Arme Schlucker (was: Re: [ox] Drittes Viertel Paper GPL-Gesellschaft)
- From: Stefan Merten <smerten dialup.nacamar.de>
- Date: Tue, 11 Apr 2000 17:35:01 +0200
Hi Christoph!
Wieder mit Erlaubnis aus einer privaten Mail zitiert. Ich habe erst
kurz überlegt, ob das vielleicht zu off-topic ist, aber da es um
Entwicklungperspektiven des Kapitalismus - oder eben nicht - geht,
doch auf die Liste.
9 days ago Christoph Reuss wrote:
Du schriebst:
20 days ago Christoph Reuss wrote:
Heute sind zwar neue Waren weniger arbeitsintensiv, aber im Vordergrund
stehen neue **(Export-)Märkte** -- Stichwort China und EU-Osterweiterung !
Dort ist doch ein enormes "Wachstumspotential" an arbeitsintensiven Waren
wie z.B. Autos, Strassen, Kraftwerke, Kühlschränke, Kleider, Zigaretten etc.
etc. ... Gebilde wie EU und WTO werden ja in erster Linie zu diesem Zweck
aufgebaut, um dieses Potential auszuschöpfen (koste es die Umwelt was es
wolle), und so den klassischen Manchester-Kapitalismus zu perpetuieren
und die "Grenzen des Wachstums" zu überschreiten. 8-(
Da würde ich aus zwei Gründen widersprechen.
Einerseits sind diese tollen neuen Exportmärkte bei genauerem Hinsehen
doch völlig uninteressant. Da hausen doch nur arme Schlucker, die sich
unsere tollen Waren in ihrer Mehrheit gar nicht leisten können.
Viel Geld lässt sich mit Kraftwerken (3-Schluchten-Staudamm) und Infrastruktur
(Transrapid für China, Strassen etc.) verdienen -- die bezahlt der Staat (mit
Rohstoffen), egal wie arm die breite Masse der Schlucker sind.
Das ist zwar wahr, aber richtig toll ist das nicht. Bei solchen
Projekten verdienen ja vor allem wenige große Firmen. Das erreicht
also keine volkswirtschaftlich relevanten Dimensionen wie z.B. die
Versorgung breiter Schichten mit Autos oder auch nur Küchentechnik.
Wenn dann die armen Staaten durch Erhöhung der Verschuldung zahlen,
dann vergrößert das ja zunächst nur die Schuldenkrise. Wenn sie mit
Rohstoffen zahlen ist das nicht sogar dasselbe? Die können sie ja dann
nicht mehr für anderes verkaufen.
Eine
kleine reich gewordene Oberschicht beteiligt sich am westlichen
Luxuskonsum - aber sonst? Das gilt vor allem für Osteuropa / Rußland;
China könnte da ein bißchen anders sein.
In beiden Fällen macht's die riesige Anzahl der armen Schlucker aus...
Allein China hat 3mal mehr "Konsumenten" als die ganze EU.
Ja, aber 1E9 mal Null ist immer noch Null... Und gerade in Osteuropa /
Rußland ist der Multiplikator praktisch Null.
Und die Massenkaufkraft könnte ja nur durch eine
(Re-)Industrialisierung kommen, die garantiert nicht kommen wird -
obwohl die kulturell-technischen Voraussetzungen viel besser sind als
für die III. Welt.
Warum sollte die (Re-)Industrialisierung garantiert nicht kommen ?
Wenn in den ehemaligen Ostblockstaaten eine Industrialisierung zu den
vor 10 Jahren eingeführten Weltmarktbedingungen denkbar wäre, dann
gäbe es die jetzt - das hätte der Markt schon gerichtet.
Da sie es aber nichts nennenswert gibt, ist auch nicht damit zu
rechnen. Schließlich müßten sie diese (Re-)Industrialisierung gegen
den Weltmarkt aufbauen - und das ging schon in der DDR mit einer
gewissen Subventionierung schief. Mir ist jedenfalls kein einziger
Fall bekannt, in dem ein Staat, der nicht in der historisch ersten
Gruppe der Industrieländer gewesen ist, ohne Entwicklungsdiktatur
und/oder Abschottung vom Weltmarkt eine nachholende Industrialisierung
hinbekommen hätte. Vielleicht Japan - aber auch die hatten ihre
Schutzmechanismen.
Und das irgendein Staat sich noch gegen die völlige Öffnung zum
Weltmarkt stemmen kann, glaubt wohl keiner mehr, der sich auch nur
kurz mit IWF (und seinem militärischen Arm) befaßt hat.
Bemerkenswert auch, daß dies in Staaten geschieht, die schon stark
industrialisiert waren und also eine industrielle Kultur und
entsprechende massenhafte Ausbildung von Fachkräften verfügten. Da ist
einfach alles weggebrochen. Das macht die Aussichten für die Länder
der III. Welt natürlich völlig aussichtslos :-( .
Mit li(e)bertären Grüßen
Stefan
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