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Message 00365 [Homepage] [Navigation]
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[chox] Aufgaben von Kritik



Aufgaben von Kritik in der fundamentalen Krise

Das folgende Referat gliedert sich in 3 Teile:

1. Was ist Kritik, was soll Kritik
2. Perspektive einer befreiten Gesellschaft
3. Anknüpfungspunkte einer möglichen gesellschaftlichen Praxis 



1. Was ist Kritik, was soll Kritik

Oft ist zu hören, dass alles politisch sei, dass man sozusagen gar kein
unpolitisches Leben führen könne, weil der Mensch in den Verhältnissen und auch
in der Form Politik gefangen wäre.
Wir denken dass ist Schwachfug. Wäre das der Fall, wäre Gesellschaftskritik
tot und man könnte gar kein Unbehagen an der Gesellschaft ausdrücken. Man
könnte auch kein kritisches Bewusstsein entwickeln und äußern.
Kritik ist, den (seinen) Gegenstand (der Analyse) theoretisch und praktisch
unmöglich zu machen. Man kommt dabei nicht drum herum, die kapitalistischen
Verhältnisse zu analysieren, so wie es Karl Marx getan hat. Im Unterschied zur
wissenschaftlichen Erkenntnis ist kritische Gesellschaftswissenschaft mit
dem Ziel verbunden, die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden. Marx
vernichtet im Kapital Band I bis III den Gegenstand der Politischen Ökonomie durch
seine Erkenntnis, dass die kapitalistische Produktionsweise an ihren eigenen
Gesetzen scheitern wird. Entgegen den Vorstellungen einer
„natürlichen“ kapitalistischen Wirtschaftsordnung deontologisiert er die
warenproduzierende Gesellschaft und betreibt damit Ideologiekritik.
Kritische Gesellschaftsanalyse auf Basis von Ökonomiekritik kommt
notwendigerweise zu der Erkenntnis, dass sich das warenproduzierende System aufgrund
seiner inneren Widersprüche in seiner fundamentalen Krise befindet. Wir stellen
uns die heutige Situation metaphorisch ähnlich der eines sinkenden Schiffes
vor: das warenproduzierende Patriarchat macht sich nach eigenen Kriterien
„unrentabel“ (R. Kurz) und somit unmöglich. Kritik denkt seine Logik
weiter und zeigt diese zu Ende gedacht auf, lässt ihren Gegenstand also
gegen den Baum laufen, im Fall des Schiffes: sinken.
Menschen können ihre Reproduktion nicht mehr sichern, Ideologien wie
Antisemitismus und Rassismus greifen verstärkt und aggressiv um sich,
Barbarisierungstendenzen machen sich breit – wenn Menschen unter den Bedingungen
kapitalistischer Vergesellschaftung um ihr Überleben kämpfen müssen, kann man
nicht mehr genau sagen, welcher Mittel sie sich bedienen. Wir haben, entgegen
einiger Vorwürfe gegen uns, Angst vor solchen Situationen. Wenn wir Nachrichten
sehen, Zeitung lesen, Menschen immer sinnlosere Dinge tun oder wir immer
weniger Kohle zur Verfügung haben, sehen wir das tagespolitische Geschehen in
genau diesem Kontext (das ist das was wir unter Krisenbewusstsein verstehen).
In einer solchen Situation kann man sich nur noch (Vorsicht, Witz!)
hemmungslos besaufen, oder anfangen, ein neues, seetüchtiges Schiff zu bauen. Es
bleiben nicht viele Alternativen, denn die „finale Krise richtet nichts,
sie richtet nur hin“ (Franz Schandl). Aufgabe von Kritik ist nicht nur
die Analyse auf der theoretischen Ebene und das vernichtende Urteil über die
herrschende Gesellschaftsordnung, sondern auch eine emanzipatorische Praxis zu
entwickeln.
„Von einer emanzipatorischen Praxis ist zu sprechen, wenn es gelingt,
Menschen gegen ihre Charaktermasken zu mobilisieren, das heißt die innere
Front der Staatsbürger, Arbeiter, Wähler, Unternehmer, Rechtspersonen, Käufer,
Verkäufer, Konsumenten, etc. aufzubrechen und den Panzer des falschen Ich zu
sprengen (...). Transvolution beginnt, wo Subjekte gegen ihre
Subjekthaftigkeit rebellieren (...), sich selber nicht mehr mit ihren objektiven Rollen
identifizieren, sondern versuchen, sich von diesen ideell, aber auch reell
abzusetzen. Sicher gibt es keinen Knopf, den Automaten auszuschalten, aber schon der
bewusste Widerstand gegen seinen Ablauf sollte Motivation sein.“
(Schandl, „Der postmoderne Kreuzzug“)
Kritik kann nicht warten, bis das Schiff untergeht, um dann den Ertrinkenden
„mal was zu erklären“, sondern muss dazu anstossen, ein neues
seetüchtiges Schiff zu entwickeln. Sie muss also die Menschen befähigen, sich
von den Fetischverhältnissen und von den Formen, in die sie gepresst sind zu
befreien. Es muss sie ankotzen, Männer, Frauen, Schuster oder Fischer zu sein,
nur weil sie schustern oder fischen wollen.



2. Perspektive einer befreiten Gesellschaft

Als einzige und notwendige Perspektive bleibt uns die Überwindung der
herrschenden Verhältnisse hin zu einer „befreiten Gesellschaft“. Diese
defninieren wir nach Marx als „Ende der Vorgeschichte der
Menschheit“, weil dann erst die Menschheit nicht mehr in Fetischverhältnissen
verhaftet ist und anfangen kann, ihre Geschichte selbst zu schreiben. Sie (die
befreite Gesellschaft) ist keine Utopie, sondern negativ aus dem Bestehenden
entwickelbar. Wir leben heute in der Phase der fundamentalen Krise des
Kapitalismus – und anders, als zu Marxens Zeiten, dem Entwürfe einer besseren
Welt als suspekt erscheinen mochten, wird das Aufzeigen einer Perspketive
jenseits von Markt und Staat heute direkt unsere Aufgabe sein. Ein Bilderverbot
halten wir für fatal, denn eine kommunistische Gesellschaft fällt nicht vom
Himmel, läßt sich also nicht mit einem Fingerschnipp herbeizaubern, sondern kann
sich nur im Bewußtsein der Menschen entwickeln und und durch deren Handeln
realisieren. Die befreite Gesellschaft ist kein Ding, über das sich nichts
aussagen läßt – aus der Negation des Bestehnden läßt sie sich umschreiben
als „Verein freier Individuen“ (R. Kurz), als ein weltweiter
freiwilliger Zusammenschluß von Menschen, die die Befriedigung ihrer Bedürfnisse
selber gestalten, und zwar nicht über Geld vermittelt und nicht als Mann und
Frau. Fernab von Rationalität, die im kantschen Sinne im krassen Kontrast zu
Sinnlichkeit steht, muss eine „sinnliche Vernunft“ im Umgang
untereinander und im Umgang mit den natürlichen Ressourcen entwickelt werden.
Gesellschaftliche Emanzipation muss sich auch vom Subjekt befreien. Subjekt
sein heisst, für jemand anderes Objekt zu sein, man ist Subjekt stets nur im
Verhältnis zu einem Objekt - ob dieses Objekt nun eine andere Person, oder
natürliche Ressourcen sind. Solange die Subjekt-Objekt bestehen bleibt,
bestehen auch Herrschaft und Untersdrückung. Oder anders: unter Kommunismus
verstehen wir, Subjekt und Objekt zu überwinden, als notwendigen Bruch mit den
fetischistischen Verhältnissen. Das Ende des Subjekts ist der Beginn des
selbstbestimmten Individuums. Es nützt nichts, in der finalen Krise das Subjekt
hochzuhalten, man kann sich als bürgerliches Subjekt in der Krise nicht zurück
halten, tickt aus und dreht durch. In der bürgerlichen Gesellschaft werden die
Menschen zugerichtet und müssen sich nach gesellschaftlichen Normen und Regeln
unter Kontrolle halten, können das aber nicht, wenn diese bürgerliche
Gesellschaft selbst zusammen bricht. Kontrolle und Chaos bilden die beiden Pole, die
am bürgerlichen Subjekt zerren.
Gesellschaftliche Befreiung kann nur als soziale und nicht politische
Revolution erfolgen. Die Oktoberrevolution 1917 in Russland und die nachfolgenden
politischen Umwälzungsprozesse stellten nur die Machtfrage und nicht die
Systemfrage. Soziale Revolution ändert die Gesellschaft und die Beziehungen der
Menschen untereinander. Sie heisst Kommunismus, der „kein Zustand [ist],
sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“
(Dt. Ideoloie, Kalle und Freddy) Sie ist ein langer Denk- und Lernprozess und
ein schrittweises Ausbrechen aus den Verhältnissen.



3. Anknüpfungspunkte einer möglichen gesellschaftlichen Praxis

Ich komme zu den Anknüpfungspunkten einer möglichen (und notwendigen!)
gesellschaftlichen Praxis. Komunistische Kritik und damit emanzipatorische Praxis
muß auf allen Ebenen ansetzen, auf denen das warenproduzierende Patriarchat
in seine fundamentale Krise gerät: auf der Ebene der gesellschaftlichen
Reproduktion, auf der Ebene des Mensch-Natur-Verhältnisses und der Ebene von
Produktion und Arbeit. An diesen gesellschaftlichen Konfliktlinien gilt es zu
intervenieren und zu agieren. Dabei läßt sich nur an bestehendem Unbehagen
kritisch anknüpfen und dieses begrifflich fassen – dort, wo Menschen ihr
konkretes Leiden an den Verhältnissen äußern.
Im Folgenden soll dies im Beispiel der „sozialen Frage“
verdeutlicht werden: tagespolitische Ereignisse wie Agenda 2010, Hartz, und der
fortschreitende Abbau von Sozialversorgung zeigen, dass sich das in die Krise
geratene System die überflüssigen Arbeitskräfte nicht mehr ohne Weiteres versogen
kann. Auf der Basis einer ökonomischen Analyse der Verhältnisse kann
aufgezeigt werden, dass es in kapitalistischer Produktion nicht um menschliche
Bedürfnisse und darum, was produziert wird, geht, sondern dass produziert wird,
und darum, immer mehr zu produzieren. Es wird nicht qualitativ, sondern
quantitativ produziert, es geht nicht um den Inhalt, sondern um die Form, das
abstrakte Prinzip des selbstverwertenden Werts. Die Befriedigung der menschlichen
Bedürfnisse ist, wenn es prinzipiell nur darum geht, zu produzieren und das zu
produziern was sich zu Geld machen lässt, abfälliges Nebenprodukt.
Der Sozialstaat steckt in der Krise - es wird keinen sozial verträglichen
Kapitalismus mehr geben. Für viele, v.a. in der Peripherie hates diesen ohnehin
nie gegeben. Nun kommt aber selbst im kapitaliostischen Zentrum die
Einsicht, daß soziale Sicherungssysteme immer weniger haltbar sind. "Zum ersten Mal
ist die Masse der Menschen ... materiell nicht mehr notwendig und
wirtschaftlich erst recht nicht mehr." (Terror der Ökonpomie, Viviane Forrster)
Doch es regt sich nur wenig Widerstand dagegen - v.a. in Deutschland ist
kollektives Schweigen angesagt, während sich in Frankreich, England und Italien
LehrerInnen mit Bullen prügeln und Schulen besetzen,in Frankreich
hunderttausende Menschen auf der Straße gehen gegen die Rentenreform... In Deutschland
hingegen fallen die Gewerkschaften nach und nach um und beenden lieber
vorzeitig ihre Streiks, als die "Sozialpartnerschaft" von "unten" aufzukündigen.

Dabei herrschen neue Bedingungen für soziale Proteste: Anders als noch bis
in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein sind die Grenzen des alten
Bezugssystems objektiv erreicht - es gibt keinen Rückenwind mehr für dessen
Kategorien. Im Gegensatz dazu wird das Festhalten an den zusammenbrechenden
Kategorien (Arbeit, Ware, Wert ...) festgehalten - ein Fundamentalismus der
Kategorien und Werte greift um sich, Krisenleugnung und Krisenverdrängung sind
allgemein, die Politikillussion durchherrscht die ganze Gesellschaft. Soziale
Bewegungen können Forderungen, wie mehr Sozi-Kohle, an den Staat stellen,
solange sie sich dessen bewusst sind, dass er diese in seiner Krise nicht
erfüllen kann. Solange sie sich dessen nicht bewusst sind und die Organisation der
Gesellschaft in die Hand des Staates legen und nicht in die eigene, müssen sie
kritisiert – aber als Menschen mit ihren Problemen ernst genommen
werden. Hier muß radikale Kritik ansetzen: Die Politikillussion zerstören und die
Inhalte radikalisieren - die Form sprengen, in der die Proteste gefangen
bleiben (notwendig falsches Bewußtsein). Die soziale Frage erhält eine Brisanz
von neuer Qualität für das System!

Soziale Kämpfe bekommen wieder einen Sinn:
In dem Maße, in dem die fundamentale Krise der warenproduzuierenden
Gesellschaft voranschreitet, müssen grundlegende soziale Forderungen letztendlich
systemtransformierenden Charakter besitzen, da sie nicht mehr im Bestehenden
einzulösen sind. Das Ziel kommunistischer Kritik muß es sein, Rahmenbedingungen
für Kritik zu schaffen, in denen sich die Menschen, die sich ihres konkreten
Leidens an den Verhältnissen bewußt geworden sind, sich weiterhin bewußt
werden, daß nur eine emanzipatorische Aufhebung der herrschenden Verhältnisse das
Ende ihrer einzelnen, konkreten Leiden bedeuten kann.

Ares / Lilian

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