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Re: Gorz (was: [ox] Literaturtip)/Such-Tip



Stefan Merten schrieb:
-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----

Hi Benni und alle!

Yesterday Benni Baermann wrote:
Ich lese gerade "Arbeit zwischen Misere und Utopie" von Andre Gorz
(Edition zweite Moderne, Hg: Ulrich Beck, Suhrkamp, ISBN:
3-518-41017-2). Ich habs noch nicht ganz durch, aber soviel weiss
ich schon:

Vieles was ich dort lese, habe ich auch schon in den Diskussionen
hier angetroffen, nur ohne den engen technischen Bezug. Die
"GPL-Gesellschaft" nennt er "Multiaktivitaetsgesellschaft". Wobei
natuerlich nicht das selbe gemeint ist, aber es geht in eine
aehnliche Richtung. Ich denke also, dass das auch fuer die
Diskussion hier interessant sein koennte.

Ganz meiner Meinung.

Seit ein paar Wochen liegt bei mir die CONTRASTE-Ausgabe 04/00 rum, in
der Heinz Weinhausen unter der Überschrift

			    Sphärenklänge
		Zum Teilzeitsozialismus des André Gorz

einiges Interessantes geschrieben hat. Zitiert hat er die Bücher "Wege
ins Paradies" (1983), "Und jetzt wohin?" (1991) und "Abschied vom
Proletariat" (1980). Von wann ist das Buch, das du gerade liest?

Unter

	http://www.nadir.org/nadir/periodika/contraste/april-au.htm

ist der erste Teil des Artikels dokumentiert, den ich auch anhänge.

Ich frage Heinz Weinhausen mal, ob er uns die anderen beiden Teile
auch überläßt. Der eine beschäftigt sich in kritischer Weise mit dem
Arbeitsbegriff bei Gorz. Da dieser Teil sich mit meiner Kritik
weitgehend deckt, erspare ich mir vorerst mal meinen eigenen Senf.

Vielleicht hat ja auch sonst schon jemand von euch das Buch gelesen
und sagt mal seine Meinung dazu...

Das fände ich auch interessant. Wenn dazu jemensch einen brauchbaren
Link weiß, wäre ich sehr daran interessiert, ihn auf unsere Link-Seite
zu bringen (auf die ich übrigens immer mal wieder was dazu nehme -
auch gerne aus euren Mails).


						Mit li(e)bertären Grüßen
						Stefan

Der Artikel ist auf der krisis-homepage - http://www.magnet.at/krisis/ unter 
Texte, Weinhausen zu finden.
Ich lese auch gerade den neuen Gorz (bei suhrkamp erschienen,edition Moderne von 
Ulrich Beck, frz. 1997, dt. 2000, 32 DM) soweit ich beim ersten Querlesen sehe, 
ziemlich der alte, dennoch interessant. Nach dem Urlaub schreibe ich vielleicht 
etwas dazu, wenn es bis dahin nicht schon andere getan haben. Der Artikel von 
Heinz W. ist in Krisis 18 erschienen. Im übrigen lohnt es sich wirklich zu allen 
Diskussionen bei ot und ox auch andere Materialien aus den Heften 15 
"Postmarxismus und Arbeitsfetisch", 16/17 "Die Himmelfahrt des Geldes" (das 
beste, was es zu Krisenkapitalismus/Kasinokapitalismus gibt), 18 und 19 alle 
Artikel zu Aufhebungsbewegung/Antiökonomie,Antipolitik/ Dritter Sektor/Zeit ist 
Geld, usw.. Ich bin gerade dabei, Inhaltsverzeichnis zu erstellen, wichtiges ins 
Netz zu posten und reader zusammenzustellen. Das Editorial des vergriffenen 
Heftes 12, das gewissermaßen eine Zäsur der Entwicklung der Gruppe KRISIS 
darstellt, habe ich fertig und schicke ich anbei in 2 Teilen mit.

Ciao Uli 

Ulrichleicht t-online.de

Im folgenden der 1. Teil (6 von 11 S.) des Editorials 
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Krisis 12 (1992) 

Editorial 


Ein Bändchen yon Rossana Rossanda aus den siebziger Jahren trägt (zumindest in 
der deutschen Übersetzung) den schönen Titel "Dialektik von Kontinuität und 
Bruch". Damit ließe sich auch die Entwicklung der KRISIS ganz gut überschreiben. 
Mit der Ausarbeitung, dem Weitertreiben und Präzisieren des theoretischen 
Ansatzes hat sich dieser auch gründlich verändert. Da die KRISIS von 1992 an vom 
Horlemann-Verlag betreut wird und neue Leser zu erwarten sind, nehmen wir dies 
zum An1aß, ein wenig auf die Irrungen und Wirrungen der letzten sieben Jahre in 
unserer theoretischen Sub-Existenz zurückzublicken. Natürlich nicht mit der 
Illusion, eine auf Anhieb verständliche Darstellung geben zu können. Aber doch 
in der stillen Hoffnung, dass  alte und junge Neuankömmlinge neugierig gemacht 
werden auf jene seltsamen Vögel von "Marxisten, die schon keine mehr sind".

Als in der vormaligen "Marxistischen Kritik" Nr.1 anno 1986 der Aufsatz "Die 
Krise des Tauschwerts" erschien, war uns durchaus klar; daß dieser Beitrag eine 
grundsätzliche Wendung gegen den Hauptstrom aller bisherigen marxistischen 
Theoriebildung implizierte. Allerdings ahnten wir nicht einmal annähernd, was 
das in der Folge alles zu bedeuten hatte. Die manchen Oberen vielleicht etwas 
anmaßend klingende "fundamentale Wertkritik" war geboren, die werte Elternschaft 
lernte aber erst nach der Geburt, was für ein Gör sie da in die Welt gesetzt 
hatte.

Der in vielerlei Hinsicht für unsere Entwicklung bahnbrechende Aufsatz "Die 
Krise des Tauschwerts" etwa operierte - vollkommen naiv von unserem heutigen 
Standpunkt aus gesehen - mit einem positiven Bezug auf den guten alten 
Klassenkampf und unterstellte noch ganz brav-traditionell die Arbeiterklasse als 
revolutionäres Subjekt. Kritik der Warengesellschaft ("Wertkritik") und 
Klassenkampfdenken koexistierten hier noch friedlich. Wo aber die Keimzelle der 
bürgerlichen Gesellschaft, die Ware, zum zentralen Kritikgegenstand wird, kann 
der stolze Besitzer der Ware Arbeitskraft auf Dauer seinen Heiligenschein nicht 
behalten. Drei Jahre später wurde in dem für unseren damaligen Stand zentralen 
Beitrag "Der Klassenkampffetisch" (MK 7) die Konsequenz gezogen und jener 
sogenannte "Klassenstandpunkt", der zuvor noch als stille Voraussetzung gegolten 
hatte, zum expliziten Kritikgegenstand gemacht. Damit sahen wir uns plötzlich 
genauso weit vom nur noch folkloristisch strammen Arbeiterbewegungs-Marxismus 
entfernt wie die neuen "Realisten" - bloß in der genau entgegengesetzten 
Richtung.

5


Die Hinwendung zur Fetischismuskritik erzwang aber nicht nur den Bruch mit der 
Affirmation der "Arbeiterklasse", sie warf weitergehend das soziologistische 
Denken überhaupt über den Haufen. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhang der 
Menschen sich paradoxerweise zu etwas Dinglichem verkehrt und objektiviert, das 
den Individuen und ihrem Tun immer schon vorausgesetzt ist, dann läßt sich 
Wirklichkeit nicht länger in letzter Instanz aus dem bloßen Wechselspiel 
sozialer (Groß)subjekte erklären (vgl. "Brüderchen und Schwesterchen", KRISIS 
11). Der Blick richtet sich vielmehr auf die Konstitutionsbedingungen von 
Subjektivität, während die vertraute Dichotomie von blind hingenommener 
gesellschaftlicher Objektivität (Warenform) und handelnden Subjekten obsolet 
wird (vgl. "Das Ende des Pro1etariats als Anfang der Revolution" und "Die 
vergebliche Suche nach dem Unverdinglichten Rest", KRISIS 10).

Freilich konnte eine ernstgenommene Kritik der Warengesellschaft, die nicht bei 
der vagen Überschrift stehenbleibt, sich keineswegs auf die Kritik des kruden 
"Soziologismus" beschränken. Das Lieblings-Tummelfeld der linken Aktivisten, 
"die Politik", und ihr Lieblingsziel, "die (wahre) Demokratie", mussten ebenso 
in ihrer fetischistischen Konstitution beleuchtet werden. Schon die Aufsätze von 
Peter Klein über "Demokratie und alte Arbeiterbewegung" (MK 3-6) beginnen, in 
der Auseinandersetzung mit Lenin, mit einer energischen Absetzbewegung vom 
linken Politizismus (1). Einige Jahre später haben sich die dort erstmals 
publizierten Gedanken zu einer Kritik der politischen Form überhaupt und ihrer 
Grundkategorien (,,Freier Wille" und ,,Gleichheit) ausgewachsen 
("Demokratendämmerung", KRISIS 11). Wo die Ebene des Abstrakt-Allgemeinen 
(Staat, Politik) ins Blickfeld gerät, zieht die "Wertkritik" die Kritik der 
Demokratie nach sich. 

Gleichzeitig musste die Auseinandersetzung mit den scheinbar geläufigen und 
glatten, in Wahrheit aber positivistisch-definitorisch affirmierten und 
versteinerten Grundkategorien der ,,Politischen Ökonomie" wieder aufgenommen 
werden. Die Kritik der "abstrakten Arbeit" (vgl. "Abstrakte Arbeit und 
Sozialismus", MK 4), der "Substanz des Werts", setzte die Kritik des Tauschwerts 
fort, bildete aber keineswegs den Schlusspunkt. Wurde in jenem Text von Ende 
1987 noch die ,,Arbeit" als überhistorische, ontologische Gegebenheit behandelt 
und nur deren
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(1)	Soeben sind diese Aufsätze von Peter Klein gründlich überarbeitet als  
Buchpublikation der "Edition KRJSIS" unter dem Titel "Die Illusion von 1917" im 
Horlemann-Verlag erschienen. Gerade nach dem Ende des "Realsozialismus" dürfte 
diese Untersuchung nicht allein aus dokumentarischen Gründen interessant sein. 
Eine Überlegung, die uns zur Neuauflage veranlaßt hat.
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6


warenförmige Abstraktifizierung kritisiert, so verfiel zwei Jahre später auch 
schon die "Ontologie der Arbeit" als solche der kritischen Verdammnis: Nicht das 
Attribut ,,abstrakt" allein ist das Problem, sondern die ,,Substanz" namens 
,,Arbeit" selbst. Es geht nicht darum, die ,,Arbeit" von der Gewalt der 
Abstraktion zu befreien, sie ist vielmehr an ihr selber schon diese Gewalt der 
Abstraktion (vgl. "Die verlorene Ehre der Arbeit", KRISIS 10).

Die "Wertkritik" zerrt also die verschüttete Analyse der bürgerlichen Keimform 
ans Licht und macht dort weiter, wo der von der Arbeiterbewegung liegengelassene 
"esoterische" Marx aufgehört hat (was nebenbei auch bedeutet, daß nicht mehr von 
einer geschlossenen, "orthodox" bloß noch zu interpretierenden Marxschen Theorie 
ausgegangen werden kann). Sie macht die basale Fetisch-Konstitution des zur 
totalen, weltumspannenden Banalität gewordenen "Geldverdienens" als die 
unhaltbare Realabsurdität kenntlich, auf der das System negativer 
Vergesellschaftung in toto gründet. Weil sie unbescheiden auf den inneren 
Zusammenhang und aufs Ganze zielt, kann die negatorische Denkbewegung die 
säuberliche Trennung für sich seiender Sonderbereiche (Politik, Ökonomie, 
Psychologie, Privatheit, Erkenntnistheorie usw.) nicht selbstbescheiden 
akzeptieren. Es ist die Herrschaft der bürgerlichen Form, die all diese Grenzen 
zieht, und so wird die Kritik der Warenform als solcher auf Grund ihrer eigenen 
Dynamik zum grenzüberschreitenden Unternehmen.

Ein solches Programm läßt sich aber natürlich weder in einem Aufwasch besorgen, 
noch lassen sich seine nächsten Schritte ohne weiteres präjudizieren. Die 
Emanzipation vom etablierten bürgerlichen (und dem, wie sich herausgestellt hat, 
dazugehörigen marxistischen) Denkkosmos läuft stück- oder stoßweise. Was 
zunächst ausgeblendet blieb, rückt ins Licht, und die bisherigen Ergebnisse 
unserer Arbeit erscheinen in neuer Beleuchtung. Die Theoriebildung der KRISIS 
entwickelt sich als eine Art Domino-Effekt fort, der bis heute noch nicht beim 
letzten Stein angelangt ist. Eine gekippte Selbstverständlichkeit wirft die 
nächste um, und auf jeder Stufe finden sich dem jeweiligen alten Reflexionsstand 
verhaftete Anti-Kritiker, die die Autorenschaft der KRISIS der Blasphemie 
bezichtigen, oder sich ernstlich Sorgen um unsere geistige Gesundheit machen. 
Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

In den vergangenen sieben Jahren hat sich aber nicht nur unser theoretischer 
Ansatz präzisiert und radikalisiert, parallell dazu hat sich die 
gesellschaftliche Großwetterlage gründlich verändert, und damit auch die 
Rahmenbedingungen, in denen sich der Theoriebildungsprozeß vollzieht.

1986 schrieben wir mit der Hinwendung zu einer neuen Kritik der bürgerlichen 
Basiskategorien gegen den Zeitgeist an und lagen völlig quer zu den 
Fragestellungen,

7
	

die in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte und im linken Diskurs en vogue 
waren. Im Editorial der ersten Ausgabe war realistischerweise von den "aktuell 
miserablen Aussichten unseres Projekts" die Rede, und unsere theoretische Arbeit 
fand denn auch tatsächlich geraume Zeit tief unten in den Katakomben statt, 
unsichtbar und unentdeckt von einem größeren Publikum, gleich weit entfernt vom 
akademischen wie vom politischen Betrieb.

Drei Jahre nach dem Epochenjahr 1989 bietet sich für unser Projekt eine weit 
erfreulichere Perspektive, wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck angesichts eines 
global wachsenden Elends zu gebrauchen. während wir in der theoretischen 
Mönchszelle damit  beschäftigt waren1 das warenproduzierende Weltsystem und die 
von ihm hervorgetriebenen Denkraster zu kritisieren, war der prozessierende 
Widerspruch so freundlich, diesem Unterfangen praktisch in die Hände zu 
arbeiten. Er hat nicht nur die vertrauten politischen und theoretischen 
Konstellationen gründlich durcheinandergewirbelt, er hat darüber hinaus auch 
damit begonnen, das Vertrauen in Funktionsfähigkeit und politische Steuerbarkeit 
moderner Vergesellschaftung zu untergraben.

Das erste prominente Opfer dieses Prozesses, der die Schranken der 
Warengesellschaft sichtbar macht, war die Linke. Was natürlich einer gewissen 
Ironie nicht entbehrt. Die scheinradikale Opposition, die letztlich nichts 
anderes als die Avantgarde der warenförmigen ,,Modernisierung" selbst war, 
verlor jeglichen Boden unter den Füßen. Diese Linke, aus der wir selber 
hervorgegangen sind, von der wir uns kritisch abstießen, und deren letzte 
Fähnlein uns nach Kräften ignorierten, überlebte den Untergang des glorreichen 
"Realsozialismus" nicht; trotz aller früheren Kritik dieser 
Gesellschaftsformation, die aber nie auf den Kern gezielt, sondern bloß die 
westliche Variante der demokratisch-politizistischen Illusionen transportiert 
hatte. Wo der Staat gewordene Glaube an die Macht der Politik die Segel 
streichen muß, müssen in der Folge auch die westlichen linken Politikaster ihre 
Paralyse eingestehen. Der Part der System-Opposition wird vakant, und so bietet 
sich gesellschaftskritischen newcomern eine "Marktlücke".

Sie bietet sich umso mehr; als die im Grundsätzlichen bedingungslose 
Kapitulation des überlieferten oppositionellen Denkens (oder; wo es von 
Unentwegten weiterbetrieben wird, sein trauriges Versagen vor einer veränderten 
Wirklichkeit) keineswegs vom Ende des Bedürfnisses nach einer radikalen Kritik 
des Bestehenden kündet. Menschen, die sich nicht im Einverständnis mit dem 
herrschenden status quo fühlen, sind keineswegs Mangelware. Dazu ist der Preis 
offensichtlich zu hoch, den wir für die Fortexistenz der aberwitzigen 
Verwertungsrationalität zu entrichten haben. Das nach dem Kladderadatsch des 
"Realsozialismus" eilfertig verkündete "Ende der Geschichte", der "Endsieg" von 
westlicher Marktwirtschaft und Demo-

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kratie entpuppt sich von Tag zu Tag mehr als der größte Flop aller Zeiten. Der 
Westen ist offensichtlich weder dazu in der Lage, den Osten und Süden in seine 
"One World" zu integrieren, noch seine eigenen internen Probleme einer Lösung 
zuzuführen.

Während sich in den Metropolen nach dem defizitfinanzierten und spekulativen 
Yuppie-Boom der 8oer Jahre nicht nur an den internationalen Börsen Ernüchterung 
breitmacht, versinkt jenseits und diesseits der Landesgrenzen die abgekoppelte 
Peripherie der Warengesellschaft in Desorganisation und Selbstzerfleischung. Die 
Weltarbeitsgesellschaft hält ihre Tore geschlossen, und nur die Sumpfblüten des 
entkoppelten Kredits sichern ihr einstweilen eine ebenso prekäre wie 
neurasthenische Fortexistenz. In den Regionen, die von diesem geldförmigen  
"Kommunismus" der Noch-Reichen ausgeschlossen werden, grassieren die 
Bürgerkriege in einem nie dagewesenen Ausmaß. Das ehemalige Jugoslawien und die 
ehemalige Sowjetunion sind naheliegende Extrembeispiele; aber selbst das Leben 
zwischen Prenzlauer Berg, Hoyerswerda und dem schwäbischen Musterländle ist 
mittlerweile nicht unbedingt von Toleranz und liberalem Bürgersinn geprägt. Die 
entfesselte Warensubjektivität kommt in der allgemeinen Verteilungsschlacht zu 
sich, und statt allgemeinem Frieden, konzertierter Aktion und blühendem 
Wohlstand entpuppen sich Pogrom und Mafia als die adäquaten Formen, in denen die 
Marktrationalität ihre weltumspannende Herrschaft vollendet. Kein "politisches" 
Handlungskalkül gewohnten Zuschnitts kommt gegen diesen Trend an. Gegenüber der 
unaufhaltsamen Selbstvernichtung der siegreichen westlichen Rationalität fühlt 
sich der "citoyen" trotz allen Zivilitätsgesäusels zu Recht auf verlorenem 
Posten. Mit den sich häufenden und zuspitzenden Krisenphänomen wächst aber auch 
das Bedürfnis nach einer Theorie und Analyse, die in der Lage ist, einen 
Schlüssel zum Verständnis und zur Kritik der realen Entwicklung zu liefern.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg des Buches "Der Kollaps der 
Modernisierung" (2) von Robert Kurz vielleicht nicht mehr gar so sensationell. 
Als notwen-
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(2)	Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung- Vorn Zusammenbruch des 
Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Das Buch erschien im Herbst 1991 
in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek (Eichborn 
Verlag, Frankfurt/Main). Herausgeberschaft und Verlag mögen manchen Zeitgenossen 
Überraschung und Ärgernis sein, die in den alten Schützengräben sitzengeblieben 
sind wie einige japanische Soldaten des 2. Weltkriegs und gar nicht mitbekommen 
haben, daß dieser Krieg schon vorbei ist. Daß Offenheit für neue Ansätze von 
Gesellschaftskritik und vorurteilsfreies Urteil nicht unbedingt bei den Resten 
des alten Linksradikalismus zu finden sein werden, sondern zucrst bel 
notorischcn Querdenkern aus den unterschiedlichsten Positionen, war zu vermuten. 
Und es hat sich bestätigt. Vielleicht wird es in Zukunft noch mehr solche 
Überraschungen geben, die den moralisch gedopten Antikapitalisten 
Trampermannschen oder Ditfurtschen Zuschnitts den frommen Wunsch entlocken wird, 
uns möge die Hand verdorren, die "falsche" Hände schüttelt. 
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diges Pendant zum gewendeten Linksdemokratismus liegt eine neue, nicht mehr 
arbeiterbewegte Kritik der bürgerlichen Form schlicht und einfach in der Luft. 
Noch jedes linksakademische Traktätchen musste in den letzten Jahren präventiv 
lauthals gegen imaginäre "Zusammenbruchsszenarien" polemisieren. Als Popanz und 
Kinderschreck war also so etwas wie die KRISIS-Position bereits chimärisch 
präsent, ehe wir überhaupt wahrgenommen wurden. Was, bevor es überhaupt 
ausformuliert ist, bereits auf dem Index steht, muss sich aber nun einmal über 
kurz oder lang einfach durchsetzen. In der wahrlich hochanständigen "Zeit" 
orakelte ein Leitartikler vor einigen Monaten, der Marxismus wäre mittlerweile 
so mega-out, dass seine Renaissance in irgendeiner Form so sicher sei wie das 
Amen in der Kirche. Zweifellos hat er recht. Sobald das demokratische Über-ich 
von Ereignissen verwirrt wird, die in seinem Drehbuch nicht vorgesehen sind, und 
sobald es Schwäche zeigt, steht Mephisto urplötzlich auf der Bühne. Dem 
Verbotenen und Verdrängten gehört allemal die Zukunft. 

Wir wollen uns deswegen aber nichts in die Tasche lügen. Das Echo, das etwa das 
"Kollaps"-Buch und mittlerweile teilweise auch die KRISIS gefunden haben, darf 
nicht über die Verständigungsschwierigkeiten mit den gängigen Diskursen 
hinwegtäuschen. Ein derart sperriger und ungewohnter Ansatz wie unserer, der 
gerade scheinbar so Selbstverständliches wie "Arbeit", Geld und das tief 
gestaffelte System ihrer Emanationen nicht mehr bloß "philosophisch" aufs Korn 
nimmt, wird nicht an einem Tag verdaut und diskursiv angeeignet. Das Bedürfnis 
nach einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit ist zwar 
vehement, hat aber immense Schwierigkeiten mit Orientierung und Begriffssprache. 
Das haben wir nicht zuletzt und in unserem eigenen Denken erleben müssen. Auch 
ein Bewußtsein, das kritisch sein will, hält nur schwer mit der Geschwindigkeit 
Schritt, mit der sich heute der Epochenbruch vollzieht, und es tut sich erst 
recht hart damit, dessen Tiefendimension zu erfassen. 

Schon "Der Kollaps der Modernisierung" gehört wahrscheinlich zu den Schriften, 
die weit öfter gelesen als in ihrer Intention verstanden werden. Zwar wurde des 
öfteren' (allerdings gerade nicht von den altlinken Wortführern) die analytische 
"Brillanz" des Buches gefeiert, die gegen Warenform und "Arbeit" gerichteten 
theoretischen Grundlagen aber, die sich natürlich gar nicht davon abtrennen 
lassen,

10


sind dagegen selten so recht geheuer und durchsichtig. Die Wirkung ist 
untergründig, der Bezug auf uns bleibt allemal partikular und in sich gebrochen. 
Das ist so und kann wohl auch gar nicht anders sein.

Was sich bei der Rezeption des "Kollaps"-Buches bemerkbar macht, gilt erst recht 
für die Schriftenreihe der KRISIS selber. Die Darstellung im Buch hat allemal 
die empirische Evidenz aktueller Ereignisse auf ihrer Seite, für die Beiträge in 
den Sammelbänden der KRISIS gilt das bisher nur ausnahmsweise. Sie bewegen sich 
vornehmlich auf der grundsätz1ichen Ebene. Die theoretische Analyse und Kritik 
der bürgerlichen, warengesellschaftlichen Formstruktur ist aber selten 
unmittelbar empirisch zugänglich, und so kann sich beim Drüberlesen nur schwer 
ein oberflächliches Einverständnis herstellen. 
Glücklicherweise vielleicht.

Diese im theoretischen Gegenstand selber liegenden Schwierigkeiten werden 
sicherlich noch durch den Charakter vieler unserer Texte verstärkt. Die neue 
Kritik der Warengesellschaft alias "fundamentale Wertkritik" hat auch nach 
sieben Jahren (mit fast noch einmal soviel an "Vorlauf" his zu den Grenzen des 
alten marxistischen Universums) nichts Abgeschlossenes an sich. Sie befindet 
sich nach wie vor im statu nascendi; vieles wirkt tastend, provisorisch, 
unabgerundet und ist es schlechterdings auch. Und wird es vielleicht auch 
bleiben, weil dies womöglich überhaupt den Charakter eines nicht mehr 
warenförmig determinierten, nicht mehr abstrakt-universalistischen Denkens 
ausmacht. Nicht nur die ersten Ausgaben unserer Schriftenreihe standen unter dem 
Vorzeichen "Selbstverständigung" Die KRISIS repräsentiert his heute im besten 
Sinne das, wofür die englische Sprache den Ausdruck "work in progess" 
bereithält. Der weiter oben schon beschriebene "Domino-Effekt" unseres~ 
Theoriebildungsprozesses, wie ihn die KRISIS-Veröffentlichungen dokumentieren, 
setzt sich weiterhin fort. Während einige Aufsätze mittlerweile auf relativ 
gesichertem Terrain fortschreiten und/oder zu aktuellcn Ereignissen Bezüge 
herstellen, bewegen sich die zentralen Beiträge nach wie vor in der Fallinie und 
beschäftigen sich wesentlich mit dem Knacken von selhstverständ1ich geglaubten 
Deutungsrastern.

Die demokratische Frage ist für uns einigermaßen gelöst, und zwar 
negativ-aufhebend. Dafür erhebt sich nun u.a. das Problem, ob die grundsätz1iche 
Kritik am soziologistischen Denken in seiner Konsequenz nicht impliziert, daß 
der Fetischhegriff auch auf vorbürgerliche Gesellschaften angewendet werden muß. 
In vorkapitalistischen Gesellschafteen kann ja wohl kaum die Rede davon sein, 
daß dort selbstbewußte Subjekte ihren gesellschaftlichen Zusammenhang 
beherrschen, vielmehr stehen den Menschen Produkte ihres eigenen Handelns 
(Verwandtschaftssysteme, Religion) als nicht überschreitbare Fetisch-Gewalten 
gegenüber. Folgt daraus nicht, daß die berühmte Sentenz aus dem Kommunistischen 
Manifest, dass "alle

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bisherige Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen" sei, ihrer 
soziologistischen Hülle entkleidet in der neuen Fassung formuliert werden muß, 
daß "alle bisherige Geschichte eine Geschichte von Fetischverhätnissen" ist?



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