Message 00460 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT00406 Message: 21/23 L2 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: Unfähigkeit zur Selbstentfaltung (war: [ox] Paper Linux-ist-wertlos)



Hallo,

nein, Steffen, Schlagen liegt mir nicht. Aber meinen Senf möchte ich
doch noch dazugeben, auch wenn ich ein paar Tage offline war und es
deshalb vielleicht etwas spät kommt. Aber das von Dir angesprochene
Thema ist immer hochaktuell und brisant. Es ist vielleicht die
wichtigste Frage.
Vielleicht mal was kurzes Persönliches:
Als 14-jährige war ich total alleine, weil ich auch die Erfahrung
machte, daß ich weit und breit die Einzigste war, die mehr vom Leben als
Geld, Mann, Auto und Urlaubsreisen wollte. Heute weiß ich, daß ich _mich
selbstentfalten_ wollte...
Damals haette ich Dir sicher uneingeschraenkt zugestimmt. 
Gluecklicherweise fand ich auf meinen einsamen Wegen doch immer wieder
Leute, die so waren wie ich. Und wir waren nicht etwa _Eliten_, sondern
zuerst einfache Lehrlinge in der Landwirtschaft, Amateurastronomen -
erst spaeter Studenten und Studierte. 
Und ich lernte zu verstehen, dass in den meisten anderen Leuten auch mal
so was gesteckt hat, dass es aber inzwischen verdraengt wurde.
Inzwischen haben wir selber eine Tochter und spaetestens seit den ersten
Tagen mit ihr weiss ich, dass die Kinder neugierig, aktiv, nach
Selbstentfaltung draengend geboren werden und nicht als die spaeteren
Coach-Potatoes. 

Selbstentfaltung: Die unbeschränkte Entfaltung der eigenen
Individualität, genau das zu tun, was ich wirklich tun will, ist nur
außerhalb der Verwertungs-Maschine möglich.

Der Großteil der Menschen ist *überhaupt nicht* wirklich fähig, ohne
äußeren Zwang etwas nützliches zustande zu bringen, oder etwas
sinnvolles aus seinem Leben zu machen, sich "frei zu entfalten".

Eben. Der Großteil lebt ja auch INNERHALB dieser Verwertungs-Maschine
und es ist zugegebenermaßen verdammt schwer, sich wenigstens geistig von
ihr zu befreien! 
Allerdings: Wer gibt vor, was _nutzlich_ und was _sinnvoll_ sei? Schon
die verschiedenen Aussteiger-Typen, die _sinnlosen_ Party-Raver usw.
sind fuer mich gewisse Hinweise, dass da was zum Ausbruch draengt,
brodelt, sich nicht mehr zufrieden gibt... Das ist erst mal ihre Form
der Entfaltung, ueber die mir kein (negatives) Urteil zusteht. 

Dies wird immer einer Elite vorbehalten sein und es wird immer
irgendjemanden aus dieser kleineren elitären Menge geben, der sich
die Unfähigkeit zur eigenen Meinung und Selbstentfaltung der anderen
zunutze machen wird, um seine eigene Selbstentfaltung zu betreiben.

Ja, vor einigen Jahrhunderten und Jahrzehnten hieß dieses Argument: "Es
wird immer Sklaven geben, denn sie werden als Sklaven geboren, oder
verdienen es nicht besser." 

Ob das nun jemand ist, der eine Firma aufmacht und "Arbeitnehmer"
...
Eine Firma, zum Beispiel, aus lauter frei arbeitenden, sich selbst
...

Diese Beispiele bestätigen das kritisierte Argument: INNERHALB dieser
Gesellschaft wird das tatsächlich immer so laufen, wie Du das
beschreibst. Aber schon, daß Du das beschreiben kannst, zeigt, daß Du
gedanklich eine gewisse Distanz dazu hast. Im tiefsten Innern findest Du
das nicht gut (oder?) - also gehörst Du schon zu jenen, die darüber
hinaus sind.

Ich denke, der Artikel paßt in diese Gruppe rein, da ihr inzwischen
bei allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen seid und (wie jemand
anderes auch schon feststellte) zum Teil ziemlich utopische/abgehobene
Anschauungen entfaltet, die ich hiermit in Frage stelle.

Stelle nur. Durch Deine Frage wurde z.B. wieder mal deutlich, daß das
Wichtigste tatsächlich nicht die technischen Elemente sind, sondern das
Wichtigste die Menschen sind für die Zukunft. Manchmal wird das bei
aller Technikbegeisterung vergessen. 
Genau so, wie alle neue Technik klein und unscheinbar beginnt, entfalten
sich aber auch die menschlichen neuen Möglichkeiten aus kleineren Keimen
heraus. Die fallen einem nicht ins Auge, die offiziellen Medien werden
sie eher verschweigen, überbrüllen, verdecken. Außerhalb aller
abgehobenen Theorie kannst Du sie aber auch jeden Tag finden: in den
verschmitzten Blicken des Kindes nebenan, dem vagen Versuch, Neues auf
neue Weise zu tun (wie Linux, oder auch: Tauschringe in der
Nachbarschaft,...), aber auch in der eigenen Enttäuschung bzw. der Angst
vor neuen Enttäuschungen steckt der Keim der Unzufriedenheit mit dem
Vorhandenen, der noch auf der Suche ist...

Ahoi und beste Fast-Ostergrüße 
von Annette
 
(Pardon für den vielleicht zu psychologisierenden Ton, aber das
Menschliche laesst sich nicht immer kalt-analytisch abhandeln...)

*****************************************
*   Annette Schlemm			*
*   URL: http://www.thur.de/philo	*
*****************************************



---------------------
http://www.oekonux.de/



[English translation]
Thread: oxdeT00406 Message: 21/23 L2 [In index]
Message 00460 [Homepage] [Navigation]