorische, ontologische Gegebenheit behandelt
und nur deren
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(1) Soeben sind diese Aufsätze von Peter Klein gründlich überarbeitet als
Buchpublikation der "Edition KRJSIS" unter dem Titel "Die Illusion von 1917" im
Horlemann-Verlag erschienen. Gerade nach dem Ende des "Realsozialismus" dürfte
diese Untersuchung nicht allein aus dokumentarischen Gründen interessant sein.
Eine Überlegung, die uns zur Neuauflage veranlaßt hat.
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warenförmige Abstraktifizierung kritisiert, so verfiel zwei Jahre später auch
schon die "Ontologie der Arbeit" als solche der kritischen Verdammnis: Nicht das
Attribut ,,abstrakt" allein ist das Problem, sondern die ,,Substanz" namens
,,Arbeit" selbst. Es geht nicht darum, die ,,Arbeit" von der Gewalt der
Abstraktion zu befreien, sie ist vielmehr an ihr selber schon diese Gewalt der
Abstraktion (vgl. "Die verlorene Ehre der Arbeit", KRISIS 10).
Die "Wertkritik" zerrt also die verschüttete Analyse der bürgerlichen Keimform
ans Licht und macht dort weiter, wo der von der Arbeiterbewegung liegengelassene
"esoterische" Marx aufgehört hat (was nebenbei auch bedeutet, daß nicht mehr von
einer geschlossenen, "orthodox" bloß noch zu interpretierenden Marxschen Theorie
ausgegangen werden kann). Sie macht die basale Fetisch-Konstitution des zur
totalen, weltumspannenden Banalität gewordenen "Geldverdienens" als die
unhaltbare Realabsurdität kenntlich, auf der das System negativer
Vergesellschaftung in toto gründet. Weil sie unbescheiden auf den inneren
Zusammenhang und aufs Ganze zielt, kann die negatorische Denkbewegung die
säuberliche Trennung für sich seiender Sonderbereiche (Politik, Ökonomie,
Psychologie, Privatheit, Erkenntnistheorie usw.) nicht selbstbescheiden
akzeptieren. Es ist die Herrschaft der bürgerlichen Form, die all diese Grenzen
zieht, und so wird die Kritik der Warenform als solcher auf Grund ihrer eigenen
Dynamik zum grenzüberschreitenden Unternehmen.
Ein solches Programm läßt sich aber natürlich weder in einem Aufwasch besorgen,
noch lassen sich seine nächsten Schritte ohne weiteres präjudizieren. Die
Emanzipation vom etablierten bürgerlichen (und dem, wie sich herausgestellt hat,
dazugehörigen marxistischen) Denkkosmos läuft stück- oder stoßweise. Was
zunächst ausgeblendet blieb, rückt ins Licht, und die bisherigen Ergebnisse
unserer Arbeit erscheinen in neuer Beleuchtung. Die Theoriebildung der KRISIS
entwickelt sich als eine Art Domino-Effekt fort, der bis heute noch nicht beim
letzten Stein angelangt ist. Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die
nächste um, und auf jeder Stufe finden sich dem jeweiligen alten Reflexionsstand
verhaftete Anti-Kritiker, die die Autorenschaft der KRISIS der Blasphemie
bezichtigen, oder sich ernstlich Sorgen um unsere geistige Gesundheit machen.
Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.
In den vergangenen sieben Jahren hat sich aber nicht nur unser theoretischer
Ansatz präzisiert und radikalisiert, parallell dazu hat sich die
gesellschaftliche Großwetterlage gründlich verändert, und damit auch die
Rahmenbedingungen, in denen sich der Theoriebildungsprozeß vollzieht.
1986 schrieben wir mit der Hinwendung zu einer neuen Kritik der bürgerlichen
Basiskategorien gegen den Zeitgeist an und lagen völlig quer zu den
Fragestellungen,
7
die in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte und im linken Diskurs en vogue
waren. Im Editorial der ersten Ausgabe war realistischerweise von den "aktuell
miserablen Aussichten unseres Projekts" die Rede, und unsere theoretische Arbeit
fand denn auch tatsächlich geraume Zeit tief unten in den Katakomben statt,
unsichtbar und unentdeckt von einem größeren Publikum, gleich weit entfernt vom
akademischen wie vom politischen Betrieb.
Drei Jahre nach dem Epochenjahr 1989 bietet sich für unser Projekt eine weit
erfreulichere Perspektive, wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck angesichts eines
global wachsenden Elends zu gebrauchen. während wir in der theoretischen
Mönchszelle damit beschäftigt waren1 das warenproduzierende Weltsystem und die
von ihm hervorgetriebenen Denkraster zu kritisieren, war der prozessierende
Widerspruch so freundlich, diesem Unterfangen praktisch in die Hände zu
arbeiten. Er hat nicht nur die vertrauten politischen und theoretischen
Konstellationen gründlich durcheinandergewirbelt, er hat darüber hinaus auch
damit begonnen, das Vertrauen in Funktionsfähigkeit und politische Steuerbarkeit
moderner Vergesellschaftung zu untergraben.
Das erste prominente Opfer dieses Prozesses, der die Schranken der
Warengesellschaft sichtbar macht, war die Linke. Was natürlich einer gewissen
Ironie nicht entbehrt. Die scheinradikale Opposition, die letztlich nichts
anderes als die Avantgarde der warenförmigen ,,Modernisierung" selbst war,
verlor jeglichen Boden unter den Füßen. Diese Linke, aus der wir selber
hervorgegangen sind, von der wir uns kritisch abstießen, und deren letzte
Fähnlein uns nach Kräften ignorierten, überlebte den Untergang des glorreichen
"Realsozialismus" nicht; trotz aller früheren Kritik dieser
Gesellschaftsformation, die aber nie auf den Kern gezielt, sondern bloß die
westliche Variante der demokratisch-politizistischen Illusionen transportiert
hatte. Wo der Staat gewordene Glaube an die Macht der Politik die Segel
streichen muß, müssen in der Folge auch die westlichen linken Politikaster ihre
Paralyse eingestehen. Der Part der System-Opposition wird vakant, und so bietet
sich gesellschaftskritischen newcomern eine "Marktlücke".
Sie bietet sich umso mehr; als die im Grundsätzlichen bedingungslose
Kapitulation des überlieferten oppositionellen Denkens (oder; wo es von
Unentwegten weiterbetrieben wird, sein trauriges Versagen vor einer veränderten
Wirklichkeit) keineswegs vom Ende des Bedürfnisses nach einer radikalen Kritik
des Bestehenden kündet. Menschen, die sich nicht im Einverständnis mit dem
herrschenden status quo fühlen, sind keineswegs Mangelware. Dazu ist der Preis
offensichtlich zu hoch, den wir für die Fortexistenz der aberwitzigen
Verwertungsrationalität zu entrichten haben. Das nach dem Kladderadatsch des
"Realsozialismus" eilfertig verkündete "Ende der Geschichte", der "Endsieg" von
westlicher Marktwirtschaft und Demo-
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kratie entpuppt sich von Tag zu Tag mehr als der größte Flop aller Zeiten. Der
Westen ist offensichtlich weder dazu in der Lage, den Osten und Süden in seine
"One World" zu integrieren, noch seine eigenen internen Probleme einer Lösung
zuzuführen.
Während sich in den Metropolen nach dem defizitfinanzierten und spekulativen
Yuppie-Boom der 8oer Jahre nicht nur an den internationalen Börsen Ernüchterung
breitmacht, versinkt jenseits und diesseits der Landesgrenzen die abgekoppelte
Peripherie der Warengesellschaft in Desorganisation und Selbstzerfleischung. Die
Weltarbeitsgesellschaft hält ihre Tore geschlossen, und nur die Sumpfblüten des
entkoppelten Kredits sichern ihr einstweilen eine ebenso prekäre wie
neurasthenische Fortexistenz. In den Regionen, die von diesem geldförmigen
"Kommunismus" der Noch-Reichen ausgeschlossen werden, grassieren die
Bürgerkriege in einem nie dagewesenen Ausmaß. Das ehemalige Jugoslawien und die
ehemalige Sowjetunion sind naheliegende Extrembeispiele; aber selbst das Leben
zwischen Prenzlauer Berg, Hoyerswerda und dem schwäbischen Musterländle ist
mittlerweile nicht unbedingt von Toleranz und liberalem Bürgersinn geprägt. Die
entfesselte Warensubjektivität kommt in der allgemeinen Verteilungsschlacht zu
sich, und statt allgemeinem Frieden, konzertierter Aktion und blühendem
Wohlstand entpuppen sich Pogrom und Mafia als die adäquaten Formen, in denen die
Marktrationalität ihre weltumspannende Herrschaft vollendet. Kein "politisches"
Handlungskalkül gewohnten Zuschnitts kommt gegen diesen Trend an. Gegenüber der
unaufhaltsamen Selbstvernichtung der siegreichen westlichen Rationalität fühlt
sich der "citoyen" trotz allen Zivilitätsgesäusels zu Recht auf verlorenem
Posten. Mit den sich häufenden und zuspitzenden Krisenphänomen wächst aber auch
das Bedürfnis nach einer Theorie und Analyse, die in der Lage ist, einen
Schlüssel zum Verständnis und zur Kritik der realen Entwicklung zu liefern.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg des Buches "Der Kollaps der
Modernisierung" (2) von Robert Kurz vielleicht nicht mehr gar so sensationell.
Als notwen-
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(2) Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung- Vorn Zusammenbruch des
Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Das Buch erschien im Herbst 1991
in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek (Eichborn
Verlag, Frankfurt/Main). Herausgeberschaft und Verlag mögen manchen Zeitgenossen
Überraschung und Ärgernis sein, die in den alten Schützengräben sitzengeblieben
sind wie einige japanische Soldaten des 2. Weltkriegs und gar nicht mitbekommen
haben, daß dieser Krieg schon vorbei ist. Daß Offenheit für neue Ansätze von
Gesellschaftskritik und vorurteilsfreies Urteil nicht unbedingt bei den Resten
des alten Linksradikalismus zu finden sein werden, sondern zucrst bel
notorischcn Querdenkern aus den unterschiedlichsten Positionen, war zu vermuten.
Und es hat sich bestätigt. Vielleicht wird es in Zukunft noch mehr solche
Überraschungen geben, die den moralisch gedopten Antikapitalisten
Trampermannschen oder Ditfurtschen Zuschnitts den frommen Wunsch entlocken wird,
uns möge die Hand verdorren, die "falsche" Hände schüttelt.
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diges Pendant zum gewendeten Linksdemokratismus liegt eine neue, nicht mehr
arbeiterbewegte Kritik der bürgerlichen Form schlicht und einfach in der Luft.
Noch jedes linksakademische Traktätchen musste in den letzten Jahren präventiv
lauthals gegen imaginäre "Zusammenbruchsszenarien" polemisieren. Als Popanz und
Kinderschreck war also so etwas wie die KRISIS-Position bereits chimärisch
präsent, ehe wir überhaupt wahrgenommen wurden. Was, bevor es überhaupt
ausformuliert ist, bereits auf dem Index steht, muss sich aber nun einmal über
kurz oder lang einfach durchsetzen. In der wahrlich hochanständigen "Zeit"
orakelte ein Leitartikler vor einigen Monaten, der Marxismus wäre mittlerweile
so mega-out, dass seine Renaissance in irgendeiner Form so sicher sei wie das
Amen in der Kirche. Zweifellos hat er recht. Sobald das demokratische Über-ich
von Ereignissen verwirrt wird, die in seinem Drehbuch nicht vorgesehen sind, und
sobald es Schwäche zeigt, steht Mephisto urplötzlich auf der Bühne. Dem
Verbotenen und Verdrängten gehört allemal die Zukunft.
Wir wollen uns deswegen aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das
"Kollaps"-Buch und mittlerweile teilweise auch die KRISIS gefunden haben, darf
nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit den gängigen Diskursen
hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter Ansatz wie unserer, der
gerade scheinbar so Selbstverständliches wie "Arbeit", Geld und das tief
gestaffelte System ihrer Emanationen nicht mehr bloß "philosophisch" aufs Korn
nimmt, wird nicht an einem Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis
nach einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar
vehement, hat aber immense Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache.
Das haben wir nicht zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch
ein Bewußtsein, das kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit
Schritt, mit der sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst
recht hart damit, dessen Tiefendimension zu erfassen.
Schon "Der Kollaps der Modernisierung" gehört wahrscheinlich zu den Schriften,
die weit öfter gelesen als in ihrer Intention verstanden werden. Zwar wurde des
öfteren' (allerdings gerade nicht von den altlinken Wortführern) die analytische
"Brillanz" des Buches gefeiert, die gegen Warenform und "Arbeit" gerichteten
theoretischen Grundlagen aber, die sich natürlich gar nicht davon abtrennen
lassen,
10
sind dagegen selten so recht geheuer und durchsichtig. Die Wirkung ist
untergründig, der Bezug auf uns bleibt allemal partikular und in sich gebrochen.
Das ist so und kann wohl auch gar nicht anders sein.
Was sich bei der Rezeption des "Kollaps"-Buches bemerkbar macht, gilt erst recht
für die Schriftenreihe der KRISIS selber. Die Darstellung im Buch hat allemal
die empirische Evidenz aktueller Ereignisse auf ihrer Seite, für die Beiträge in
den Sammelbänden der KRISIS gilt das bisher nur ausnahmsweise. Sie bewegen sich
vornehmlich auf der grundsätz1ichen Ebene. Die theoretische Analyse und Kritik
der bürgerlichen, warengesellschaftlichen Formstruktur ist aber selten
unmittelbar empirisch zugänglich, und so kann sich beim Drüberlesen nur schwer
ein oberflächliches Einverständnis herstellen.
Glücklicherweise vielleicht.
Diese im theoretischen Gegenstand selber liegenden Schwierigkeiten werden
sicherlich noch durch den Charakter vieler unserer Texte verstärkt. Die neue
Kritik der Warengesellschaft alias "fundamentale Wertkritik" hat auch nach
sieben Jahren (mit fast noch einmal soviel an "Vorlauf" his zu den Grenzen des
alten marxistischen Universums) nichts Abgeschlossenes an sich. Sie befindet
sich nach wie vor im statu nascendi; vieles wirkt tastend, provisorisch,
unabgerundet und ist es schlechterdings auch. Und wird es vielleicht auch
bleiben, weil dies womöglich überhaupt den Charakter eines nicht mehr
warenförmig determinierten, nicht mehr abstrakt-universalistischen Denkens
ausmacht. Nicht nur die ersten Ausgaben unserer Schriftenreihe standen unter dem
Vorzeichen "Selbstverständigung" Die KRISIS repräsentiert his heute im besten
Sinne das, wofür die englische Sprache den Ausdruck "work in progess"
bereithält. Der weiter oben schon beschriebene "Domino-Effekt" unseres~
Theoriebildungsprozesses, wie ihn die KRISIS-Veröffentlichungen dokumentieren,
setzt sich weiterhin fort. Während einige Aufsätze mittlerweile auf relativ
gesichertem Terrain fortschreiten und/oder zu aktuellcn Ereignissen Bezüge
herstellen, bewegen sich die zentralen Beiträge nach wie vor in der Fallinie und
beschäftigen sich wesentlich mit dem Knacken von selhstverständ1ich geglaubten
Deutungsrastern.
Die demokratische Frage ist für uns einigermaßen gelöst, und zwar
negativ-aufhebend. Dafür erhebt sich nun u.a. das Problem, ob die grundsätz1iche
Kritik am soziologistischen Denken in seiner Konsequenz nicht impliziert, daß
der Fetischhegriff auch auf vorbürgerliche Gesellschaften angewendet werden muß.
In vorkapitalistischen Gesellschafteen kann ja wohl kaum die Rede davon sein,
daß dort selbstbewußte Subjekte ihren gesellschaftlichen Zusammenhang
beherrschen, vielmehr stehen den Menschen Produkte ihres eigenen Handelns
(Verwandtschaftssysteme, Religion) als nicht überschreitbare Fetisch-Gewalten
gegenüber. Folgt daraus nicht, daß die berühmte Sentenz aus dem Kommunistischen
Manifest, dass "alle
11
bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen" sei, ihrer
soziologistischen Hülle entkleidet in der neuen Fassung formuliert werden muß,
daß "alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Fetischverhätnissen" ist?
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